Präventive Diplomatie
Neue Ansätze zur Konfliktbearbeitung und zum Menschenrechtsschutz
von Norbert Ropers
Einer der neuen Begriffe, die uns der weltpolitische Umbruch der 90er Jahre beschert hat, ist derjenige der »präventiven oder vorbeugenden Diplomatie«. Im Jahre 1992 war es der UN-Generalsekretär Boutros-Ghali, der in seinem Empfehlungskatalog »Agenda für den Frieden« schrieb: „Der Einsatz der Diplomatie ist dann besonders wünschenswert und effizient, wenn es darum geht, Spannungen zu vermindern, noch bevor ein Konflikt ausbricht – oder, im Konfliktfalle, rasch zu handeln, um den Konflikt einzudämmen und die ihm zugrundeliegenden Ursachen zu beseitigen.“
Dabei dachte er weniger an das klassische Instrumentarium der Diplomatie, an Verhandlungen, an Vermittlungen, an »gute Dienste«. Nach seiner Meinung sollte die Staatengemeinschaft jetzt vielmehr einen Schritt weitergehen und auch praktische Maßnahmen ins Auge fassen, um Spannungen frühzeitig entgegenzuwirken.
Ausdrücklich nannte er damals fünf Punkte:
- vertrauensbildende Maßnahmen zwischen den streitenden Parteien;
- Fact-Finding-Missionen, d.h. die Entsendung von Expertengruppen in ein Krisengebiet, um sich unabhängig von den streitenden Parteien ein Bild der Lage vor Ort zu machen;
- den Aufbau eines Systems der Frühwarnung (early warning) über die mögliche Eskalation von Konflikten;
- vorbeugende militärische Einsätze, um damit den Parteien die Gefahr einer Einmischung von außen vor Augen zu halten;
- schließlich auch die Einrichtung von entmilitarisierten Zonen.
Mittlerweile findet die Forderung „Vorbeugung ist die beste Strategie zur Verhinderung des Ausbruchs blutiger Konflikte“ überall Anerkennung. Sie findet sich in den Reden der Präsidenten Clinton und Jelzin, in den Beschlüssen des Europäischen Parlaments und ungezählter deutscher Parteitage. Sie hat auch Eingang gefunden in die Programmatik vieler Menschenrechtsorganisationen, z. B. von Amnesty International oder der Helsinki-Gruppen in Osteuropa. Sie alle stimmen dem UN-Generalsekretär darin zu, daß die meisten Menschenrechtsverletzungen dort geschehen, wo Konflikte gewaltsam ausgetragen werden. Also kommt es darauf an, diese Eskalation abzuwenden, vorbeugend tätig zu werden.
»Gerechte Kriege« statt »Humanitäre Interventionen«
Was ist jedoch in der Praxis geschehen? Was haben die Vereinten Nationen, die amerikanische, russische und deutsche Regierung, die europäischen Institutionen, die Menschenrechtsorganisationen getan, um dem Vorrang der Prävention Geltung zu verschaffen?
Was haben z.B. die Vereinten Nationen in Somalia unternommen, um nach dem Sturz des Diktators Barre im Januar 1991 den politischen Neubeginn zu unterstützen, dem Wunsch der Bevölkerung nach Frieden, Versöhnung zwischen den Clans und Wiederaufbau des Landes entgegenzukommen? Was haben die Vereinten Nationen getan, um 1992 ihren eigenen algerischen Sonderbeauftragten Mohamed Sahnoun zu unterstützen, dem es gelungen war, die meisten Kriegsparteien und Clanführer in ein Netz von Verhandlungen einzubeziehen? Die Chance vom Januar 1991 wurde verpaßt und der algerische Diplomat wurde von Boutros-Ghali abberufen, weil er den Vorbereitungen der militärischen Intervention in Somalia im Wege stand. Statt Prävention ist Somalia ein Beispiel einer sogenannten humanitären Intervention geworden, womit in der Praxis nichts anderes gemeint ist als ein »gerechter Krieg«. Dieser »gerechte Krieg« hat insgesamt einige tausend Menschenleben sowie gut 4 Mrd. US-Dollar gekostet und wird mittlerweile auch von der Bundesregierung als Fehlschlag beurteilt.
Was haben die Bundesregierung und ihre westlichen Verbündeten getan, als die bosnische Regierung in der 2. Jahreshälfte 1991 mehrfach darauf hinwies, daß eine Anerkennung Sloweniens und Kroatiens unweigerlich zu einem Bürgerkrieg in Bosnien-Herzegowina führen werde? Was dann auch im 9. April 1992 geschah!
Was wird heute unternommen, um präventiv auf den manifesten Konflikt zwischen der albanischen Bevölkerungsmehrheit im Kosovo und der serbischen Regierung in Belgrad einzuwirken? Wie geht die Europäische Union mit der griechischen Politik gegenüber Mazedonien um, die diesem Land immense ökonomische Lasten aufbürdet, einem Land, das dringend ökonomische Entlastung braucht, um mit seinen internen ethnischen Spannungen fertig zu werden?
Was hat die Staatengemeinschaft unternommen, als eine »Fact-Finding«-Mission der auf die Konfliktprävention spezialisierten Nicht-Regierungsorganisation International Alert im Oktober 1992 darauf hinwies, daß sich in Tschetschenien ein außerordentlich brisanter Konflikt aufbauen würde? Was wird heute unternommen, wenn dieselbe Organisation und viele Medien darauf hinweisen, daß sich in Burundi gegenwärtig eine ähnliche Katastrophe vorbereiten könnte, wie sie 1994 in Ruanda stattgefunden hat?
Barrieren präventiver Diplomatie
Es ist allgemein bekannt, daß sich diese Liste beliebig verlängern läßt. So wünschenswert die Prävention von Gewalt und massenhaften Menschenrechtsverletzungen auch ist, offensichtlich gibt es im gegenwärtigen internationalen System erhebliche Barrieren, die der Realisierung eines wirksamen Programms präventiver Diplomatie entgegenstehen. Im folgenden werden fünf dieser Barrieren und Schwierigkeiten genauer vorgestellt. Erst in Kenntnis dieser Rahmenbedingungen ist meiner Ansicht nach eine realistische Einschätzung von Ansätzen und Möglichkeiten präventiver Diplomatie möglich.
(1) Die erste Barriere ist zumindest im Hinblick auf die Vereinten Nationen die massive Überforderung, die bereits die aktuelle Konfliktbearbeitung mit sich bringt. Derzeit hat die UNO in insgesamt 17 Krisenregionen Blauhelme bzw. zivile Beobachter stationiert. Zugleich ist sie jedoch überhaupt nur in einem Drittel der zur Zeit militärisch ausgefochtenen Konflikte präsent. Wenn Sie sich jetzt noch die Kritik vor Augen führen, die bereits an der gegenwärtigen Durchführung der Blauhelm-Einsätze geübt wird, wo sollen dann die Ressourcen und die organisatorischen Kapazitäten für die Ausweitung in Richtung auf Prävention herkommen?
(2) Die zweite Schwierigkeit hängt mit der ersten zusammen: Ressourcen und Kapazitäten werden dort bereitgestellt, wo sich Interessengruppen dafür stark machen, wo Druck erzeugt wird oder wo Spektakuläres stattfindet, das die Aufmerksamkeit der Medien und der Öffentlichkeit erregt. Die Mittel für eine bescheidene Fact-Finding- und Vermittlungsinititative für einen Konflikt aufzutreiben, über den der amerikanische Sender CNN noch nicht berichtet hat oder in dem es noch keine Toten gibt, ist meist sehr viel schwieriger, als wenig später ein Mehrfaches dieser Kosten für eine humanitäre Aktion der Opfer dieses Konfliktes zusammenzubekommen.
Ein passendes Bild ist vielleicht: So wie die Feuerwehr sicher sein kann, daß ihre Einsätze mehr Aufmerksamkeit finden als die Besuche des Brandschutzbeauftragten, so wird auch über militärische »out-of-area«-Einsätze wesentlich heftiger diskutiert als über Wege und Formen ziviler Konfliktprävention. Diese Neigung zum Feuerwehr-Modell ist freilich keine Besonderheit der internationalen Politik. Möglicherweise hält es sich hier aber auch deshalb so hartnäckig, weil das Denken in militärischen Kategorien immer noch im Mittelpunkt des Staatensystems steht.
(3) Eine andere Schlüsselkategorie des Staatensystems ist das Prinzip der nationalen Souveränität. Hier liegt eine weitere, die dritte Barriere für den Ansatz der präventiven Diplomatie. Die meisten gewaltträchtigen Konflikte, mit denen wir es heute zu tun haben, sind innerstaatlicher und nicht zwischenstaatlicher Art. Präventive Diplomatie läuft unter diesen Umständen oft zwangsläufig auf eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines oder mehrerer souveräner Staaten hinaus. Welche Möglichkeiten hatte denn die Staatengemeinschaft, die Sezessionsbestrebungen Tschetscheniens friedlich zu beeinflussen, wenn die Regierung Rußlands auf dem Standpunkt steht, dies sei eine ausschließlich innere Angelegenheit ihres Landes?
Dieses Beharren auf der Souveränität als Abwehrargument gegen präventive Maßnahmen ist übrigens keine Spezialität autoritär regierter Transformationsgesellschaften in Osteuropa oder in der Dritten Welt. Auch im Westen gibt es z.B. erhebliche Vorbehalte gegen die Ausweitung von Rechten zum Schutz ethnischer Minderheiten. Für alle Nationalstaaten mit einer ausgeprägt zentralstaatlichen Tradition und einem republikanischen Staatsbürgerverständnis, wie etwa Frankreich, ist die Verankerung von Autonomiebestimmungen auf der internationalen Ebene kaum akzeptabel. Die Bundesrepublik Deutschland wiederum tut sich sehr schwer, wie Sie alle wissen aufgrund unseres Staatsbürgerverständnisses, mit der Anerkennung nationaler Minderheiten jenseits der Dänen, Sorben und Friesen.
(4) Das Prinzip der nationalen Souveränität als Grundmerkmal der gegenwärtigen Staatenwelt erschwert Aktivitäten präventiver Diplomatie noch aus einem weiteren Grund und damit komme ich zur vierten Barriere: dem Dilemma aller internationaler Organisationen zwischen den Rollen des Richters und der neutralen Vermittlungsinstanz. Wenn die Vereinten Nationen sich als Staatengemeinschaft mit eigener Autorität in einem Konflikt engagieren, so stehen ihnen prinzipiell drei Möglichkeiten offen: Entweder sie ergreifen Partei für einen der streitenden Akteure, oder sie entscheiden als Quasi-Richter über die Einhaltung internationaler Standards, oder sie verstehen sich nur als Vermittler zwischen den Parteien und müssen sich dementsprechend auch an den Machtverhältnissen orientieren.
Als Vertreter einer Staatenorganisation sind die Vereinten Nationen gezwungen, prinzipiell auf Seiten der bestehenden Staaten und ihrer »territorialen Integrität« zu stehen. Sie können zwar einen Staat als Aggressor brandmarken, wie das der Sicherheitsrat mit Serbien getan hat. Wenn sie jedoch präventive Diplomatie und akutes Konfliktmanagement betreiben wollen, müssen sie auch mit jenen Parteien sprechen, die sie möglicherweise vorher »geächtet« haben. Dieses Dilemma prägt ganz besonders die Jugoslawienpolitik der UNO, die deshalb auch für Außenstehende einen so widersprüchlichen Charakter hat.
(5) Eine fünfte Schwierigkeit, präventive Diplomatie in die Praxis umzusetzen, sehe ich in dem eingeengten Verständnis dieses Ansatzes, das auch noch die Vorschläge von Generalsekretär Boutros-Ghali bestimmt. Die von ihm eingangs erwähnten fünf Punkte betreffen entweder nur die Verbesserung der Informationslage oder militärische Maßnahmen. Lediglich die »vertrauensbildenden Maßnahmen« gehen über diese konventionellen Methoden hinaus, bleiben bei ihm jedoch auch eher unbestimmt. Interessanterweise hat er in seiner »Agenda für den Frieden« in der sogenannten Konfliktfolgenzeit einen wesentlich breiteren Ansatz gewählt. In dieser Phase betont er auch die Notwendigkeit von umfassenden friedensstiftenden Maßnahmen, die die gesamte Gesellschaft einbeziehen sollten (post-conflict peace building).
Merkmale ethnopolitischer Konflikte
Ich bin der Auffassung, daß ein derart breiter Ansatz auch für die Realisierung von präventiver Diplomatie notwendig ist. Ich möchte das erläutern anhand des Charakters jener gewaltträchtigen Konflikte, mit denen wir es zur Zeit vor allem im internationalen System zu tun haben.
Ich erwähnte bereits, daß die weit überwiegende Zahl der gegenwärtig registrierten gewaltträchtigen Konflikte keine klassischen internationalen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Staaten sind, sondern Spannungen innerhalb von Staaten zwischen rivalisierenden Gruppen bzw. zwischen diesen Gruppen und dem jeweiligen Staat. Eine Schlüsselrolle bei der Beschreibung der streitenden Gruppen spielen ethnische Kriterien, so daß diese Konflikte meist als ethnische Konflikte charakterisiert werden. Die Bezeichnung als »ethnische« Konflikte sollte allerdings nicht als Erklärung mißverstanden werden, so als ob die Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe automatisch zu Konflikten führen würde. In der Mehrzahl aller sogenannten ethnischen Konflikte geht es vielmehr um eine ganze Reihe von gesellschaftlichen und politischen Ursachen, die sich auf komplizierte Weise mit der Ethnizität vermischt haben.
Welches sind die Kriterien, die in der Regel als Grundmerkmale von »ethnischer Identität« genannt werden: gemeinsame historische Erfahrungen, Mythen, religiöse Überzeugungen, eine eigene Kultur, insbesondere eine eigene Sprache. Wichtig scheint mir zu sein, daß nicht diese Merkmale als solche die gemeinsame Ethnizität ausmachen, sondern die gemeinsame Wahrnehmung, daß diese Aspekte bedeutsam sind und ihre Angehörigen von denen anderer Gruppen unterscheiden. So heißt es zugespitzt in einer ironischen Definition: Ethnische und nationale Identitäten zeichnen sich dadurch aus, daß ihre Angehörigen den Irrtum einer gemeinsamen Herkunft miteinander teilen.
Wie kommt es nun zu dieser gemeinsamen Wahrnehmung? Ich glaube, die beiden wichtigsten Einflußfaktoren sind: zum einen die Erfahrung einer gemeinsamen negativen Diskriminierung (gelegentlich allerdings auch vor dem Hintergrund gemeinsamer Erfahrung von Privilegien, die plötzlich in Frage gestellt werden) und zum anderen die gezielte Politisierung der Ethnizität durch die jeweiligen Eliten.
Betrachtet man die gegenwärtige weltpolitische Landschaft unter diesem Blickwinkel ethnischer bzw. ethnisch-politisierter Konflikte, kommt man ungefähr auf eine Zahl von zwischen 70 und über 100 Spannungsfeldern, in denen wir es zur Zeit mit tatsächlicher oder drohender kollektiver Gewaltanwendung zu tun haben. Entgegen einer verbreiteten Meinung ist die Zunahme ethno-politischer Konflikte übrigens nicht erst in den letzten Jahren, seit dem Ende des Ost-West-Konflikts, aufgetreten. Dieser Trend läßt sich vielmehr seit dem Ende der 60er Jahre beobachten, seitdem im Zuge der Dekolonisierung in der Dritten Welt viele künstliche Staatsgebilde geschaffen wurden, denen es nicht gelang, ihre multiethnische Bevölkerung miteinander zu versöhnen.
Was kann präventive Diplomatie in diesen Konfliktfällen unternehmen, um eine gewaltsame Eskalation zu verhindern bzw. um zur Deeskalation beizutragen? Um diese Frage zu beantworten, möchte ich drei Aspekte hervorheben, die nach meiner Meinung wesentlich für diesen Konflikttypus sind und ihm in der angelsächsischen Fachsprache die Bezeichnung »protracted conflict«, schwer lösbar und tief verwurzelt, eingetragen haben.
(1) Das erste Merkmal ergibt sich aus der Tatsache, daß ethnische Gruppen sich in einem langen historischen Prozeß als »Schicksalsgemeinschaften« herausbilden, in dem sowohl subjektive als auch objektive Faktoren eine Rolle spielen und sich wechselseitig beeinflussen. In diesem Prozeß lassen sich zumindest analytisch zwei Ebenen unterscheiden: eine meist offen ausgesprochene Ebene politischer Forderungen und Interessen und eine eher verborgene, tiefer liegende Ebene kollektiver, häufig negativer und verletzender, kränkender Gemeinschaftserfahrungen.
Gerade diese zweite Ebene kollektiver Negativerfahrungen spielt bei ethnischen Konflikten eine wichtige Rolle. Dazu zählen insbesondere Ereignisse, bei denen eine große Zahl von Angehörigen der Gruppe zum Opfer von Willkürherrschaft und Vertreibung, einer militärischen Niederlage oder einer anderen Form von Gewalt wurde. Diese einschneidenden Erfahrungen haben oft eine traumatisierende, verletzende Wirkung über die unmittelbar betroffene Generation hinaus. Wie tiefe Verletzungen einzelner Personen als Schlüsselerfahrungen an die Kinder und Enkel übertragen werden können, so können auch schwerwiegende kollektive Verletzungen an die nachfolgenden Generationen weitergegeben werden und zu einem Bestandteil der kollektiven Identität der »ethnischen Schicksalsgemeinschaft« werden. Freilich kann dieser Prozeß auch von den Eliten mitbeeinflußt werden.
Nicht selten enthält das kollektive Bewußtsein »ethnischer Schicksalsgemeinschaften« eine Reihe solcher kollektiven Verletzungen. Ein Beispiel liefert die Geschichte des nordkaukasischen Volkes der Tschetschenen, die erst nach langen und verlustreichen Kämpfen Mitte des 19. Jahrhunderts dem zaristischen Rußland einverleibt worden sind. Ihr wichtigstes »chosen trauma« ist bis heute aber zweifellos die von Stalin angeordnete Vertreibung 1944 nach Zentralasien wegen ihrer angeblichen Kooperation mit Hitler-Deutschland. Sie führte zu einem immensen Verlust an Menschenleben und gipfelte in dem Versuch, die Erinnerung an dieses Volk in ihrer Heimatregion vollständig auszulöschen. Die nächste kollektive Verletzung dürfte die von Präsident Jelzin angeordnete militärische Intervention in Tschetschenien seit dem Dezember 1994 werden.
Die wichtigste Konsequenz dieser zwei Ebenen vieler ethnischer Spannungsfelder ist, daß präventive Diplomatie und akute Konfliktbearbeitung auf die Dauer nur erfolgreich sein können, wenn sie beide Ebenen berücksichtigen. In aller Regel beschränkt sich die Diplomatie aber, wie im klassischen Verständnis dieses Wortes angelegt, auf die politische Ebene, auf die Verhandlung und den Ausgleich von Interessen. Ohne die »Identitäten«, ohne die historische und psycho-soziale Tiefendimension zu berücksichtigen, ist das jedoch außerordentlich schwierig. Immer wieder wird von diplomatischen Interventionen und Verhandlungen in ethnischen Spannungsfeldern berichtet, die über weite Strecken sehr verheißungsvoll ablaufen. Aber plötzlich gibt es »Widerstände«, Abwehrreaktionen, die sich keiner der Beteiligten und der außenstehenden Beobachter erklären kann. Meine Vermutung ist, daß sich in diesen Widerständen die Tiefendimension des Konflikts zu Wort meldet, weil sie in der Konfliktbearbeitung zuwenig Gehör gefunden hat.
Praktisch bedeutet diese Einsicht, daß bei ethnischen Konflikten die sogenannte Beziehungsebene mindestens ebenso, wenn nicht noch wichtiger ist als die »Sachebene«. Deshalb ist es wohl auch kein Zufall, daß etliche professionelle Vermittler, in den USA als Mediatoren bezeichnet, die Auffassung vertreten, zwischen der Bereinigung von Ehekonflikten und derjenigen von ethnischen Auseinandersetzungen gäbe es nur wenig prinzipielle Unterschiede. Präventive Diplomatie kann sich daher nicht darauf beschränken, sachlich venünftige Vorschläge zu machen. Sie mögen noch so vernünftig sein, über sie kann aber meist erst dann auf konstruktive Weise verhandelt werden, wenn zuvor über die wechselseitigen Beziehungserfahrungen gesprochen wird.
(2) Ein zweites Merkmal ethnischer Konflikte ist ihr asymmetrischer Charakter. Das betrifft zunächst in der Regel schlicht den personellen Umfang der streitenden Gruppen. Die meisten Konflikte können deshalb auch als Mehrheiten-Minderheiten-Konflikte beschrieben werden. Die Konsequenz ist, daß die traditionellen Formen demokratischer Konfliktregulierung hier meist wenig brauchbar sind. In einem Land, in dem die Mehrheitsgruppe 60<0> <>% der Bevölkerung umfaßt und die Minderheitsgruppe 40<0> <>%, kann deshalb allein mit den Mechanismen der Mehrheitsdemokratie schwer befriedet werden. Wie auch immer das Wahlsystem und die politischen Vertretungen verfaßt sind, die Minderheit kann regelmäßig auf »demokratische« Weise überstimmt werden.
Die Asymmetrie trifft in vielen Fällen auch noch in einem zweiten, qualitativen Sinne zu. Während nämlich eine Partei im Namen eines bestimmten, staatlich legitimierten Status quo auftritt, fordert die andere mit Hinweis auf gesellschaftliche Ungerechtigkeiten die Änderung dieses Status quo zu ihren Gunsten. Dahinter steht ein grundsätzliches Problem unserer heutigen Staatenwelt. Die »Erfindung der Nation« hat nämlich dazu geführt, daß alle ethnischen Gruppen einem starken Druck ausgesetzt sind, sich selbst als »Nation« zu konstituieren, d.h. für sich den Anspruch auf politische Autonomie und Selbstbestimmung zu fordern. Wie kann das aber in einer Welt gelingen, in der die bewohnbare Fläche nahezu vollständig zwischen den gut 190 Nationalstaaten aufgeteilt ist, es daneben aber mindestens 170 weitere ethnische Gruppen ohne »eigenen« Staat, aber mit der Forderung nach Autonomie und Selbstbestimmung gibt (Minority Rights Group)?
Welche Konsequenz ergibt sich aus diesen Asymmetrien für die präventive Diplomatie? Hier steckt meines Erachtens eine Herausforderung, die zumindest das traditionelle Verständnis von Diplomatie, das sich ja vor allem im Rahmen symmetrischer Konflikte entwickelt hat, radikal in Frage stellt. Zu einer dauerhaften Befriedung zwischen der Status-quo-Staatenwelt und den in ihr benachteiligten ethnischen Gruppen wird es nämlich nur kommen können, wenn die Staaten zu umfassenden makropolitischen Reformen bereit sind. Die Stichworte lauten: Minderheitenrechte, Föderalismus, multiethnische Gewaltenteilung, vielleicht auch Verrechtlichung von Sezession.
(3) Bevor ich das im einzelnen erläutere, noch ein Hinweis auf das dritte Merkmal ethnopolitischer Konflikte: ihre ausgeprägte Neigung zur Eskalation. Dies hängt mit einer Reihe von Faktoren zusammen, insbesondere aber wohl damit, daß die vorsätzliche Eskalation, d.h. das systematische Vorantreiben des Konflikts auf eine höhere Intensitätsstufe, von den Konfliktparteien als eine Methode der Konfliktbearbeitung angesehen wird. Am bekanntesten ist diese Methode, wenn Gewalt angedroht wird. Durch diese Drohung hoffen beide Seiten, die andere zum Nachgeben zu bewegen. Tatsächlich wird jedoch meist das Gegenteil erreicht. Der österreichische Konfliktforscher Friedrich Glasl nennt das »Beschleunigung durch Bremsen«.
Andere Eskalationsmechanismen sind die Neigung zur Projektion eigener interner Auseinandersetzungen und Schwierigkeiten auf den Gegner; die ständige Ausweitung der Konfliktthemen, während gleichzeitig der Grundkonflikt immer mehr zu einem zwischen Gut und Böse wird; schließlich die Personifizierung: Wenn die anderen nur nicht so … und so wären, dann ließe sich der Konflikt doch leicht lösen. Die Folge ist, daß ethnopolitische Konflikte leicht in eine Spirale der wechselseitigen Abschottung und Verfeindung geraten, aus der die Beteiligten allein nur schwer einen Ausweg finden.
Die hohe Eskalationsgefahr ethnopolitischer Konflikte ist zweifellos ein wesentliches Argument für die Notwendigkeit von Prävention; denn je weiter der Konflikt eskaliert ist, desto stärker ist er in den gesellschaftlichen und politischen Strukturen und den kulturellen Einstellungen der streitenden Parteien verankert. Bei bereits weit eskalierten Konflikten ist es zudem oft notwendig, daß eine dritte Partei von außen interveniert, weil die Parteien selbst sich zu sehr auf ihre Positionen versteift haben.
Vor dem Hintergrund dieser drei Merkmale ethnopolitischer Konflikte möchte ich Ihnen jetzt fünf Handlungsfelder vorstellen, in denen es meiner Ansicht nach darauf ankommt, das Konzept der präventiven Diplomatie und der vorbeugenden Konfliktbearbeitung praktisch zu entfalten:
Entwicklungspolitik
Auf einer sehr allgemeinen Ebene läßt sich zunächst feststellen: Die beste Prävention wäre es, generell die sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß Konflikte in einer Gesellschaft überhaupt »zivilisiert«, d.h. ohne den Rückgriff auf Gewalt ausgetragen werden. Als praktische Handlungsanleitung ist diese These »Präventionsarbeit=Zivilisierung« zwar nicht besonders konkret, aber sie macht mit Recht darauf aufmerksam, daß es nicht nur darauf ankommt, einzelne Konflikte friedlich zu regeln, sondern auch darauf, die gesamte Art und Weise des Umgangs mit Konflikten zu zivilisieren. Zugespitzt könnte man auch sagen: zu kultivieren; denn es geht ja nicht darum, Konflikte zu unterdrücken, im Gegenteil, Konflikte sind ein notwendiger Bestandteil einer sich modernisierenden und ständig verändernden Welt. Worauf es ankommt, ist ihre Austragung gewaltfrei zu gestalten.
Was bedeutet das für die Präventionsarbeit in jenen Ländern des Ostens und Südens, die heute in besonderem Maße von gewaltsamen ethnopolitischen Konflikten heimgesucht bzw. bedroht werden? Ich meine, es bedeutet vor allem Entwicklungspolitik bzw. entwicklungspolitische Zusammenarbeit. Für besonders geeignet halte ich z.B. Hilfen bei der Gestaltung demokratischer politischer Strukturen, Hilfen für die Vorbereitung und faire Durchführung von Wahlen, Unterstützung für den Aufbau von Nicht-Regierungsorganisationen, die Förderung der Medienvielfalt, die Dezentralisierung der Verwaltung, insbesondere auf regionaler und kommunaler Ebene, Beratung und Hilfen für den Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen, d.h. bei der Gesetzgebung wie der Rechtspflege, nicht zuletzt auch Unterstützung für die Reform der meist noch militärähnlich organisierten Polizei sowie des Strafvollzugs.
Auf diesem Gebiet vollzieht sich bereits ein allmählicher Bewußtseinswandel bei den verantwortlichen Entwicklungspolitikern und Entwicklungsverwaltern. Der Wandel findet jedoch angesichts der akuten Krisen viel zu langsam statt. Vor allem fehlt es an dem Mut, auf extreme Krisensymptome auch mit der Bereitschaft zu durchgreifenden und umfassenden entwicklungspolitischen Interventionen zu reagieren.
Ein Beispiel ist die von drei Bundestagsabgeordneten der SPD sowie von Bündnis 90/Die Grünen jüngst vorgeschlagene Burundi-Initiative (Jochen Tappe, Werner Schuster, Uschi Eid). Angesichts der dramatischen Zuspitzung der Gewaltbereitschaft in diesem Land und eingedenk des Völkermordes in Ruanda schlagen sie vor, ein umfassendes Arbeitsbeschaffungsprogramm für jene arbeitslosen jugendlichen Tutsis und Hutus zu entwickeln, die die Hauptadressaten der extremistischen Politiker sind. Mit bereits 500,- DM pro Person könnte ihnen geholfen werden, konkrete wirtschaftliche Alternativen zu finden, so daß sie nicht mehr so leicht zu verführen sind, als marodierende Banden die grauenhafte »ethnische Säuberung« zu praktizieren, die wir letztes Jahr in Ruanda erlebt haben. Bei gut einer Million männlicher Jugendlicher wären das zwar immerhin 500 Millionen DM, aber was bedeutet diese Summe im Vergleich zu dem befürchteten Verlust an Menschenleben – ganz zu schweigen von den Summen, die später als »humanitäre Hilfe« bereitzustellen offensichtlich keine Schwierigkeiten bereitet.
Ein anderer Vorschlag der Bundestagsabgeordneten lautet, den Aufbau eines Friedensrundfunks in diesem Land zu unterstützen, um den Propagandasendern entgegenzutreten, die auf beiden Seiten den Haß schüren. Vielleicht sollte man angesichts dieser berüchtigten »Haßsender« auch nicht davor zurückschrecken, ein Mittel zu benutzen, das wir aus dem Kalten Krieg zwar in sehr schlechter Erinnerung haben, für das es aber eben manchmal doch eine Rechtfertigung gibt: die Einrichtung von Störsendern nämlich.
Schließlich weisen die Politiker auch auf die Notwendigkeit hin, den ehemaligen Soldaten ein Angebot zur Integration in die zivile Gesellschaft zu machen, um ihr Gewaltpotential friedlich zu transformieren. Damit komme ich zum zweiten Punkt:
Präventive Abrüstung und Konversion
Meiner Ansicht nach ist nicht die Existenz von Waffen die Ursache von Konflikten, es sind vielmehr die Konflikte, die die Parteien nach den Waffen greifen lassen. Zweifellos haben aber die Existenz von Waffen und die Gewöhnung an die militärische Austragung von Konflikten die fatale Wirkung, daß schneller zur Gewalt gegriffen wird, als wenn es diese Mittel nicht oder weniger gäbe. Die zählebigen blutigen Konflikte in Afghanistan, in Mosambique, in Angola und in etlichen anderen Krisenregionen belegen das Tag für Tag.
Deshalb gehören auch die Abrüstung und die Konversion von Rüstungsmaterial und die Demobilisierung von Soldaten zur Prävention. In den letzten Jahren ist es infolge der Überwindung des Ost-West-Konflikts erfreulicherweise gelungen, die Abrüstung bei den Großwaffen voranzutreiben. Jetzt muß auch die Abrüstung bei den Kleinwaffen auf der Tagesordnung stehen. Denn gerade die Existenz dieser Waffen ist es, die in den vielen ethnischen Krisengebieten eine konfliktverschärfende Wirkung hat.
Um dieses Problem zu lösen, sollte man nicht davor zurückschrecken, auch unkonventionelle Ideen und Vorschläge in die Debatte einzubringen. Vor allem geht es um die Verantwortung der Produzenten und Händler dieser Waffen. Eine hervorragende Idee scheint mir diejenige einer internationalen Steuer zu sein, die auf den internationalen Waffentransfer erhoben wird und an die Vereinten Nationen abzuführen ist. Ein anderer Vorschlag, der es verdient, gründlich geprüft zu werden, ist, daß alle Länder, die Waffen in eine bestimmte Region geliefert haben, verpflichtet werden, diese Waffen zurückzukaufen, wenn in dieser Region eine Krise ausbricht. Das ist nur fair, schließlich sind diesen Ländern ja auch einmal die Gewinne aus dem Verkauf zugeflossen.
Minderheitenrechte, Föderalismus und Gewaltenteilung
Der Minderheitenschutz gehört historisch zu den ältesten Formen der Prävention von gewaltsamer Konfliktaustragung. Seine Wurzeln liegen zum einen in den Toleranzedikten des 16. und 17. Jahrhunderts, in denen die damaligen Feudalherrscher die Schutzrechte religiöser Minderheiten festlegten. Zum anderen gehen sie zurück auf die Regelungen, mit denen die Führungen des Osmanischen Reiches, des zaristischen Rußlands und der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie sich bemüht haben, ihre auseinanderstrebenden multiethnischen Staatsgebilde zusammenzuhalten. Heute sind die Debatten um den Ausbau von Minderheitenrechten wieder höchst aktuell. Kein Wunder angesichts der bereits erwähnten Zahl von mindestens 170 Minderheiten ohne eigenen Staat.
Versteht man Minderheitenrechte nicht nur als die individuelle Garantie einer nichtdiskriminierenden Behandlung, sondern auch als einen kollektiven Anspruch auf politische und kulturelle Selbstbestimmung, dann geht es bei der Prävention auch um Fragen der Gewährung von Autonomierechten, der Schaffung föderaler Staatsstrukturen und der Teilung der Macht im Staate durch Proporzregelungen und Vetorechte zugunsten der Minderheiten.
Meiner Ansicht nach belegen etliche Beispiele, daß die rechtzeitige Gewährung großzügiger individueller und kollektiver Minderheitenrechte eine der besten Strategien ist, um der Eskalation ethnopolitischer Konflikte entgegenzuwirken. Erwähnen möchte ich die schwedische Minderheit in Finnland, die Waliser im britischen Staatsverbund, die Lage der Südtiroler in Italien. An den konkreten Regelungen mag manches zu kritisieren sein, die Vereinbarungen für Südtirol sind auch nicht ganz ohne Eskalation zustande gekommen. Gleichwohl haben sie meiner Ansicht nach wesentlich dazu beigetragen, daß diese Konflikte heute nicht mehr als gewaltträchtig gelten.
Es ist deshalb schwer zu verstehen, warum von diesen Regelungen so wenig Gebrauch gemacht wird. Unter den gegenwärtig 190 Staaten können mindestens 170 als Staaten gelten, in denen es mindestens eine ethnische Minderheit gibt. Trotzdem gibt es nur in wenigen Staaten Ansätze von Selbstverwaltung für die Minderheiten. Offensichtlich fällt es den meisten Regierenden schwer, ihre Macht zu teilen. Viele riskieren lieber die Eskalation, als sich auf eine gemeinsame Lösung einzulassen.
Klassische Diplomatie
Angesichts des verbreiteten Widerstands gegen »makropolitische« Lösungen stehen die klassischen Mittel der Diplomatie im Vordergrund dessen, was heute als »präventive Diplomatie« im engeren Sinne beschrieben werden könnte. Aus dem Katalog von Boutros-Ghali habe ich bereits zwei wichtige Elemente genannt: Durch die Veröffentlichung von Tatsachen (das sog. Fact-Finding) aus dem Spannungsfeld soll eine Dämpfung des aggressiven Verhaltens der streitenden Parteien erreicht werden. Durch »Frühwarnung« soll es möglich gemacht werden, daß Außenstehende rechtzeitige Gegenmaßnahmen ergreifen können.
Auf dieser Basis soll dann das klassische Instrumentarium der Diplomatie zur Geltung kommen: die guten Dienste, um die Parteien überhaupt an einen gemeinsamen Verhandlungstisch zu bringen, sowie die diversen Formen der Einwirkung auf die einzelnen Parteien und der Vermittlung zwischen ihnen. Zweifellos hat auf diesem Gebiet die nicht-öffentliche Diplomatie des UN-Generalsekretärs, haben auch ähnliche Initiativen einzelner Staaten manche Krise bereinigt. Vermutlich sind uns durch diese Aktivitäten von hunderten von Diplomaten und Sonderbeauftragten manche negativen Schlagzeilen in der Presse erspart geblieben. Eine Geschichte erfolgreicher präventiver Diplomatie, die vermutlich niemals vollständig geschrieben werden kann.
Um so schmerzhafter nehmen wir die vielen Mißerfolge der klassischen Vermittlungsdiplomatie zur Kenntnis. Am dramatischsten wohl im Fall des früheren Jugoslawien, wo ich manchmal aus der Medienberichterstattung den Eindruck gewinne, als ob die Vermittler der Vereinten Nationen und der Europäischen Union, Vance, Callaghan, Stoltenberg und Owen, eigentlich die Hauptverantwortlichen dafür sind, daß die Konflikte auf dem Balkan sich derart zugespitzt haben.
Patentrezepte gibt es in diesem Feld nach allen Erfahrungen nicht. Meiner Meinung nach wären die Vereinten Nationen jedoch gut beraten, sich beim Ausbau der präventiven Diplomatie im engeren Sinne ein Beispiel an jener regionalen Organisation zu nehmen, die in dieser Hinsicht schon einen Schritt weiter ist: der Organisation über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Sie hat zwei Institutionen geschaffen, die sich bei der Behandlung von ethnopolitischen Konflikten, die noch nicht sehr weit eskaliert waren, sehr bewährt hat.
Die eine ist das Amt des Hochkommissars für nationale Minderheiten, das zur Zeit von dem ehemaligen niederländischen Außenminister Max van der Stoel ausgeübt wird. Die andere sind die sogenannten Langzeitmissionen der OSZE, die aus einer kleinen Gruppe von Konflikt- und Regionalexperten bestehen, die jeweils für längere Zeit in eine Krisenregion geschickt werden. Diese Institutionen haben sich sowohl bei der präventiven Bearbeitung der Staatsbürgerschaftskonflikte im Baltikum als auch der Sezessionskonflikte in Moldawien und in Georgien bewährt. Ihr bescheidener Erfolg ist vor allem darauf zurückzuführen, daß die beteiligten Personen längere Zeit vor Ort leben, die beteiligten Konfliktparteien sehr gut kennen, auf der Basis von Vertraulichkeit arbeiten und immer wieder betonen, daß sie dauerhaft tragfähige Lösungen für alle Beteiligten bevorzugen.
Allerdings müssen auch sie unter einer Einschränkung arbeiten: Sie arbeiten im Auftrag einer Staatenorganisation und können deshalb keine vollständig neutralen Vermittler sein. Das können nur die Vertreter der sogenannten Multi-track Diplomacy.
»Multi-track Diplomacy«
Mit diesem Begriff der »viel-gleisigen Diplomatie« wird zum Ausdruck gebracht, daß in der heutigen Welt nicht nur die offiziellen Diplomaten für die Gestaltung der internationalen Beziehungen verantwortlich sind. Die Welt hat sich geändert von einer reinen Staatenwelt zu einer Staaten- und Gesellschaftswelt. Wirtschafts- und Medienunternehmen, Religionsgemeinschaften, politische Interessengruppen, Menschenrechtsorganisationen, wissenschaftliche Einrichtungen und auch Privatpersonen, sie alle haben mittlerweile einen, wenn auch meist nur begrenzten Einfluß auf das internationale Geschehen.
Meine These ist, daß aufgrund der besonderen Merkmale ethnopolitischer Konflikte die offizielle Diplomatie zu ihrer Regelung nicht ausreicht. Auch die Akteure und die Interessen und die Möglichkeiten der »multi-track-Diplomatie« sollten für die präventive wie die aktuelle Bearbeitung ethnischer Konflikte mobilisiert werden.
Zwei Gründe sprechen dafür. Der erste lautet: Da viele der ethnischen Konflikte so tief in den Strukturen der Gesellschaften verankert sind, ist es notwendig, ebenso breite Allianzen zu ihrer Überwindung zu schaffen. Vor allem geht es darum, den Vorrang der zivilen Kräfte einer Gesellschaft bei der Konfliktbearbeitung zu sichern. Wenn ein Konflikt nämlich einmal auf die militärische Ebene eskaliert ist, ziehen sich die zivilen Akteure meist apathisch zurück und auch die wohlmeinenden außenstehenden Vermittler konzentrieren sich nur noch auf diejenigen, die die Waffen besitzen. Deshalb ist es so wichtig, in allen Krisenregionen Bündnisse zwischen allen zu fördern, die eine zivile Konfliktlösung wollen. Das sind z. B. die lokalen Führungsgruppen und Verwaltungen, die Geschäftswelt, ein großer Teil der Bildungseliten.
Den zweiten Grund habe ich bei der Beschreibung von Grundmerkmalen ethnischer Konflikte genannt: Viele von ihnen können nur dadurch erfolgreich bearbeitet werden, indem auch ihre historische und psycho-soziale Tiefendimension berücksichtigt wird. Sonst werden immer erneut Widerstände und Abwehrreaktionen erzeugt, die eine vernünftige Regelung blockieren. Mit einer solchen Aufgabe der Verständigung und Versöhnung an der Basis der Gesellschaft, aber auch bei vielen einflußreichen Führungspersonen der Parteien, sind jedoch die offiziellen Diplomaten überfordert. Hier gibt es ein wichtiges Betätigungsfeld für gesellschaftliche Träger, für Kirchen und Nichtregierungsorganisationen. Leider ist die Bedeutung dieser Arbeit noch wenig ins öffentliche Bewußtsein gedrungen.
Seit der Wende von 1990 wird in der Bundesrepublik Deutschland darüber diskutiert, wie unser Land seine neue, die gewachsene sogenannte weltpolitische Verantwortung wahrnehmen sollte. Im Mittelpunkt stand und steht dabei die Frage nach den »out-of-area«-Einsätzen der Bundeswehr und nach dem Aufbau von »Krisenreaktionsstreitkräften«. Die vielen Fragen zur Prävention von gewaltsam ausgetragenen Konflikten, von denen ich nur eine Auswahl präsentieren konnte, spielten demgegenüber nur eine völlig untergeordnete Rolle. Ich halte diese Gewichtung für fatal. Sie ist weder im Hinblick auf den Schutz von Menschenrechten, die weltweite Förderung der Demokratie noch unter Kostengesichtspunkten gerechtfertigt. Prävention ist die beste Friedenspolitik!
Dieser Artikel wird 1996 erscheinen in: Klaus Hüfner, Ulrich Albrecht (Hrg.): Die Zukunft der UN. Beltz-Verlag.
Dr. Norbert Ropers ist Leiter des Berghof Forschungszentrums für konstruktive Konfliktaustragung in Berlin.