W&F 2005/3

Quo Vadis EU

von Jürgen Nieth

Am 29. Mai haben die Franzosen in einem Referendum Nein zur EU-Verfassung gesagt und am 1. Juni die Niederländer. Meinungsumfragen hatten diese Ergebnisse längst vorausgesagt, überraschen konnte eigentlich nur die große Zahl der Neinsager. Schon vorher wäre also Zeit gewesen, sich über die Gründe und über das »wie weiter?« Gedanken zu machen. Stattdessen reduziert sich die erste Reaktion der Europapolitiker auf ein »weiter so« (siehe Artikel von Tobias Pflüger: Ein »weiter so« ist ausgeschlossen!, in dieser Ausgabe).
In den deutschen Medien geht es in den ersten Berichten vor allem um die Gründe für dieses Nein: War es der Zorn auf die eigene Regierung, oder dominierten »Zukunftsängste«? Nur wenige JournalistInnen gehen auf den Inhalt des Verfassungsvertrages ein, der hier zur Abstimmung stand und auf die inhaltliche Kritik, die zur Ablehnung führte.

»Volksbeschimpfungen«

„Zunächst einmal allerdings ist zu sagen, dass die Franzosen nicht alle Tassen im Schrank haben. Sollen sie ihre Regierung abwählen, wenn das auf der Tagesordnung steht! Am Sonntag stand es nicht auf der Tagesordnung. Am Sonntag ging es um einen Verfassungsvertrag, in dem es keinen einzigen Punkt gibt, der die Franzosen auf die Barrikaden bringen könnte. Auf die Barrikaden gegangen sind sie wegen Chirac und der Zumutung seiner Reformpolitik, wegen eines möglicherweise drohendne Türkei-Beitritts… und so weiter und so fort.“ (Eckhard Fuhr, Die Welt, 01.06.2005)

„In Frankreich sind 40 Prozent der Wähler antieuropäisch und antidemokratisch eingestellt. Fabius besorgt den Rest… Der Erfolg des Neins in Frankreich und das demagogische Abdriften der Sozialisten auf dem Kontinent zeugt von einem allgemeinen geistig-moralischen Niedergang.“ (André Glucksmann, Die Welt, 01.06.2005)

Die Regierung trägt Hauptschuld

„Nun hat der Zorn des Volkes, nach einer überzeugenden demokratischen Debatte und mit einer unglaublich hohen Wahlbeteiligung sein Ventil gefunden. Die europäische Idee bleibt auf der Strecke und büßt für die Unfähigkeit des Präsidenten und der politischen Klasse Frankreichs, Antworten zu geben auf die drängenden Fragen der Menschen.“ (Hans-Helmut Kohl, Frankfurter Rundschau, 30.05.2005)

„Was wollen die Franzosen? Was sie nicht wollen, haben sei am Sonntag sich und Europa gezeigt. Sie haben eine Verfassung abgelehnt, aber ihre Regierenden gemeint… Sie haben mehrheitlich ihr Nein in die Welt gerufen, denn das Nein gegenüber den Mächtigen hat in Frankreich einen guten Ruf.“ (Gerd Kröncke, Süddeutsche Zeitung, 01.06.2005)

Angst vor der Zukunft

„Die Niederländer haben sich Jahrhunderte lang als offenes und kosmopolitisches Volk betrachtet. Wie berechtigt dieses Bild war, ist weniger bedeutsam als seine pure Existenz… Diese Sicht wird seit einiger Zeit drastisch revidiert. In vielerlei Hinsicht sind die Niederländer längst dabei, Fenster und Türen gut zu schließen; die Zugluft ist ihnen lästig geworden… Es besteht eine besorgniserregende Kluft zwischen dem politischen Establishment und der Wählerschaft, und diese Kluft heizt das Misstrauen weiter an, bei europäischen Fragen ganz besonders.“ (Michael Zeemann in der FAZ 03.06.2005)

„Das Volk ist nicht so blöd, wie seine gewählten Vertreter gelegentlich meinen… die frühere Begeisterung für Europa (wird) von immer mehr Ängsten überlagert. Vor allem dort, wo schwächelnde Konjunktur und Arbeitslosigkeit den Alltag beherrschen. Bei Einführung des Euro war den Menschen ein europäisches Wirtschaftswunder versprochen worden. Es hat nicht stattgefunden. Warum sollten die Niederländer nun den neuen Verheißungen glauben?“ (Jörg Beckmann, Frankfurter Rundschau, 02.06.2005)

Votum für ein sozialeres Europa

„Es war ein historischer Fehler der regierenden europäischen Linken dieser EU-Verfassung auf der Spitzenebene zuzustimmen. Doch noch fataler wäre es, das Monopol der Kritik am Marktliberalismus den Nationalisten und Rechtsextremen zu überlassen. Die französische Linke hat in den vergangenen Monaten bewiesen, dass das auch anders geht. Damit hat sie die EU einen großen Sprung voran gebracht.“ (Dorothea Hahn in der taz, 31.05.2005)

„Mit seinem deutlichen Nein zum europäischen Verfassungsvertrag hat das rebellische Frankreich seiner Tradition als »politischer Nation par ecellence« alle Ehre gemacht. Es hat den alten Kontinent wachgerüttelt, den Völkern neue Hoffnung gegeben und die Eliten verstört. Es knüpft an seinen »historischen« Auftrag an und beweist durch den Mut seiner Bürger, dass es sehr wohl möglich ist, sich angeblichen wirtschaftlichen und politischen Sachzwängen zu entziehen. Dieses Nein stoppt den ultraliberalen Anlauf, überall in der Welt… ein einheitliches Wirtschaftsmodell durchzusetzen… Diese Votum war nicht nationalistisch motiviert, sondern mehrheitlich ein proeuropäisches Votum“ (Ignacio Ramonet, Le Monde diplomatique, Juni 2005)

Wie weiter nach dem Nein?

„Die dritte mögliche Antwort auf die Frage »Was nun?« wäre die für Europa kurzfristig ungünstigste, langfristig aber vielleicht tragfähigste: Nach mehreren verlorenen Referenden würde die EU zunächst in Stagnation verfallen, weil die EU der 25 oder mehr Mitgliedstaaten auf dem Status quo des Nizzaer Vertrags nicht gut funktionieren kann. Einziger Lichtblick dieses Worst-Case-Szenarios: Alle EU-Staaten, auch solche, die keine Referenden kennen, müssten in einen radikal neuen, offenen und für die Wünsche und Ängste der Menschen empfänglichen Dialog mit ihren Bürgern eintreten, um wieder Akzeptanz für dieses friedens- und wohlstandssichernde, dieses unverzichtbare Europa zu schaffen. So betrachtet, könnte das französische Non ein Weckruf für Europa sein!“ (Gisela Müller-Brandeck-Bocquet, Süddeutsche Zeitung, 02.06.2005)

„Es wäre fatal, die EU-Regierungschefs machten jetzt einfach weiter wie bisher…Mehr denn je, wird man sich an eine Europäische Union gewöhnen müssen, in der sich Staaten mit sehr unterschiedlicher Geschwindigkeit fortbewegen, mal allein, mal in kleinen Gruppen… Das Europa der 25 wird zwangsläufig ein Bund offener Staaten sein – und eine Gemeinschaft der Bürger, auf die ihre Eliten größere Rück­sicht nehmen müssen. Für diese Weichenstellung braucht man einsichtige, tatkräftige Staatschefs. Schröder, Chirac, Blair und Berlusconi fehlt dafür die Kraft.“ (Martin Klingst, Die Zeit, 02.06.2005)

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2005/3 Verantwortung der Wissenschaft, Seite