Polarkreise in der Polykrise
Arktis und Antarktis zwischen Konflikt und Kooperation
von Jürgen Scheffran und Verena Mühlberger
Die Polarregionen der Erde befinden sich in einem tiefgreifenden Wandel. Ökosysteme und Ressourcen von Arktis und Antarktis sind essentiell für die globale Stabilität und von der globalen Erwärmung besonders betroffen. Damit verbunden sind Konfliktrisiken, aber auch Chancen der Kooperation zwischen Staaten und der Zivilgesellschaft. Während die Antarktis als globales Gemeingut geschützt ist, wurde die Arktis in das Wettrüsten des Kalten Krieges einbezogen. Die darauf folgende Phase der Stabilität und Kooperation droht durch aktuelle Spannungen verschüttet zu werden. Trotz der heutigen Polykrise muss die Zusammenarbeit in den Polargebieten fortgesetzt und einer geopolitischen Polarisierung entgegengewirkt werden.
Die Arktis und die Antarktis sind planetare Antipoden, die jeweils innerhalb des nördlichen und südlichen Polarkreises liegen, also den Breitengraden beider Hemisphären, an denen die Sonne an den beiden Tagen der Sonnenwende gerade nicht mehr auf- oder untergeht (etwa bei 66° nördlicher/südlicher Breite). Während die kontinentale Landmasse im Südpolarkreis weitgehend naturbelassen ist und temporär nur wenige Menschen auf Forschungsstationen beherbergt, liegt der Nordpol im arktischen Ozean und ist von drei Kontinenten umgeben (Europa, Asien, Nordamerika), die im arktischen Polarkreis von etwa 4 Mio. Menschen bewohnt werden. Ist der antarktische Kontinent ganzjährig eisbedeckt, wird der arktische Ozean vom saisonalen Zyklus des Meereises bestimmt. In beiden Polregionen ist die lokale Flora und Fauna an die extremen klimatischen Bedingungen angepasst und anfällig für Veränderungen. Aufgrund der einzigartigen und zunehmend gefährdeten Natur der Polarregionen hat der Tourismus in den letzten zwei Jahrzehnten merkbar zugenommen und ist eine wachsende Einkommensquelle, übt aber Druck auf die fragilen Ökosysteme aus. Schon früh gab es internationale Bemühungen, die Regionen gemeinsam zu erforschen und auf der Grundlage gegenseitiger Interessen und Vereinbarungen zusammenzuarbeiten. Der 1961 in Kraft getretene Antarktisvertrag vereinbart die gemeinsame und friedliche Erforschung und Nutzung der Antarktis, die für marine Ressourcen nachhaltig erfolgen soll. Für die Arktis liegt ein solch umfassendes internationales Vertragswerk nicht vor.
Angesichts der Nähe zu Staaten und Bevölkerungen und damit verbundener Nutzungen und Konflikte liegt im Folgenden der Fokus auf der Arktisregion (zur Antarktis siehe die Beiträge von Lüdecke, S. 25 und Flamm, S. 29 in dieser Ausgabe). Mit dem Ende der letzten Eiszeit zogen sich die Gletscher, die teilweise auch Norddeutschland bedeckten, immer weiter nach Norden zurück, so dass eine Besiedlung durch Menschen möglich wurde, die sich über Jahrhunderte an die extremen Bedingungen der Arktis anpassten und ihr Leben nach dem Zyklus der Jahreszeiten ausrichteten. Während niedrige Temperaturen und kurze Wachstumsperioden eine kommerzielle Landwirtschaft in der Arktis-Region erschweren oder verhindern, gibt es heutzutage starke wirtschaftliche Interessen an den reichlich vorhandenen Bodenschätzen, insbesondere an Erdöl und Erdgas. Es leben über 40 verschiedene indigene Gruppen in der Arktis, deren traditionelle Subsistenzwirtschaft durch Fischerei und Jagd wie auch durch Rentier- und Karibuzucht geprägt ist. Durch eine frühere Schneeschmelze und Verschiebungen der Baumgrenzen in der arktischen Tundra ist ihr Lebensstil bereits gefährdet und gerät durch neue Wirtschaftsformen zunehmend unter Druck (Hansson et al. 2021).
Zone des Friedens in der Krise
Gegen Ende des Kalten Krieges schlug Michail Gorbatschow im Rahmen der »Murmansk-Initiative« vor, die Arktis in eine »Zone des Friedens« zu verwandeln, eine Sichtweise, die bei den Anrainerstaaten auch die Zeit danach bestimmte. So entwickelte sich die Arktis zu einer Zone der Kooperation, mit grenzüberschreitenden kooperativen Allianzen und Partnerschaften zwischen privaten und staatlichen Akteuren. 1996 wurde in Ottawa, Kanada, der Arktische Rat (»Arctic Council«) gegründet, in dem acht Regierungen und sechs indigene Verbände als Permanente Mitglieder für Frieden, Stabilität und konstruktive Zusammenarbeit in der Arktis kooperierten. Gemeinsame Projekte waren Abkommen in den Bereichen Suche und Rettung, Verhütung von Ölverschmutzung und wissenschaftlicher Kooperation, sowie Plattformen für die arktische Küstenwache und den Arktischen Wirtschaftsrat (Klimenko 2019). Ein Forum für die zwischenstaatliche Zusammenarbeit in der Barentsregion ist der Barents Euro Arctic Council (BEAC), in dem es unter anderem um vertrauensbildende Maßnahmen und grenzüberschreitende Hilfeleistungen in Notfällen, bei Unfällen und Naturkatastrophen geht.
Trotz alarmistischer Vorhersagen und Spekulationen über ein »Gerangel um die Arktis« sind große Konflikte in der Region bislang ausgeblieben, was eine Debatte über den »arktischen Exzeptionalismus« auslöste (siehe dazu Humrich, S. 15 in dieser Ausgabe). Geopolitische Spannungen und multiple Krisen sind Störfaktoren für die arktische Zusammenarbeit und eine Herausforderung für den arktischen Exzeptionalismus (Käpylä und Mikkola 2019). Das betrifft z.B. Projekte im BEAC über biologische Vielfalt und Umwelt-Hotspots (Klimenko 2019). Mit einer zunehmenden strategischen und wirtschaftlichen Bedeutung der Arktis nehmen die Konfliktpotentiale zu und verdrängen die positive Dynamik der 1990er Jahre. Dabei spielen neben dem Klimawandel nicht zuletzt der Ukrainekrieg und die Konfrontation zwischen Russland und dem Westen eine Rolle, die zur Aussetzung der Zusammenarbeit mit Russland im Arktischen Rat führten (Broek 2023).
Kipppunkte und Risikokaskaden des Klimawandels
Die Polregionen sind von zentraler Bedeutung für das Weltklima und erwärmen sich mit 3 bis 4 Grad Celsius Zuwachs seit den 1970er Jahren um ein Vielfaches schneller als andere Weltregionen. Die zunehmende Wärmeaufnahme durch die großen Ozean- und Landflächen verändert die physische Umwelt grundlegend (AMAP 2019). Eine Nichtdurchsetzung der Pariser Klimaziele würde die Zukunft der Region erheblich verändern. Viele Gebiete werden anfälliger für Waldbrände und Hitzewellen, der erschwerte Zugang zu sauberem Wasser und Lebensmitteln schafft ein Risiko für die Ausbreitung von Krankheiten, und das Katastrophenmanagement wird herausfordernder, mit Such- und Rettungseinsätzen wie bei den Waldbränden in Nordschweden im Sommer 2018. In beiden Polregionen besteht ein Risiko für sich selbst verstärkende Kipppunkte und Risikokaskaden im globalen Erdsystem, die Ende 2023 im »Global Tipping Points Report« (Lenton et al. 2023) bei der Weltklimakonferenz in Dubai vorgestellt wurden. Steigende Temperaturen führen zu größeren eisfreien Meeresflächen, die dadurch stärker Sonnenwärme aufnehmen als das Eis, und sie führen zum vermehrten Auftauen des Permafrostes, aus dem das Treibhausgas Methan freigesetzt wird. Beides beschleunigt die globale Erwärmung. Während das Meer in der Arktis besser schiffbar wird, werden die Böden und darauf liegende Infrastrukturen (Verkehrswege, Gebäude, Stromleitungen, Pipelines) instabiler. Die veränderte Verteilung von Temperatur und Salzkonzentration schwächt den Wärmetransport des Golfstroms in den Norden, was dort eine Abkühlung bringen könnte. Das Abschmelzen der Eisschilde in Grönland und der Antarktis lässt den globalen Meeresspiegel ansteigen, was den Verlust von Küsten- und Landflächen weltweit bedeutet (Irrgang et al. 2022).
Ressourcenausbeutung und Ungleichheit
Das Abschmelzen arktischer Eisflächen auf dem Land und zur See ist ein tiefer Eingriff in die arktische Umwelt, die einigen Nachteile, anderen Vorteile bringt. Die Ausbeutung von Öl- und Gasvorkommen oder seltenen Erden und anderen Metallen für Digitalisierung und Energiewende belastet nicht nur das Weltklima, sondern auch die lokale Umwelt, mit Auswirkungen auf Ökosysteme und ihre Artenvielfalt in der Region. Dies untergräbt traditionelle Lebensgrundlagen der lokalen Bevölkerung (z.B. Rodon 2018).
Andere profitieren dagegen von den Veränderungen in der Arktis, durch besser zugängliche Ressourcen für die Energieproduktion (Boersma und Foley 2014), schnellere und direktere Schifffahrts- und Handelsrouten durch das eisfreie Meer, höhere Bodenpreise oder landwirtschaftliche Produktivität. Die Rohstoff-Industrie schafft neue Einkommensquellen und Arbeitsplätze (Keskitalo 2019), macht jedoch Staaten zunehmend von fossilen Brennstoffen abhängig, obwohl sie sich im Pariser Abkommen von 2015 zu einer Abkehr verpflichtet haben, um den Klimawandel abzuschwächen. Gelingt dies nicht, verschärfen sich sozio-ökonomische Ungleichheiten in der Arktis. Diese Konfliktdimensionen sollten nicht unterschätzt werden, da sie vor allem die binnen-nationalen Gefüge massiv betreffen.
Brennglas globaler und lokaler Konflikte
Mit der wachsenden strategischen Bedeutung der Arktis nehmen gesellschaftliche Spannungen und Konflikte zu, die die globale und lokale Ebene in komplexer Weise verbinden. Am Nordpol, wo alle Längengrade sich treffen, kommen geopolitische Ansprüche und Widersprüche geographisch weit auseinanderliegender Weltmächte (USA, Kanada, EU, Russland, China und Japan), deren Territorien zu großen Teilen außerhalb des Arktischen Zirkels liegen, wie in einem Brennglas zusammen. Spannungen zwischen Russland und dem Westen gehen einher mit Destabilisierungstendenzen in Europa und Nordamerika, dem Wandel der transatlantischen Beziehungen und Rivalitäten des Westens mit Ostasien. Damit verbunden sind konkurrierende Interessen von Staaten, Unternehmen und Bevölkerungen um Ressourcen, Transportmittel, Pipelines und Grenzziehungen.
Die Arktis-Region mit Informationen über Permafrost-Gebiete, Bergbauflächen (Minen) und sozial-ökologische Konflikte (Quelle: Mühlberger 2023).
Ein Streitgegenstand ist die Festlegung von Grenzen. Fragen der nationalen Souveränität und des internationalen Rechts betreffen die Ausdehnung des Festlandsockels und die Abgrenzung der Seegrenzen, die den Zugriff auf arktische Ressourcen festlegen. Einige Streitigkeiten konnten erfolgreich beigelegt werden, etwa um die Seegrenzen zwischen Russland und Norwegen in der Barentssee (Harding 2010). Dabei bestehen auch unterschiedliche Vorstellungen zwischen staatlichen und oft nomadischen gesellschaftlichen Gebietsansprüchen. In einigen Fällen sind die Rechte der indigenen Bevölkerung betroffen, etwa um Weideland und traditionelle Jagdgebiete, die durch staatliche Machtansprüche an den Rand gedrängt werden. Die Landfragmentierung beeinträchtigt traditionelle Nahrungs- und Wasserquellen und erschwert in Notfällen das Erreichen von Gesundheitszentren und Schutzräumen (Dudarev et al. 2013). Während Organisationen der indigenen Völker, wie der Sami-Rat, die Auswirkungen von Grenzen einschränken wollen, bewirken staatliche Grenzkontrollen vielerorts das Gegenteil (UNGA 2016). Mit wachsenden zwischenstaatlichen Spannungen reduzieren sich die schon erkämpften Mitsprachemöglichkeiten der indigenen Bevölkerung (vgl. Urueña S. 21 in dieser Ausgabe).
Zunehmend entwickelt sich in den einzelnen Staaten ein oft komplexes Problemgeflecht von zwischenstaatlichen Konflikten über Ressourcenextraktion, Klima- und Umweltveränderungen sowie den sozialen und gesundheitlichen Auswirkungen auf die Bevölkerung, verstärkt durch Armut und Unterentwicklung, soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Dabei werden wirtschaftliche Interessen häufig über die indigener Minderheiten gestellt (Temper und Shmelev 2015).
Militarisierung und Aufrüstung
Der Antarktis-Vertrag sieht die ausschließlich friedliche Nutzung der Antarktis vor und verbietet dort jegliche militärische Aktivitäten. Demgegenüber war die Arktis im Kalten Krieg eine der am stärksten militarisierten Regionen der Welt, an der Schnittstelle der Supermächte, als Überflugzone von Atomwaffen und damit verbundener Infrastrukturen, als Testgelände und für andere militärische Zwecke. Mit der Entspannung und dem Ende des Ost-West-Konflikts wurden die Rüstungsarsenale in der Region verringert, im Rahmen der kooperativen Strukturen sank der Bedarf an Gesprächen über militärische Sicherheitsfragen (Groenning 2016). In den letzten Jahren mehrten sich die Anzeichen für neue Spannungen in der Region, die mit einer zunehmenden Militarisierung verbunden sind. Neben der Kontrolle der Arktis geht es auch um Machtprojektionen in anderen Regionen, vor allem im Nordatlantik (vgl. Humrich, S. 16 in dieser Ausgabe).
Dies gilt insbesondere für Russland, das seit 2011 eine Reihe von Militärstützpunkten wiedereröffnet hat, Flugplätze und Radarstationen instand setzt, seine seegestützten Nuklearstreitkräfte und die der großen Überwasserschiffe modernisiert. Im Dezember 2014 richtete Russland das Gemeinsame Strategische Kommando Nord (JSC North) ein, um die verschiedenen militärischen Armeen und Teilstreitkräfte unter einem Kommando zusammenzufassen, ein Zeichen für das Wiederaufleben des Konzepts der »Strategischen Bastion« im Norden (Boulègue 2018). Nach eigenen Aussagen reagiert Russland auf das sich verändernde Umfeld in der Arktis und neue Sicherheitsherausforderungen durch zunehmenden Schiffsverkehr, räumlich und zeitlich längere Küstenlinien durch Meereisschmelze, Konsolidierung der Nordflotte und strategische Parität mit den USA und NATO, die ihre militärischen Anstrengungen nun ebenfalls mehr auf die Arktis richten (Klimenko 2019; Anthony et al. 2021).
Durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine im Februar 2022 und den NATO-Beitritt von Finnland und Schweden droht die Arktis zunehmend in einen neuen Kalten Krieg hineingezogen zu werden. Im Westen wurden Befürchtungen geäußert, dass Russland die freie Durchfahrt im Arktismeer beschränken könnte. An der norwegischen Winterkampfübung »Cold Response« im Frühjahr 2022 nahmen rund 30.000 Soldatinnen und Soldaten aus 27 Nationen teil. Ein Jahr später führte Russlands Nordmeerflotte nach eigenen Angaben ein Manöver in den Gewässern der Arktis mit 1.800 Soldaten und mehr als einem Dutzend Schiffen durch. Ohne ernsthafte Bemühungen für Entspannung und Abrüstung droht in der Arktis ein forciertes Wettrüsten, das Atomwaffen, Flugkörper, Abwehrsysteme, U-Boote und Schiffe ebenso umfasst wie Weltraum-, Cyber- und hybride Kriegsführung.
Geopolitische Rivalität zwischen USA und China
Ein aktiver arktischer Akteur ist zunehmend auch China, das seine Visionen und Absichten 2018 in einem Weißbuch zur Arktis dargelegt hat (SCIO 2018). Neben der Wahrung der Souveränitäts- und Verwaltungsrechte der arktischen Staaten will China Mitsprache in Fragen der arktischen Ressourcenentwicklung und Schifffahrt, beansprucht Rechte auf Navigation, Überflüge und Fischerei, für die Verlegung von Unterseekabeln und Pipelines. China investiert in den Bergbau in Grönland, russische Flüssigerdgas-Projekte, die Zunahme der Schifffahrt entlang der »polaren Seidenstraße« sowie in wissenschaftliche Forschung und Diplomatie. Es gibt Befürchtungen einiger Anrainerstaaten im Westen über den wachsenden Einfluss Chinas auf die Arktisregion und damit verbundene sicherheitspolitische Implikationen (Havnes und Seland 2019).
Das hängt auch mit den strategischen Rivalitäten zwischen Russland, China und den USA zusammen, die sich in der Arktis entladen könnten. Der frühere US-Außenminister Mike Pompeo warnte anlässlich des Ministertreffens des Arktischen Rates in Rovaniemi am 6. Mai 2019 vor aggressiven Ambitionen Russlands und Chinas in der Arktis (Pompeo 2019). Entsprechend wurde der Ausbau der US-Marine- und Eisbrecherkapazitäten der Arktis und im Nordatlantik anvisiert, verbunden mit größeren Anstrengungen von Luftwaffe und Heer (DOD 2019). Auch wenn die Biden-Administration die Arktis zunächst als Zone niedriger Spannung ansah, bereiten sich die US-Küstenwache und andere Einrichtungen auf neue strategische Prioritäten vor (Anthony et al. 2021).
Umweltfolgen der Rüstung und ökologische Sicherheit
Rüstung und Krieg hängen eng mit Umweltfolgen und natürlichen Ressourcen in der Arktis zusammen, wodurch hier erweiterte Konzepte menschlicher und ökologischer Sicherheit an Bedeutung gewinnen.
Der Ukrainekrieg und damit verbundene Sanktionen haben zum einen die fortgesetzte Abhängigkeit der Welt von fossilen Energieträgern deutlich gemacht und den Blick daher auf die riesigen (vermuteten) arktischen Vorkommen gelenkt. Somit drohen das fossile Zeitalter und damit verbundene Konflikte perpetuiert zu werden.
Militärische Aktivitäten in der Arktis bringen zum anderen erhebliche Umweltbelastungen und -risiken mit sich, die die Umweltsicherheit gefährden (Hoogensen et al. 2013). So verschmutzt das russische Militär seit vielen Jahrzehnten seine arktischen Inseln, was 2010 zu einer größeren Säuberung von Abfällen führte, die nur teilweise erfolgreich war und kürzlich fortgesetzt wurde (Arctic Russia 2023). Es gab großflächige Zwischenfälle wie der Nuklearunfall auf dem Njonoksa-Testgelände in der Oblast Arkangelsk im Sommer 2019 (Klimenko 2019). Die wachsende Zahl und Intensität von militärischen Aktivitäten hat auch negative Auswirkungen auf die indigenen Gebiete. Militärübungen und Waffentests werden oft in scheinbar abgelegenen Randzonen oder in der vermeintlich »unberührten Wildnis« durchgeführt. Dies wird jedoch von indigenen Völker kritisiert, da militärische Aktivitäten oftmals auf historischem und kulturell relevantem Land stattfinden. Dies kann ihre Lebensgrundlagen beeinträchtigen, durch Landnahme, Verschmutzung und Abfälle, Transport militärischen Geräts, Lärm sowie der Störung von Vieh und Wildtieren (Vladimirova 2024).
Wege zur nachhaltigen Friedenssicherung
Um grenzüberschreitende Herausforderungen der arktischen Sicherheit einzudämmen, ist die Bereitschaft aller Beteiligten zur Zusammenarbeit erforderlich. Ein verstärktes Engagement von Politik und Forschung kann dazu beitragen, das Wissen und die Implementierung nachhaltiger und friedlicher Lösungsansätze auszubauen (Klimenko 2019).
- Diskussion über Rüstungskontrolle und militärische Sicherheit: Um die Spannungen in der Arktis zu verringern und zu verhindern, dass kooperative Strukturen und Institutionen in eine geopolitische Sackgasse geraten, ist Rüstungskontrolle unabdingbar. Cepinskyte und Paul (2020) schlagen vor, Diskussionsplattformen über militärische Sicherheitsfragen in der Arktis einzurichten. 2012 initiierte Kanada ein Treffen der Verteidigungsstabschefs der arktischen Staaten, das wegen des Konflikts in der Ukraine und der Beendigung der militärischen Zusammenarbeit mit Russland nach 2014 jedoch ausgesetzt wurde. Die Unterbrechung der Kommunikation ist kein Weg zum Abbau der Spannungen in der Region, und einseitige Maßnahmen wie der Arctic Security Forces Roundtable, bei dem Russland nicht beteiligt ist, machen im Sinne einer Verständigung weniger Sinn.
- Zwischenmenschliche Kontakte und Bildungsmaßnahmen dienen gerade in Zeiten zunehmender Spannungen dem grenzüberschreitenden regionalen Engagement. Mehr Jugendbeteiligung und Bildungsaustausch schaffen Vertrauen und Verständigung zwischen Gesellschaften, Gemeinschaften und Staaten, und verbessern den Wissensaustausch zwischen verschiedenen Gesellschaften und Kulturen. Beispiele sind Initiativen wie der Barents Youth Council und die Arctic Frontiers Emerging Leaders.
- Ökologische Zusammenarbeit für gemeinsame Sicherheit: Der Austausch von umweltbezogenen Informationen ist ein Beitrag zum Schutz der polaren Gemeingüter. Um auf Notsituationen in Naturkatastrophen reagieren zu können, müssen begrenzte Ressourcen über große Entfernungen und Staatsgrenzen organisiert werden. Suche und Rettung gelten als erfolgreiche Beispiele für effektive Zusammenarbeit und vertrauensbildende Maßnahmen und können potenziell auf andere Bereiche und Akteure ausgeweitet werden, wie in der Strafverfolgung und der maritimen Polizeiarbeit.
- Forschung zum nachhaltigen Frieden: Während wissenschaftliche Sanktionen der Klimaforschung in der Arktis schaden (Albrecht und Scheffran 2022), kann multidisziplinäre Forschung dazu beitragen, die Folgen menschlicher Aktivitäten in der Arktis für die Lebensmittel-, Wasser- und Gesundheitssicherheit und die Rolle von Technologien zu verstehen (Berner et al. 2016). Um die möglichen Auswirkungen geopolitischer Spannungen und militärischer Aktivitäten auf die arktische Zusammenarbeit zu untersuchen, müssen diese hinsichtlich ihrer Folgen (auch für die Umwelt) untersucht werden. Hierzu gehört auch die Einbeziehung verschiedener Stakeholder, z.B. der Industrie, humanitärer Organisationen und Versicherungen, die das Sicherheits- und Friedensverständnis in der Region erweitern können. Szenariobasierte Forschung und der bessere Zugang zu Daten kann dazu beitragen, Strategien zur Risikominderung und nachhaltigen Friedenssicherung zu entwickeln.
- Indigenes Wissen und Partizipation: Trotz einiger Fortschritte beim Dialog mit indigenen Gemeinschaften werden ihre Stimmen nur selten von Staaten berücksichtigt, besonders wenn es um sensible Fragen ihrer Sicherheit und Souveränität geht. Um sie stärker einzubeziehen, sind bessere Möglichkeiten der Partizipation und Unterstützung für Forschungsprojekte zu schaffen, in denen die indigenen Völker ihr einzigartiges Wissen über die Arktis für die Problemlösung einbringen können.
Doppelte Transformation zwischen Eiszeit und Heißzeit
Beide Polregionen liegen an der Schnittstelle globaler Probleme und Konflikte und bieten Chancen für die regionale und internationale Kooperation. Sie sind für die Bewahrung der planetaren Grenzen und die Stabilisierung des Klimasystems von zentraler Bedeutung, die durch die nicht-nachhaltige Ausbeutung ihrer Ressourcen gefährdet werden und neue Abhängigkeiten schaffen. Um eine klimatische Heißzeit und eine politische Eiszeit zu vermeiden, braucht es eine doppelte Transformation für einen nachhaltigen und konfliktvermeidenden Umgang mit den Polarkreisen, der im Sinne zukünftiger Generationen auf Vermeidungs- und Anpassungsstrategien unter Beteiligung der lokalen und indigenen Bevölkerungen und ihres Wissens setzt. So können die Orte, um die sich die Erde dreht, zu Zonen des Friedens werden.
Literatur
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Dr. Jürgen Scheffran ist Professor (em.) für Integrative Geographie, Leiter der Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit (CLISEC) an der Universität Hamburg und Mitglied der W&F-Redaktion.
Verena Mühlberger war Masterstudentin am Centrum für Erdsystemforschung und Nachhaltigkeit (CEN) der Universität Hamburg und hat in ihrer Abschlussarbeit zu den Auswirkungen des Klimawandels auf die Arktis geforscht.