W&F 2016/1

Politik, Protest, Forschung

Wie entstand die Friedensforschung in der BRD?

von Lisa Bogerts, Stefan Böschen und Christoph Weller

Bevor uns Erinnerungen und Erfahrungen der GründerInnen-Generation der Friedensforschung in der Bundesrepublik Deutschland endgültig verloren gehen, erscheint eine Auseinandersetzung mit den Anfängen der deutschen Friedensforschung angebracht. Welche Einsichten sich aus einer Rekonstruktion der Entstehung und Entwicklung der Friedens- und Konfliktforschung in der BRD in ihrer ersten Phase gewinnen lassen, beschreibt dieser Artikel anhand erster Ergebnisse eines entsprechenden Forschungsprojekts.

Friedensforschung – nicht selten wird man komisch angeschaut, wenn man erzählt, man arbeite auf diesem Gebiet. Kann man zu Frieden »forschen«? Oder vielleicht sogar dafür? Frieden gilt als anerkanntes Ziel der Politik und ist deshalb häufig Legitimationsressource staatlichen Handelns. Die Debatten darüber sind immer politisch und zum Teil höchst normativ, weshalb sich schnell die Frage stellt, wie sich das wissenschaftliche Neutralitätsgebot und andere Standards auf so einen Gegenstand beziehen können. Und wie kann ein einzelnes Forschungsgebiet zu etwas arbeiten, was eigentlich eine gesamtgesellschaftliche oder letztlich globale Aufgabe ist?

Offensichtlich ist Frieden kein Forschungsgegenstand wie jeder andere. Es gibt ja Klischees, wie die von FriedensforscherInnen als romantische Hippies oder »Gutmenschen« (letzteres wurde jüngst zum »Unwort« des Jahres 2015 gekürt), die sich einbilden, die Welt retten zu können. Andere Vorurteile gehen in die umgekehrte Richtung und vermuten eine bestimmte Art von Kriegsforschung hinter dem positiv klingenden Begriff. Auf jeden Fall stellt sich die Frage nach den Besonderheiten der Friedensforschung und ihrer VertreterInnen. Sind FriedensforscherInnen also eher politisch engagierte Menschen mit einem akademischen Hintergrund, VertreterInnen einer pazifistischen Position in gesellschaftlichen Debatten oder BeraterInnen der Politik in Friedensfragen, wo es dann um Krisenprävention und Rüstungskontrolle, aber auch um Militäreinsätze und dergleichen geht?

Sucht man nach den Anfängen der deutschen Friedensforschung und betrachtet hierfür ihre Entstehungsphase in der Bundesrepublik Deutschland seit Ende der 1950er Jahre, wird ein Spannungsfeld ganz unterschiedlicher politischer, gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Interessen sichtbar. Hinzu kommen die zeithistorischen Umstände, die nicht nur den Kontext bildeten, sondern eine wesentliche Rolle spielten: Atomzeitalter, Ost-West-Konflikt, Studentenbewegung und eine politische Aufbruchsstimmung mit der ersten sozial-liberalen Bundesregierung Ende der 1960er Jahre. Viele verschiedene Einflüsse, Akteure und Dynamiken waren hier am Werk; diese gilt es aufzuschlüsseln.

Es ist also sowohl wissenschaftssoziologisch und wissenschaftshistorisch, aber auch für das Selbstverständnis der Friedensforschung aufschlussreich, zu rekonstruieren, unter welchen Bedingungen sich die Friedensforschung in der Bundesrepublik Deutschland etablieren konnte und welche sozialen, politischen, institutionellen und wissenschaftlich-disziplinären Einflussfaktoren dabei wirksam waren.1 In diesem Beitrag gehen wir aufgrund der Fokussierung unserer bisherigen Forschung vor allem auf die Phase vom Ende der 1950er bis Anfang der 1970er Jahre ein.2

Viele Quellen für die Friedensforschung

Bereits in den 1950er Jahren hatten die »Ohne mich«-Bewegung gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik und die »Kampf dem Atomtod«-Bewegung gegen kriegerische Aktivitäten und atomare Bewaffnung protestiert; in den 1960er Jahren entwickelte sich dann die Studentenbewegung, deren Kritik sich nicht nur gegen den »Muff von 1000 Jahren«, sondern auch gegen verkrustete und autoritäre Strukturen der westdeutschen Gesellschaft und deren Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit richtete. Die Proteste betrafen dann bald auch den Vietnamkrieg und das atomare Wettrüsten, also auch friedenspolitische Themen.

Tatsächlich gab es eine Reihe vonWissenschaftlerInnen, die sich schon früh der Friedensforschung zurechneten und dabei einen engen Zusammenhang zu friedenspolitischen Aktivitäten herstellten. Theodor Ebert zum Beispiel promovierte 1965 zu gewaltfreien Methoden des Aufstands als Alternative zum Bürgerkrieg und orientierte sich dabei an den Konzepten Mahatma Gandhis. Ebert gehörte zu den SozialwissenschaftlerInnen, die es als ihre Aufgabe ansahen, die Bewegung mit Hintergrundwissen zu »unterfüttern«, d.h. ihren MitstreiterInnen Wissen zur Verfügung zu stellen, das für ihr politisches Engagement bedeutsam sein konnte.3 Sehr einflussreich wurde sein Buch zum gewaltfreien Aufstand,4 das v.a. für Kriegsdienstverweigerer zur Basislektüre in der Vorbereitung auf die damals üblichen Gewissensprüfungen wurde. WissenschaftlerInnen waren aber auch in einer ganz anderen Domäne aktiv, die noch viel näher an den Prozessen politischen Entscheidens angelagert war: In bilateralen und multilateralen Gesprächsforen, wie etwa der deutsch-britischen Königswinter-Konferenz oder dem Deutsch-Polnischen Forum, in denen sich hohe DiplomatInnen, PolitikerInnen, WissenschaftlerInnen und VertreterInnen aus Wirtschaft und Journalismus verschiedener Länder über Probleme im Rahmen des Ost-West-Konflikts austauschten, wurden politische Anliegen und wissenschaftliches Wissen verbunden.

Neben diesen politisch motivierten Domänen der Friedensbewegung und der Friedensdiplomatie kamen aus der Wissenschaft selbst unterschiedliche Entwicklungsimpulse: Zunächst entfaltete sich eine ethische Diskursdomäne. Das Atomzeitalter, vor allem die Angst vor atomarer Bedrohung im Kalten Krieg, war ein Motiv, das viele einflussreiche Personen der Friedensforschung in der Anfangszeit prägte. Deshalb überrascht es wenig, dass viele dieser Persönlichkeiten NaturwissenschaftlerInnen waren. Einer der Pioniere war Carl-Friedrich von Weizsäcker. Er war Kernphysiker und gehörte während des Zweiten Weltkriegs dem deutschen »Uranprojekt« zur Nutzung der Atomenergie an. Dass PhysikerInnen Kompetenz über Frieden zugeordnet wurde, hing damit zusammen, dass sie mit ihrem Sachverstand die damals viel debattierte Gefahr durch Kernwaffen erklären konnten. Sie konnten mit großer Autorität sprechen, da sie z.T. selbst an der Entwicklung von Grundlagenwissen beteiligt waren und nun durch ihre Distanzierung das moralische Problem sichtbar machten. Diese moralisch-ethischen Fragen waren auch für die Kirchen von großer Bedeutung, weshalb für die entstehende Friedensforschung auch Stimmen relevant waren, welche durch Bezug auf die Religion grundlegende ethische Fragen mithilfe wissenschaftlicher Expertise behandeln konnten.

Darüberhinaus etablierten sich in der Wissenschaft verschiedene eigenständige Forschungslinien, die sich auch mit Friedensfragen beschäftigten, etwa die Zukunftsforschung. Diese »Futurologie« hatte schon damals wenig mit Science-Fiction oder »Trendforschung« zu tun, in der medienwirksam spektakuläre zukünftige Entwicklungen »vorausgesagt« werden. Vielmehr sollten mögliche technologische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen untersucht und auf dieser Grundlage in eine bestimmte,verantwortbare Richtung gesteuert werden.5

Auch in Kerngebieten der Politikwissenschaft, insbesondere in deren Teildisziplin Internationale Beziehungen (IB), etablierte sich die Friedensforschung als Diskursdomäne. Als bedeutsam für die Entwicklung in Deutschland kann angesehen werden, dass viele Gründungspersönlichkeiten der deutschen Friedensforschung, wie z.B. Dieter Senghaas, Ekkehart Krippendorff oder Karl Kaiser, längere Forschungsaufenthalte an US-amerikanischen Universitäten verbrachten. Damit wurden inhaltliche Verbindungen zum US-amerikanischen IB-Diskurs geschaffen, und ein bemerkenswerter Wissenstransfer kam zustande, der große Wirkung in der deutschen Politikwissenschaft entfaltete.6

Die Breite der Forschung, die sich Ende der 1960er Jahre mit Friedens-Fragen beschäftigte, dokumentierten Karl Kaiser und Reinhard Meyers mit ihrer Studie zur Lage der Friedensforschung in der Bundesrepublik Deutschland.7 Darin beschreiben sie ein sowohl politisch wie disziplinär außerordentlich breites Feld von WissenschaftlerInnen, Instituten und Initiativen, die alle für sich beanspruchten, »Friedensforschung« zu betreiben, und damit auch die Erwartung hegen konnten, im Falle einer besonderen Unterstützung der Friedensforschung ggf. an deren finanzieller Förderung partizipieren zu können. Die Breite des Feldes zeigte sich insbesondere an der Spannung zwischen den sogenannten »strategic studies«, die sicherheits- bzw. verteidigungspolitisch ausgerichtet waren, und einer Friedensforschung, welche die Abschreckungspolitik als „organisierte Friedlosigkeit“ kritisierte.8 Verbunden mit Johan Galtungs Beiträgen zu »struktureller Gewalt« und einem »positiven Friedensbegriff« entwickelte sich daraus die »Kritische Friedensforschung«,9 die von Anfang an der Kritik vornehmlich konservativer ForscherInnen ausgesetzt war, welche von einem militärischen Gleichgewicht als Kriegsverhinderungsstrategie überzeugt waren.10

Entwicklung durch Vernetzung und Institutionalisierung

Auffällig für die Entwicklung der Friedensforschung in der BRD ist, dass einerseits von Anfang an eine Fülle von Foren die unterschiedlichen Perspektiven zu verbinden versuchten und es andererseits auch mehrere Persönlichkeiten verstanden, die unterschiedlichen »Lager« an einen Tisch zu bringen. Es war gerade die geteilte Erfahrung des »Atomzeitalters«, welche viele gesellschaftliche Initiativen, die zu Friedensfragen arbeiteten, in einem erstaunlich engen Zeitfenster gleichzeitig mobilisierte.

Bereits 1957/58 wurde in Heidelberg die durch die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) finanzierte Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) eingerichtet, als „die vehementen Auseinandersetzungen um die Einrichtung der Militärseelsorge und um eine mögliche atomare Bewaffnung der Bundeswehr die Kirche zu spalten [drohten]“.11 Leiter der FEST wurde der Religionsphilosoph Georg Picht, der neben seinem zweibändigen Werk »Hier und Jetzt – Philosophieren nach Auschwitz und Hiroshima«12 weitere viel beachtete Beiträge zur Friedensforschung leistete. 1959 gründete sich der Sozialwissenschaftliche Studienkreis für Internationale Probleme (SSIP) in Bonn und richtete Arbeitsgruppen zur Konfliktforschung sowie zur Zukunfts- und Friedensforschung ein.13 Ebenfalls 1959 wurde die Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) gegründet. Die Gründungsmitglieder – größtenteils Physiker – waren zwei Jahre zuvor als »Göttinger Achtzehn« bekannt geworden, als sie sich in ihrer »Göttinger Erklärung« gegen die atomare Bewaffnung der BRD aussprachen. Eine der Aufgaben der VDW, „das Bewusstsein der in der Wissenschaft Tätigen für ihre Verantwortung an den Auswirkungen ihrer Arbeiten auf die Gesellschaft wachzuhalten und zu vertiefen“,14 sollte für die Friedensforschung der Anfangsjahre prägend sein.

Gleichzeitig gab es erste Pläne für die Errichtung eines deutschen Friedensforschungsinstituts. Der Physiker Lothar Schulze etwa arbeitete daran und rief 1964 die Gesellschaft zur Förderung von Zukunfts- und Friedensforschung (GFZFF) ins Leben. Aus dem Nachlass der Physikerin und Pazifistin Freda Wuesthoff wurde 1958 die Forschungsgesellschaft für Friedenswissenschaft in Genf gegründet, deren deutscher Zweig in München von Christel Küpper als Studiengesellschaft für Friedensforschung geführt wurde. Um die »Theorie und Didaktik der Erziehung zum Frieden« umzusetzen, hatte sie schon 1958 einen »Arbeitsplan zur Friedensforschung« und 1962 einen Plan für einen deutschen Verein für Friedensforschung erstellt.15

Parallel zu dieser ersten Institutionalisierung erfolgte auch eine breite Vernetzung. Mitte der 1960er Jahre wurden erste Tagungen explizit zu Fragen der Friedensforschung organisiert, so u.a. von Klaus Gottstein 1966 das VDW-Kolloquium »Fragen des Übergangs in die Weltordnung des Atomzeitalters« und 1967 die VDW-Fachtagung »Soziale Verteidigung«. Auch politische Stiftungen veranstalteten Tagungen, beispielsweise die Friedrich-Naumann-Stiftung, die1968 eine Arbeitstagung zum Thema »Der geplante Frieden« ausrichtete.16 Hierbei spielte der Rechtswissenschaftler und Psychologe Peter Menke-Glückert eine wichtige Rolle, und er kann wohl als einer der wichtigsten Netzwerker der frühen Friedensforschung bezeichnet werden. Er trug wesentlich dazu bei, die einzelnen Initiativen zusammenzuführen, und verfolgte hierbei auch die Idee zur Gründung eines Vereins, der die wissenschaftlichen Initiativen auf dem Gebiet der Friedensforschung bündeln sollte.17

Für die Gründung der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK) im Juni 1968 gelang es Menke-Glückert schließlich, WissenschaftlerInnen ganz unterschiedlicher disziplinärer und politischer Couleur zusammenzubringen.18 Neben ihm selbst gehörten zu den AFK-Gründungsmitgliedern u.a. Lothar Schulze (GFZFF), Christel Küpper (Studiengesellschaft für Friedensforschung), Klaus Gottstein (VDW), Helga Haftendorn (Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik), Gerhard Wettig (Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien), Paulus Engelhardt (Pax Christi) sowie Theodor Ebert (Berlin), Dieter Senghaas (Frankfurt a.M.), Ernst-Otto Czempiel (Marburg) und Gerda Zellentin (Köln). Schnell entwickelte die AFK vielfältige Aktivitäten, geriet darüber aber auch bald in den „ersten Richtungsstreit“19 zwischen traditioneller und kritischer Friedensforschung.

Die Auseinandersetzungen zwischen den AnhängerInnen einer politisch eher links orientierten Friedensforschung und den »affirmativen«, eher »konservativen« ForscherInnen prägten viele Debatten zu Beginn der 1970er Jahre. Dabei spielte der damalige gesellschaftspolitische Kontext eine wesentliche Rolle: Die sozial-liberale Koalition, welche ab Oktober 1969 herrschte, stützte sich auf eine in Gesellschaft und Politik vorhandene Aufbruchsatmosphäre und bestärkte diese. Die »neue Ostpolitik« von Willy Brandt und Egon Bahr brachte zudem Bewegung in die ideologischen Fronten, indem sie die bis dahin gängige Konfrontationspolitik der Westmächte infrage stellte.20 Schon im März 1969 war Gustav Heinemann zum Bundespräsidenten gewählt worden und betonte in seiner Amtsantrittsrede den „Ernstfall Frieden“ und die Bedeutung der Friedensforschung, die seiner Meinung nach gefördert werden müsse. Bundeskanzler Brandt kündigte in seiner Regierungserklärung an, er werde die Initiative Heinemanns aufgreifen und die Friedensforschung unterstützen – „ohne die Unabhängigkeit dieser Arbeit zu beeinträchtigen“ –, um „damit einen deutschen Beitrag für die Befriedung der von Krisen und Kriegen zerrissenen Welt [zu] leisten“.21

Tatsächlich wurde 1970 unter der Schirmherrschaft von Heinemann die »Deutsche Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung« (DGFK) als Institution zur finanziellen Förderung der Friedens- und Konfliktforschung eingerichtet. Dem folgten weitere Institutionalisierungen: 1970 wurde das Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt unter von Weizsäckers Leitung in Starnberg eingerichtet, das neben der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK, ebenfalls 1970 gegründet) und dem Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH, 1971) zu den großen Friedensforschungsinstituten der Bundesrepublik zählte. 1971 gründete der Physiker Georg Zundel die Berghof Stiftung für Konfliktforschung, die mit dem Stiftungsratsvorsitzenden Dieter Senghaas für die Friedensforschung und die Friedenspädagogik zur wichtigsten privaten Fördereinrichtung wurde.

Die DGFK verband nun durch ihre Förderung die unterschiedlichen Strömungen, Disziplinen und ideologischen Ausrichtungen der Friedensforschung. Doch dies konnte über die mit staatlicher Finanzierung der Friedensforschung einhergehenden Herausforderungen nicht hinwegtäuschen. Karl Kaiser, Vorsitzender des zweiten AFK-Vorstandes, hatte zum Thema »Friedensforschung und politische Durchsetzung« bereits Anfang 1970 formuliert: „Friedensforschung ist eine der Durchsetzung des Friedens verpflichtete Wissenschaft. […] Eine Friedensforschung, die sich zum gefügigen Instrument der raison d’etat eines Nationalstaats machen lässt, ist ein Widerspruch in sich. Friedensforschung braucht, gerade weil sie in der Nähe der Politik operiert, eine kritische Distanz.“22 Und 1971 wurde bei einer wissenschaftlichen Tagung »Zum Stand kritischer Friedensforschung« eine »Erklärung zur Friedenforschung« angenommen, die sich intensiv mit der politischen Umsetzung der Forschungsergebnisse beschäftigte: „Kritische Friedensforscher lehnen eine am Status quo orientierte Befriedungsforschung ab. Indem sie helfen, politische Apathie zu überwinden, die Fixierung auf Freund-Feind-Bilder abzubauen sowie verdeckte oder ideologisch verschleierte gesellschaftliche Konflikte bewußt zu machen, tragen sie dazu bei, emanzipatorische Lernprozesse in Gang zu setzen und eine nicht manipulierbare, politisch handlungsfähige Öffentlichkeit herzustellen.“23 Doch diese Unabhängigkeit der Forschung und ihre politischen Ansprüche stießen nicht auf uneingeschränkte Zustimmung, gerade bei politischen Akteuren, die sich an der Finanzierung der DGFK beteiligten: 1979 erklärte die Bayerische Staatsregierung ihren Austritt aus der DGFK.

Entwicklung trotz Gegenwind

Der »kurze Sommer« der Institutionalisierung der Friedensforschung endete vorerst 1983 mit der Auflösung der DGFK, welche durch den Mittelentzug Bayerns unabwendbar geworden war. Auffällig für die Entwicklung der Friedensforschung aber ist, dass dieser Wegfall einer zentralen Institution nicht zum Ende der Friedensforschung führte. Hierfür lassen sich verschiedene Gründe erkennen: Eine beträchtliche Zahl von WissenschaftlerInnen unterschiedlicher Disziplinen an verschiedenen Orten identifizierte sich inzwischen mit dieser Forschungsrichtung. Sie waren vernetzt (u.a. über die AFK), und zugleich hatten sich zwischenzeitlich mehrere Institute etabliert (FEST, HSFK, IFSH), sodass eine institutionelle Basis vorhanden war. Doch schon in dieser Phase zeigte sich sehr deutlich auch die Prekarität politisch relevanter Forschung: Gelingt keine ausreichende, politisch unabhängige Institutionalisierung, kann die wissenschaftliche Arbeit leicht ins Hintertreffen geraten gegenüber der institutionellen Existenzsicherung und wird davon möglicherweise sogar inhaltlich beeinflusst.

Neben dieser »äußeren« Gefahr lauert aber auch eine »innere«. Als ein politisiertes Forschungsfeld bleibt der Friedensforschung ihre eigene Geschichte immer eingeschrieben. Vielleicht war ja deshalb das Erschrecken der Kernphysiker so groß und entsprechend ihr Engagement in der Friedensforschung, weil es für sie gleichsam einen undenkbaren Fall darstellte, so direkt für die eigene Geschichte verantwortlich gemacht werden zu können. Das stellt sich für die Friedensforschung anders dar, weil sie von Anfang an dezidiert politisch wirksame Forschung sein wollte und immer noch sein will. Doch wie dies im Wandel der Problemstellungen, politischer und gesellschaftlicher Kontexte und institutioneller Rahmenbedingungen gelingen kann, erfordert ständige erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Reflexion sowie eine fortlaufende Rekonstruktion der eigenen Geschichte.

Dazu wollen wir mit diesem Beitrag anregen und zugleich alle FriedensforscherInnen einladen, sich an dieser Rekonstruktion zu beteiligen. Als Kontaktadresse fungiert der Lehrstuhl für Politikwissenschaft, Friedens- und Konfliktforschung der Universität Augsburg, E-mail: LST-weller@phil.uni-augsburg.de.

Anmerkungen

1) Wie sich diese Fragen bearbeiten lassen, ist Gegenstand der Pilotstudie »Friedens- und Konfliktforschung in der Bundesrepublik Deutschland: Entstehung und Entwicklung eines problemorientierten Forschungsfeldes«, die 2014/2015 von der Deutschen Stiftung Friedensforschung (DSF) gefördert wurde und an der Universität Augsburg durchgeführt wird. Im Zuge dieser Studie wurden u.a. Interviews mit Beteiligten an dieser Anfangsphase der Friedensforschung geführt, Archivarbeiten durchgeführt und schriftliche Dokumente und Materialien analysiert.

2) Die schöne Studie »Geschichte der deutschen Friedensforschung« von Ulrike Wasmuht (1998, Münster: Agenda) behandelt die Zeit bis zum »dritten Richtungsstreit« in der deutschen Friedensforschung Anfang der 1990er Jahre.

3) Belege: Interview-Transkripte der Pilotstudie (siehe Fn. 1).

4) Theodor Ebert (1968): Gewaltfreier Aufstand – Alternative zum Bürgerkrieg. Freiburg i. Br.: Rombach.

5) Zur Zukunftsforschung vgl. Elke Seefried (2015): Zukünfte – Aufstieg und Krise der Zukunftsforschung 1945-1980. Berlin: de Gruyter Oldenbourg.

6) Auch in anderen Teilen Europas gab es bereits erste Friedensforschungseinrichtungen, wie das 1959 von Johan Galtung gegründete Peace Research Institute Oslo (PRIO) und das 1966 gegründete Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI). 1964 gründete der niederländische Rechtswissenschaftler Bert Röling in Groningen die International Peace Research Association (IPRA), in der die deutsche Friedensforschung in den Anfangsjahren von Klaus Gottstein, einem Physiker, vertreten wurde.

7) Karl Kaiser (1970): Friedensforschung in der Bundesrepublik. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht.

8) Dieter Senghaas (1969): Abschreckung und Frieden. Studien zur Kritik organisierter Friedlosigkeit. Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt.

9) Vgl. den zentralen Band »Kritische Friedensforschung«, 1971 herausgegeben von Dieter Senghaas (Frankfurt a.M.: Suhrkamp), in dem auch der zunächst 1969 im Journal of Peace Research erschienene Beitrag »Gewalt, Frieden und Friedensforschung« von Johan Galtung in deutscher Sprache veröffentlicht wurde.

10) Vgl. z.B. Erhard Forndran (1971): Abrüstungund Friedensforschung. Kritik an E. Krippendorff, D. Senghaas und Th. Ebert. Düsseldorf: Bertelsmann-Universitätsverlag; oder Gerhard Wettig: MBFR: Motor der Aufrüstung oder Instrument der Friedenssicherung? Aus Politik und Zeitgeschichte B 24/73.

11) FEST: Historie; fest-heidelberg.de.

12) Georg Picht (1980/81): Hier und Jetzt – Philosophieren nach Auschwitz und Hiroshima. Stuttgart: Klett-Cotta.

13) Belege in: Archivquellen Institut für Zeitgeschichte München (Dok. ED 702/100).

14) VDW: Geschichte und Ziele; vdw-ev.de.

15) Belege in: Archivquellen Institut für ZeitgeschichteMünchen (Dok. ED 702/57).

16) Belege: Interview-Transkripte der Pilotstudie (siehe Fn. 1).

17) Belege: Interview-Transkripte der Pilotstudie (siehe Fn. 1).

18) Dass sowohl die GründerInnen der AFK als auch kurze Zeit später der DGFK die Selbstbezeichnung »Friedens- und Konfliktforschung« wählten, kann als Teil der politischen Integrationsbemühungen in einem heterogenen Feld gesehen werden.

19) Vgl. Ulrike C. Wasmuht (1998): Geschichte der deutschen Friedensforschung. Münster: Agenda, S.165ff.

20) Belege: Interview-Transkripte der Pilotstudie (siehe Fn. 1).

21) Regierungserklärung von Bundeskanzler Willy Brandt vor dem Deutschen Bundestag in Bonn am 28. Oktober 1969.

22) Karl Kaiser (1970), op. cit., S.52 und 55.

23) Veröffentlicht in: Dieter Senghaas (Hrsg.) (1971): Kritische Friedensforschung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S.417.

Lisa Bogerts ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Internationale Beziehungen und Theorien globaler Ordnungen an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Stefan Böschen ist Senior Research Scientist am Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) am KIT, seit 2014 Co-Leiter des Forschungsbereichs »Wissensgesellschaft und Wissenspolitik« des ITAS. Christoph Weller leitet den Lehrstuhl für Politikwissenschaft, Friedens- und Konfliktforschung der Universität Augsburg und ist Mitglied des Vorstands der AFK. Die AutorInnen arbeiten gemeinsam in der DSF-Pilotstudie »Friedens- und Konfliktforschung in der Bundesrepublik Deutschland: Entstehung und Entwicklung eines problemorientierten Forschungsfeldes«.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2016/1 Forschen für den Frieden, Seite 12–15