W&F 2024/1

Politische Dynamiken in der Arktis

Klimawandel, Transformationskonflikte und Koexistenzsicherung

von Christoph Humrich

Wenn von Politik in der Arktis gesprochen wird, sei es über sicherheitsrelevante zwischenstaatliche Konflikte einerseits oder über die zwischenstaatliche Umweltkooperation im Arktischen Rat andererseits, spielt der Klimawandel eine herausragende Rolle. Unzweifelhaft zeitigt er dramatische Folgen in der Region. Er ist eines der drängendsten Probleme für ihre Bewohner*innen und über klimarelevante Kipppunkte auch für den Rest der Welt. Um die wesentlichen Entwicklungen in der Region zu verstehen, muss der Blick trotzdem zunächst unabhängig vom Klimawandel auf die relevanten politischen Dynamiken gerichtet werden. Das bessere Verständnis ihrer jeweiligen Logiken sollte auch der Klimapolitik helfen.

Im Themenheft Arktis der KAS-Auslandsinformationen schreibt der ehemalige deutsche Beobachter im Arktischen Rat, Michael Däumer: „Der »Kampf um den Nordpol« ist in aller Munde. Als Auslöser gilt insbesondere der globale Klimawandel“ (2023, S. 7). Das ist sicher eine zutreffende Charakterisierung der Erzählung, die der überwiegenden Wahrnehmung der Region in der hiesigen Öffentlichkeit zugrunde liegt. Der Klimawandel bedinge und intensiviere geopolitische Konflikte in der Region, die im Zusammenspiel mit neu zugänglichen Ressourcen, maritimen Status- und Grenzdisputen sowie sich öffnenden Schifffahrtswegen zu einer Militarisierung und Konflikteskalation in der Arktis führen.

Eine andere Erzählung war hierzulande bis vor Kurzem weniger verbreitet. Auch in dieser spielte der Klimawandel die herausragende Rolle: Hier allerdings nicht als Auslöser eskalierender Konflikte um den Nordpol, sondern als Grund für eine sich intensivierende Kooperation der acht Arktisstaaten im Arktischen Rat. So besonders schien diese Kooperation, dass sich für sie das Etikett »Arktischer Exzeptionalismus« etabliert hat (Exner-Pirot und Murray 2017): eine Ausnahme im ansonsten spannungsgeladenen Verhältnis zwischen Russland und dem Westen. Eine Region, deren zwischenstaatliche Beziehungen sich als immun gegen die Verwerfungen eines sich abzeichnenden globalen Großmachtwettbewerbs erwiesen. Seit Russlands militärischem Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 hat die Kooperation im Arktischen Rat allerdings einen erheblichen Dämpfer erlitten. Sie wurde von Seiten der westlichen Arktisstaaten zunächst gänzlich ausgesetzt. Zwar gibt es seit September 2023 eine Einigung auf eine informelle Weiterführung auf Arbeitsgruppenebene, der Exzeptionalismus aber scheint passé. Vor allem durch die Feststellung seines „Zerreißens“ (Kornhuber et al. 2023), ist die mit dem Exzeptionalismus verbundene Wahrnehmung der Region auch in der deutschen Diskussion angekommen.

Zwei unterschiedliche Erzählungen

In beiden Erzählungen fungiert der Klimawandel nicht nur als Auslöser dramatischer geo-physischer Veränderungen, die sich in der Arktis vollziehen, sondern gar als Treiber politischer Entwicklungen und als Kulisse der auf diese bezogenen politischen Einlassungen. Die Symbolkraft entsprechender Bilder wird weidlich genutzt, um entschiedenes Handeln anzumahnen: Verhungernde Eisbären mahnen zu Klimakooperation, Soldat*innen und Kriegsschiffe im ewigen Eis dazu, sich auf Konflikteskalation angemessen militärisch vorzubereiten. Das Problem mit den Erzählungen ist, dass in beiden Fällen, dem arktischen Eskalationismus und dem Exzeptionalismus, der Klimawandel als extern verursachtes und die gesamte Region betreffendes Phänomen die Analyse in zweierlei Weise behindert. Durch den Fokus auf den Klimawandel geraten erstens die Treiber regionaler Entwicklungen an den Rand der Wahrnehmung, die mit der Erderwärmung gar nicht oder nur indirekt in Zusammenhang stehen. Auch dadurch wird zweitens die Wahrnehmung regionaler politischer Dynamiken je einseitig verzerrt. Die Eskalationserzählung überschätzt regionale Konflikte und unterschätzt Kooperationsmöglichkeiten. Bei der Exzeptionalismuserzählung verhält es sich umgekehrt.

Auch wenn der Klimawandel weiterhin und unvermeidlich die Relevanz und den Kontext politischer Analyse der Region (mit-)definieren muss, kann den dramatischen Auswirkungen des Klimawandels in der Arktis politisch effektiver begegnet werden, wenn die regionalen politischen Dynamiken und ihre Logik am Beginn politischer Analyse stehen, nicht der Klimawandel. Dann würde sicherheitspolitische Analyse eher auf Koexistenzsicherung zwischen dem Westen und Russland statt auf klimabedingte Eskalationslogik fokussieren, die umweltpolitische Analyse auf die Transformationskonflikte und ihre mögliche Bearbeitung statt auf übertünchende regionale Klimakooperation.

Arktischer Eskalationismus

Nachdem 2007 eine russische Expedition eine Flagge auf dem Meeresgrund am geographischen Nordpol abgestellt hatte, und im Jahr darauf der geologische Dienst der USA seine Schätzungen zu unentdeckten Öl- und Gasvorkommen in der Arktis publizierte (Gautier et al. 2009), wurde die Beflaggung schnell als Symbol für mit dem Klimawandel in der Region zusammenhängende Sicherheitsprobleme identifiziert (Borgerson 2008), bzw. die Arktis wurde als regionaler Fall in sicherheitspolitische Analysen aufgenommen, welche die Implikationen des Klimawandels zu erfassen suchten (Solana 2008, Welzer 2010). Doch der aufgemachte Zusammenhang zwischen schmelzendem Eis, zugänglichen Ressourcen, Seewegen und Sicherheitsproblemen hat schon damals wenig Entsprechung in der arktischen Realität gefunden.

Das Arctic Climate Impact Assessment (ACIA, Symon et al. 2005), der immer noch umfassendste, aber inzwischen von der tatsächlichen Dramatik weit überholte Bericht zu Klimafolgen in der Arktis (siehe IPCC 2019), merkte bereits an, dass schmelzendes Eis und Permafrost sowie größere Witterungsschwankungen wirtschaftliche Erschließung zunächst einmal erschweren können. Ein plötzlicher Goldrausch oder Run auf die in der öffentlichen Wahrnehmung maßlos überschätzten Ressourcen ist ausgeblieben, wie auch eskalierende Konflikte um maritime Grenzen oder die Kontrolle von Seewegen zwischen den arktischen Staaten (Tunsjø 2020).

In den sicherheitspolitischen Dokumenten der Arktisstaaten finden sich zudem kaum Hinweise darauf, dass in diesem Zusammenhang Sicherheitsrisiken identifiziert werden. Eine Ausnahme stellt Russland dar, wo das Abschmelzen der Eisbarriere vor der sibirischen Küstenlinie im Lichte dubioser geopolitischer Ideologien Anlass zur Verstärkung militärischer Überwachung und Verteidigungsfähigkeit gegeben hat. Den Maßnahmen im mittleren und fernen Nordosten Sibiriens kann jedoch ein überwiegend defensiver Charakter unterstellt werden. Anders sieht es aus mit den militärischen Installationen der Kola-Halbinsel. Sie wurden und werden dort zum Zweck der Machtprojektion und Vorwärtsverteidigung der sogenannten Bastion unterhalten, weil diese Gewässer wegen der Ausläufer des Golfstroms schon immer eisfreier Zugang zum Atlantik gewesen sind. Der relevante und für die Arktis-Anrainerstaaten der NATO bedrohliche Teil der Militarisierung findet hier statt.

Das lenkt die Aufmerksamkeit auf die eigentlichen Probleme. Um sie zu identifizieren hat der norwegische Politikwissenschaftler Andreas Østhagen (2023) ein Gedankenexperiment vorgeschlagen: Würden der Klimawandel und alle seine Folgen in der Arktis auf einen Streich rückgängig gemacht, wie stände es dann um die regionale Sicherheit? Kaum verändert, lautet die Antwort, denn Sicherheitsprobleme resultieren in allererster Linie von den russischen Großmachtambitionen und den daraus resultierenden Spannungen zwischen Russland und dem Westen. Das ist etwas anderes als ein auch des Öfteren von Analysten ausgemachter Großmachtwettbewerb um strategische Dominanz, Ressourcen, Schifffahrtswege und Einfluss in der gesamten Region und mit Beteiligung von China. Obwohl dieser zum Beispiel 2019 medienwirksam vom damaligen US-Außenminister Mike Pompeo heraufbeschworen wurde,1 sind entsprechende Dynamiken schwerlich zu erkennen. Dazu sind die Einflusssphären in der Arktis zu eindeutig aufgeteilt und stabil. Das geopolitisches Zentrum der regionalen Spannungen zwischen Russland und dem Westen ist der Hohe Norden, der euro-atlantische Teil der niederen Arktis. China hat es zwar geschafft, als Interessent und Akteur in der Arktis anerkannt zu werden, ist dabei aber bei weitem nicht so relevant geworden wie beispielsweise Deutschland, Großbritannien oder die EU. Nach dem westlichen Abbruch der Beziehungen mit Russland scheint weder das chinesische Engagement mit Russland entscheidend gewachsen, noch das Engagement mit den westlichen Arktisstaaten massiv beeinträchtigt.

Weder ergeben sich also die Sicherheitsprobleme aus Entwicklungen in der Region, noch betreffen sie die gesamte Region. Die Verbindung von arktischem Klimawandel und Sicherheitsproblemen hat demgegenüber eine Perspektive begünstigt, die nicht subregional differenziert und die Verschärfung der Konfliktursachen mit einer gewissen Unausweichlichkeit annimmt. Das hat zu mahnenden Aufrufen geführt, sich für militärische Konfrontationen im (wohl nicht mehr) ewigen Eis zu wappnen.2

Arktischer Exzeptionalismus

Der niederländische Think Tank für Außenpolitik, Clingendael, der sich im Anschluss an die oben schon erwähnte Rede Mike Pompeos die Erzählung über arktische Eskalation zu eigen machte, schrieb die Gründung des Arktischen Rates zwei Tabus im Sinne des Exzeptionalismus zu (Dams und van Schaik 2019, S. 3): Zum einen dürfen die Herausforderungen des Klimawandels nicht abgestritten werden, zum anderen sollten die geopolitischen Konfrontationen des Kalten Krieges nie wieder die Politik der Region bestimmen. Beides ist falsch. Bereits die sogenannte finnische Initiative, die zur Arctic Environmental Protection Strategy (AEPS, 1991), der Vorläuferin des Rates, führte, war sich nur zu bewusst, dass geopolitische Spannungen zwischen Russland und dem Westen fortdauern würden. Um zaghafte Annäherungen zu ermöglichen, setzte sie daher auf ein Thema, das von den Gründen dieser Spannungen nicht betroffen war, sondern bei dem gemeinsame Interessen vorzuherrschen schienen: dem Umweltschutz. Bei den Verhandlungen zum Arktischen Rat wurde dann auch wegen der Annahme fortgesetzter Spannungen das Thema »militärische Sicherheit« explizit aus dem Portfolio des Rates ausgeschlossen.

Trotz umweltpolitischem Fokus spielte der Klimawandel bei der Gründung des Arktischen Rates keine wesentliche Rolle. In der AEPS, die später als Strategie der Umweltsäule des Rates übernommen wurde, wird explizit erwähnt, dass der Klimawandel als globales Problem bereits in anderen Institutionen behandelt werde. Im Vordergrund der arktischen Umweltkooperation standen daher zu Beginn eher klassische Schadstoffreduktion und Naturschutz. Erst 1998 wurde, zunächst im Rahmen der Auswirkungen der Erderwärmung auf den arktischen Naturschutz, eine Vorstudie für das spätere ACIA durchgeführt. Dieses wiederum wurde bei seiner Veröffentlichung 2004 ein weltweit beachteter Erfolg. Über wissenschaftliche Berichte hinausgehende klimapolitische Maßnahmen des Arktischen Rates wurden erst sehr viel später in Angriff genommen.3 Gegen die Blockadehaltung der damaligen Bush-Administration und den Klimaskeptizismus in Moskau kam auch das ACIA nicht an. Das änderte sich erst mit der Regierung von Barack Obama und weiteren Berichten des Rates. Trotzdem brachte der Arktische Rat es noch fertig, in einer seiner Erklärungen zunächst den Klimawandel als größte Bedrohung der Region zu identifizieren, um dann zu postulieren, die Gewinnung fossiler Rohstoffe in der Region sei ein Beitrag zu deren nachhaltiger Entwicklung.4 Dass 2018 eine ganze Reihe prominenter Wissenschaftler*innen den Arktischen Rat auch aufgrund seiner angeblichen klimapolitischen Leistungen für den Friedensnobelpreis vorschlugen (vgl. Finne 2018), wurde schon im Jahr darauf dadurch konterkariert, dass der Rat zum ersten Mal in seiner Geschichte keine Abschlusserklärung zustande brachte, weil die Trump-Administration sich weigerte, der Erwähnung des Klimawandels in selbiger zuzustimmen.

Trotz der also eher ambivalenten Rolle des Rates als klimapolitisches Forum bleibt der Klimawandel nach dem Ende des Arktischen Exzeptionalismus im Zusammenhang mit umweltpolitischer Kooperation in der Region prominent: Nun wird der Klimawandel sowohl von Expert*innen als auch von politischer Seite zu dem Grund stilisiert, der eine fortgesetzte Kooperation mit Russland und einen Erhalt des Arktischen Rates unter allen Umständen notwendig mache (siehe z.B. Zellen 2022). In grandioser Überschätzung des durch den Klimawandel gebotenen Anreizes für zwischenstaatliche Kooperation wird eine arktische Wissenschaftsdiplomatie sogar zum möglichen Katalysator für eine erneute Annäherung zwischen dem Westen und Russland erhoben.

Was dagegen unterschätzt wird, sind die politischen Konflikte auf nationaler Ebene zwischen Verfechter*innen einer starken Klimapolitik und ihren Gegner*innen. Wie die Wechsel der US-Administrationen auch auf internationalem Parkett zeigen, haben diese nationalen politischen Konflikte eine sehr viel größere Bedeutung für klimapolitischen Fort- oder Rückschritt.

Transformationskonflikte in der Arktis

Wie in den meisten anderen Gesellschaften auch, sind die Ökonomien der Arktisstaaten auf Expansion angelegt. In den letzten zwei Jahrzehnten hat diese Expansion die Arktis schrittweise erfasst. Dabei dienen die arktischen Ressourcen sowohl nationalen wirtschaftspolitischen Zielen, als auch dazu, das Wohlstandsniveau der arktischen Peripherien selber zu heben und die Lage ihrer Bewohner*innen zu verbessern. Norwegen benötigt die arktischen Ressourcen zur Wahrung des Ölreichtums, der in den südlicheren Feldern zur Neige geht. Ähnlich verhält es sich in Alaska, wo das Staatsbudget von sich zunehmend erschöpfenden Ölquellen abhängig ist. Die Grönländische Regierung hofft auf die Finanzierung ihrer Unabhängigkeit von Dänemark, Island auf wirtschaftlichen Wiederaufbau nach der verheerenden Finanzkrise. In Russland wird auch die Arktis in den Dienst der wirtschaftlichen Aufholjagd gegenüber dem Westen gestellt.

In keinem dieser Länder sind diese Entwicklungspfade für die arktischen Gebiete gesellschaftlich unumstritten. Bei entsprechenden politischen Auseinandersetzungen geht es nicht nur für die Bewohner*innen der Arktis selber um zwei Fragen: der ökologischen, sozialen und kulturellen Kosten der wirtschaftlichen Entwicklung, wie auch um die jeweils angemessene Beteiligung an den entsprechenden politischen Entscheidungen. Die erste Frage liegt oft quer zu Gruppenzugehörigkeiten (wie Indigene vs. Siedler*innen), die letztere fällt oft mit ihnen zusammen. In Konstellationen der Zentrums-Peripherie-Gegenüberstellung vereinen sich unterschiedliche Positionierungen zu beiden Fragen wieder.

In Norwegen tat sich etwa erst kürzlich die größte Jugendnaturschutzorganisation des Landes mit Greenpeace zusammen, das in der Walfangnation eigentlich gar nicht wohl gelitten ist, um gegen die weitere Erschließung von fossilen Rohstoffen auch gerichtlich vorzugehen (vgl. Greenpeace Norden 2024). In Grönland entschied das Parlament erst knapp für den Uranabbau, dann mit veränderten politischen Mehrheiten wieder dagegen. In den USA spielen republikanische und demokratische Regierungen in Washington politisches Ping-Pong um die Öffnung des Arctic National Wildlife Refuges. Während viele alaskanische Inuit für die weitere Erschließung fossiler Rohstoffe in dem Staat sind, lehnen viele kanadische dies für ihre Provinzen strikt ab. Auf Island gingen hydroelektrische Großprojekte mit den größten Umweltdemonstrationen des Landes einher und während die einen Kommunalpolitiker*innen auf die Ansiedlung eines neuen Tiefwasserhafens durch den deutschen Entwickler Bremenports hoffen,5 sind die anderen vehement dagegen.

Obwohl sich die komplizierte politische Gemengelage schlichten dichotomen Zuordnungen entzieht, lässt sich verallgemeinernd sagen, dass die indigenen Bevölkerungsgruppen der Arktis dabei selten am längeren Hebel sitzen. Deren Lage spitzt sich zu. Denn der Klimawandel spielte zwar bei alldem zunächst eine untergeordnete Rolle, verschärft aber nun zunehmend die mit der Entwicklung der arktischen Peripherien einhergehenden politischen Konflikte. Als Rechtfertigungsmotiv taucht der Klimawandel bei Gegner*innen wie Verfechter*innen klimapolitischer Transformation in den arktischen Gebieten auf. Erstere wollen neben den Kosten der Klimafolgen, die sie bereits jetzt und insbesondere zu tragen haben, nicht auch noch die Hauptlast der Transformation übernehmen. Letztere begründen mit dem Klimawandel die Notwendigkeit von Entwicklungsprojekten in der Arktis, mit der das Übergehen der Bedürfnisse der lokalen und indigenen Bevölkerung gegebenenfalls eingepreist wird. Zugunsten der »Green Transition« in der EU sollen in den bevölkerungsarmen aber ressourcenreichen Arktisregionen zum Beispiel Windfarmen errichtet, Bahntrassen gelegt und seltene Erden abgebaut werden. So trägt die indigene Bevölkerung die oben angedeutete doppelte Last: die Folgekosten des Klimawandels und die seiner Vermeidung. Daher etabliert sich zunehmend die Rede von einem »Green Colonialism« in der Arktis (vgl. Kårtveit 2021). Der Widerstand dagegen, aber auch der von indigenen Fragen eher unbeeindruckte, von populistischer Seite kommende Protest gegen die umweltpolitische Transformation, beeinträchtigen effektive Klimapolitik.

Der Gefahr des »Green Colonialism« ließe sich nur begegnen, wenn die politischen Auseinandersetzungen auf der Grundlage starker indigener Rechte geführt werden. Dem Populismus nähme generell stärkere Partizipation in politischen Prozessen Wind aus den Segeln. In beiden Hinsichten ließ die Kooperation im Arktischen Rat zu wünschen übrig. Zwar nimmt der Arktische Rat zurecht für sich in Anspruch, mit der Beteiligung der indigenen Völker Maßstäbe gesetzt zu haben,6 nicht nur bei der Umsetzung bzw. Ausweitung von Rechten zuhause sind die Staaten aber zögerlich. Den sehr unrühmlichen Kontrapunkt zum herausgehobenen Status der indigenen Vertreter setzte der Fakt, dass die westlichen Staaten im Rat kein Gegenmittel wussten als Moskau die russische Vereinigung der indigenen Völker der Arktis (RAIPON) zunächst als ausländischen Agenten deklarierte, mit Razzien überzog und eine der Regierung genehme Führung installierte, die sich dann nicht zu schade war, Putin ihre volle Unterstützung bei der militärischen Spezialoperation zu versichern (vgl. Urueña, S. 23 in dieser Ausgabe). Mit Russland als Mitglied verwundert es aber auch nicht, dass die notwendige grundrechtliche und partizipatorische Untermauerung der Green Transition im Rat kaum Thema ist.

Das Schicksal von RAIPON ist ein Beispiel dafür, dass die westlichen Arktisstaaten für eine Annäherung mit Russland bzw. fortgesetzte Kooperation bereit waren, normative Grundlagen und wesentliche Voraussetzungen für das Erreichen expliziter Kooperationsziele abzuwerten. Selbst wenn man nicht überzeugt ist, dass Russland diese Annäherung nur benutzt hat, um sich in ihrem Schatten für seine neo-imperialistischen Umtriebe aufzurüsten (vgl. bspw. Mikkola et al. 2023), kann man fragen, ob umgekehrt die Annäherung es Wert ist, Abstriche an effektiven Politiken hinzunehmen. Intensivierte Kooperation unter »like-minded states« könnte möglicherweise mehr bewirken.

Koexistenzsicherung für die Arktis

Die Antwort auf ein Ende des vermeintlichen Arktischen Exzeptionalismus ist nicht unbedingt die weitergehende Militarisierung der Arktis oder Machtdemonstrationen durch die NATO. Hinreichende Abschreckung und auch das Signalisieren von Verteidigungsbereitschaft sind sicher vonnöten. Aber dazu ist zum einen eine nüchterne Analyse der russischen strategischen und operativen Fähigkeiten unabdingbar, die sich zum Beispiel nicht an der gern erwähnten Anzahl der Eisbrecher bemisst. Um russische Paranoia und Propaganda nicht unnötig anzuheizen, bedarf es zum anderen einer klaren räumlichen und militärischen Begrenzung auf die Bereiche und Gebiete, in denen die Sicherheitsinteressen der arktischen NATO-Mitglieder berührt sind. Das wird wesentlich beschränktere Aufrüstung und Verteidungsinvestitionen erfordern als von manchen Analysten, Politikern und Militärs auf NATO-Seite gewünscht. Selbst die wird aber zu einer steigenden Militärpräsenz mit den daraus folgenden Sicherheitsrisiken in der Arktis führen.

Dabei sei daran erinnert, dass die Arktis im Kalten Krieg schon vor der Diskussion um die Auswirkungen des Klimawandels oder der Ressourcengewinnung ein militärisches Aufmarschgebiet war. Es lohnt sich aus zwei Gründen, diese Zeiten noch einmal in den Blick zu nehmen. Auf der einen Seite werden dabei die Gelegenheiten auffallen, bei denen der ideologische Überbau des Kalten Krieges Maßnahmen effektiver Entspannung behindert hat. Auf der anderen die, bei denen es besser gelang, die Risiken einer militärischen Konfrontation im Sinne eines umsichtigen Managements gegenseitiger Abschreckung zu minimieren. Voraussetzung war die Anerkennung von Sicherheitsbedürfnissen. Auf dieser Basis wurde beschränkte Kooperation zur Koexistenzsicherung im Kalten Krieg möglich. Sie hatte zwei Ebenen. Die lokale, die in der Arktis zum Beispiel mit Verträgen zur Kommunikation bei militärischen Zwischenfällen die regionalen Symptome der globalen Konfrontation behandelte, und die globale, auf der die Bedingungen von Stabilität durch und mit Abschreckung definiert und durch Abrüstungsvereinbarungen unterstützt wurden.

Für die lokale Ebene stehen in der Arktis heute noch bzw. schon entsprechende Institutionen bereit.7 Sie müssen gegebenenfalls nur aktualisiert oder entsprechend umgewidmet werden. Es ginge nicht mehr um intensive und umfassende Zusammenarbeit zwischen Partnern, sondern um das begrenzte operative Management konkreter Gefahrensituationen, an deren Vermeidung beide Seiten ein Interesse haben. Die Umwidmung könnte durch einen »Arctic Military Code of Conduct« (Depledge et al. 2019), dessen Umsetzung dann diesen Institutionen zufallen würde, sinnvoll unterstützt werden. Auf der globalen Ebene sind dagegen echte und gravierende politische bzw. diplomatische Anstrengungen vonnöten, um Fortschritte zu erzielen. Von diesen lenken mühsame Versuche, die regionale Kooperation im Arktischen Rat zu erhalten, möglicherweise ab. Mit dem gegenwärtigen Russland dient diese weder einem effektiven Klimaschutz, noch ist eine politische Annäherung zwischen Russland und dem Westen durch seine Wissenschaftsdiplomatie zu erwarten. An der Sicherung von Koexistenz über Verhandlungen statt Rüstungsspiralen sollte auch Russland interessiert sein. Angesichts seiner militärischen Überstreckung in der Ukraine kann sich Russland eine konventionelle militärische Eskalation in der Arktis kaum leisten. Der Einsatz hybrider Strategien und die Betonung der nuklearen Fähigkeiten (siehe Kola-Stationierung) deuten auch darauf hin.

Zwei neue Erzählungen: Transformationskonflikte und Koexistenzsicherung

Der Klimawandel bedroht die Arktis und den Rest der Welt. Das heißt aber weder, dass er für eskalierende Sicherheitsprobleme in der Arktis verantwortlich ist, noch dass er einen arktischen Exzeptionalismus begünstigt. Wer die Sicherheitsprobleme in der Region verstehen will, muss Russlands strategische Bedürfnisse und Großmachtambitionen in den Blick nehmen, die politischen Dynamiken, die darauf Einfluss nahmen, nicht geo-physische Veränderungen. Zu solchen politischen Dynamiken haben zum Beispiel das über alle Warnungen hinweggehende deutsche Interesse an billigem Gas für seine Verbraucher und Industrie beigetragen; in der Arktis aber sicher auch die symbolische Legitimation, die Russland als geschätztem Kooperationspartner noch zuteil wurde, als die Krim schon annektiert war und das Regime sich längst zur Autokratie gewandelt hatte. Im Hinblick auf Sicherheitsrisiken ergibt sich ein relativ enger räumlicher Fokus auf den so genannten Hohen Norden, die niedere euro-atlantische Arktis, die von jeher durch den Golfstrom eisfrei ist. Hier sollten sich die regionalen diplomatischen Anstrengungen auf Maßnahmen mit Russland zur Koexistenzsicherung fokussieren. Diese soll auf der operativen Ebene den begrenzten Anspruch haben, die Risiken beidseitiger Militärpräsenz zu mildern. Das würde sie auch politisch realistisch machen. Ansonsten gibt es keine regionale Eskalationslogik. Die Gründe der Spannungen zwischen Russland und dem Westen liegen auf globaler Ebene und müssen dort bearbeitet werden.

Auch der Arktische Rat kann vermutlich zur Zeit am ehesten einen sinnvollen Beitrag in der Region und global leisten, wenn sich seine Tätigkeit auf die Fortführung von Kooperation zum wissenschaftlichen Monitoring des Klimawandels in der Arktis begrenzt. Der gegenwärtige Wissensstand dazu würde übrigens auch ohne weitere Kooperation im Arktischen Rat auf jeden Fall ausreichen, um auf nationaler Ebene mit dem Abwarten aufzuhören und mit einer ernsthaften Klimapolitik zu beginnen. Aber die politische Logik der Green Transition darf sich nicht auf die Rechtfertigung der Alternativlosigkeit bestimmter Politiken durch den Klimawandel beschränken. Entscheidende Fortschritte bei der Bekämpfung des Klimawandels und der Green Transition setzen demgegenüber eine Bearbeitung der unterliegenden Transformationskonflikte voraus. Wenn diese nicht in Anti-Klimapolitiken umschlagen sollen, geht an einer politischen Auseinandersetzung um das richtige Verhältnis zwischen Umwelt und Entwicklung kein Weg vorbei. Damit es nicht zum »Green Colonialism« kommt und die indigenen Völker die Verlierer sind, ist ein neues Niveau effektiver Rechte und Partizipation erforderlich. Deren Voraussetzungen sind aber im Verein mit einem autokratischen und aggressiven Russland wohl kaum zu schaffen. Dafür wären neben nationalen Anstrengungen entsprechende Bemühungen der EU oder eine Kooperation der sieben westlichen Arktisstaaten sicherlich mehr geeignet.

Anmerkungen

1) Siehe die Rede am 6.5.2019, dokumentiert auf YouTube youtube.com/watch?v=6Bk8PeRBYcg.

2) Für den deutschen Fall s. z.B. die Einlassungen des CDU-Bundestagsabgeordneten Knut Abraham (2023).

3) Für gute Überblicke siehe Hoel (2007) und Yamineva und Kulovesi (2018).

4) Dies findet sich in der Abschlusserklärung des sechsten Arctic Council Ministertreffens (Arctic Council 2009).

5) Link zur Projekthomepage: bremen-ports.de/finnafjord/

6) Als »Permanente Teilnehmer« haben Vertreter*innen von sechs indigenen Organisationen die gleichen Teilnahmerechte wie die Mitgliedstaaten des Arktischen Rates. Den letzteren bleibt formell aber das Entscheidungsrecht vorbehalten. Dennoch trafen die Mitgliedsstaaten Entscheidungen zumeist im Konsens mit den Permanenten Teilnehmern.

7) Vor der russischen Besetzung und Annexion der Krim gab es Arctic Chief of Defense Staff Meetings und einen Arctic Security Forces Roundtable als pan-arktische Foren. Das Arctic Coast Guard Forum ist noch aktiv.

Literatur

Abraham, K. (2023): Neuer Blick nach Norden. Risiken und Handlungsoptionen für die deutsche Arktispolitik. KAS Auslandsinformationen 39(1), S. 57-67.

AEPS (1991): Arctic Environmental Protection Strategy. Rovaniemi/Finnland, 14.6.1991.

Arctic Council (2009): Tromsø Declaration on the occasion of the Sixth Ministerial Meeting. Tromsø/Norwegen, 29.4.2009.

Borgerson, S. G. (2008): Arctic meltdown. The economic and security implications of global warming. Foreign Affairs 87(2), S. 63-77.

Dams, T.; Schaik, L. Van (2019): The Arctic elephant. Europe and geopolitics in the High North. Clingendael Policy Brief, 14 Nov. 2019.

Däumer, M. (2023): Von einer Zone des Friedens zum Konfliktherd? Die geopolitische Bedeutung der Arktis. KAS Auslandsinformationen 39(1), S. 7-24.

Depledge, D. et al. (2019): Why we need to talk about military activity in the Arctic: Towards an Arctic Military Code of Conduct. In: Exner-Pirot, H. et al. (Hrsg.): Redefining Arctic security. Arctic Yearbook 2019, S. 1-4.

Exner-Pirot, H.; Murray, R. W. (2017): Regional order in the Arctic: Negotiated exceptionalism. Politik 20(3), S. 47-64.

Finne, A.F. (2018): The Arctic Council nominated for Nobel Peace Prize. High North News, 18.1.2018, updated 2.2.2022.

Gautier, D. L. et al. (2009): Assessment of undiscovered oil and gas in the Arctic. Science 324(5931), S. 1175-1179.

Greenpeace Norden (2024): Greenpeace och Natur och Ungdom vinner klimaträttsfall mot norska staten. Pressemitteilung, 19.1.2024.

Hoel, A. H. (2007): Climate change. In: Stokke, O. S.; Hønneland, G. (Hrsg.): International cooperation and Arctic governance. Regime effectiveness and Northern Region building. London: Routledge, S. 112-137.

IPCC, Intergovernmental Panel on Climate Change (2019): Special report on the ocean and cryosphere in a changing climate. Cambridge u.a.: Cambridge University Press.

Kårtveit, B. (2021): Green colonialism. In: Sørly, R.; Ghaye,T.; Kårtveit, B. (Hrsg.): Stories of change and sustainability in the Arctic regions. The interdependence of local and global. London: Routledge, S. 157-177.

Kornhuber, K. et al. (2023): The disruption of Arctic exceptionalism. Managing environmental change in light of Russian aggression. DGAP Report 2, Februar 2023. Berlin: DGAP.

Mikkola, H.; Paukkunen, S.; Toveri, T. (2023): Russian aggression and the European Arctic. Avoiding the trap of Arctic exceptionalism. Finnish Institute for International Affairs, Briefing Paper 359, April 2023. Helsinki: FIIA.

Østhagen, A. (2023): Five misconceptions in Arctic security and geopolitics (Commentary), The Arctic Institute, 1.6.2023.

Solana, J. (2008): Climate change and international security. Paper from the High Representative and the European Commission to the European Council, S113/08, 14.3.2008.

Symon, C. et al. (Hrsg.) (2005): Arctic Climate Impact Assessment (ACIA). Cambridge: Cambridge University Press.

Tunsjø, Ø. (2020): The great hype: False visions of conflict and opportunity in the Arctic. Survival 62(5), S. 139-156.

Welzer, H. (2010): Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird (2. Aufl.). Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch.

Yamineva, Y.; Kulovesi, K. (2018): Keeping the Arctic white: The legal and governance landscape for reducing short-lived climate pollutants in the Arctic region. Transnational Environmental Law 7(2), S. 201-220.

Zellen, B.S. (2022): Op-ed: Arctic Council »pause« endangers humanity’s united stand against climate change. Special to Nunatsiaq News, 7.5.2022.

Dr. Christoph Humrich ist Assistant Professor für International Relations and Security Studies an der Universität Groningen/Niederlande und einer der Sprecher der Themengruppe Polar- und Meeerespolitik der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft. Er forscht schwerpunktmäßig zur Umweltgovernance und Sicherheitspolitik in der Arktis.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2024/1 Konflikte im »ewigen« Eis, Seite 15–20