W&F 2021/2

Regelbasierte Weltordnung statt hegemonialem Wettstreit

von Paul Schäfer

Vor genau zwanzig Jahren widmete sich Wissenschaft und Frieden dem Thema »Recht ? Macht ? Gewalt« (Heft 2/2001). Die Bundeswehr hatte sich im Rahmen der NATO an einem Kriegseinsatz beteiligt. Der wurde 1999/2000 ohne Mandat des UN-Sicherheitsrates, also völkerrechtswidrig, gegen Rest-Jugoslawien geführt, mit dem vorgegebenen Ziel, die Unterdrückung der kosovo-albanischen Minderheit zu beenden. Die Befürworter*innen des Krieges bemühten wahlweise einen übergesetzlichen Notstand (?Not kennt kein Gebot?) oder redeten nebulös von einem ?werdenden internationalen Recht?.

Wiederum genau zehn Jahre danach erschien das Schwerpunktheft »Schafft Recht Frieden?« (2/2011). Auch dieses Heft behandelte die strikte Beachtung des Gewaltverbots der UN-Charta. Zugleich rückte das Spannungsfeld zwischen einer friedenssichernden nationalstaatlichen Souveränität und international verankerten und durchzusetzenden staatsbürgerlichen Rechten und Freiheiten stärker ins Blickfeld. 2005 hatte die UN-Generalversammlung die sogenannte Schutzverantwortung beschlossen (»Responsibility to Protect«), die vorsah, dass der UN-Sicherheitsrat im Falle von Völkermord und schwersten Kriegsverbrechen auch militärische Mittel einsetzen könne. Zuvor wurde mit dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH 2002) eine globale Strafgerichtsbarkeit etabliert.

Die Botschaft beider Hefte ist ziemlich klar: Recht entsteht nicht im luftleeren Raum, es hat auch mit gesellschaftlichen und internationalen Machtverhältnissen zu tun. Völkerrecht bewegt sich immer im Widerstreit zwischen dem Versuch der Staaten, ihre Machtinteressen und Privilegien zu sichern, und den elementaren Bedürfnissen der Menschen nach einer friedlichen und gerechten Welt. Gerade daher ist der »Kampf um das Recht« von elementarer Bedeutung, wenn es darum geht, die Prinzipien einer friedlichen Streitbeilegung und der internationalen Zusammenarbeit zum Wohle Aller dauerhaft und konsequent zu verankern.

Ausgangspunkt dieses Hefts und des beiliegenden Dossiers zur »Kooperativen Sicherheit« ist die Erosion einer regelbasierten Weltordnung, die aus den Fugen geratene Welt, die wir in den letzten Jahren verfolgen konnten. Mit den Fugen sind verbindliche Regeln und Normen gemeint, die in diplomatischen Aushandlungsprozessen zur Geltung gebracht werden sollen. Sie werden mit Recht auch als »zivilisatorische Leitplanken« bezeichnet. Viele dieser Institutionen der internationalen Ordnung (insbesondere das System der Vereinten Nationen) wurden zunehmend an den Rand gedrängt, internationale Verträge (nicht zuletzt im Bereich der Rüstungskontrolle und der Abrüstung) ausgehebelt, verbindliche Regeln des Miteinander in der Staatenwelt missachtet. Auch der Blick in die Zukunft verheißt nicht unbedingt Gutes. Wir befinden uns im Übergang zu einer multipolaren Welt, in der der Wettstreit um globale und regionale Vorherrschaft die Gefahr militärischer Zusammenstöße beträchtlich erhöht. Die neuen hegemonialen Konflikte sind auch deshalb bedrohlich, weil sie die überlebenswichtige globale Zusammenarbeit zur Lösung der globalen Probleme gefährden bzw. beeinträchtigen. Die Erfordernisse dieser Kooperation sind immens: Klima- und Umweltkrise, mächtige transnationale Unternehmen, die sich gesellschaftlicher Kontrolle entziehen, Covid-19-Pandemie, neue waffentechnologische Entwicklungen, digitale Überwachung und vieles mehr.

Die Weiterentwicklung und Reformierung der internationalen Rechtsordnung ist daher ein extrem wichtiger Bestandteil zukunftssichernder Politik. Neben der Erosion des Völkerrechts wendet sich das Heft daher auch den progressiven Entwicklungen zu. Mehr als dreißig Themenvorschläge hatten wir auf dem Tisch, als wir über dieses Heft beraten haben; Beleg für die vielfältigen Reformdiskussionen und -bestrebungen. Gemessen daran, kann uns das vorliegende Heft nur einen kleinen Einblick geben.

Hans-Joachim Heintze (der bereits 2001 zu den Autor*innen zählte) gibt eine Grundrichtung unserer Überlegungen vor: Vom »Völkerrecht der Souveränität« zum »Völkerrecht der Solidarität«. Damit ist die Messlatte hoch gelegt, die auch auf die Nachhaltigkeitsziele der UNO und deren Implementierung verweist. Andreas Schüller unterstreicht in seinem Beitrag die wichtige Rolle der Zivilgesellschaft bei der Mobilisierung und Weiterentwicklung des internationalen Rechts.

Alexander Benz befasst sich damit, wie deutsche Gerichte ? in der Umsetzung des Weltrechtsprinzips ? dazu beitragen können, dass schwere Verbrechen nicht länger straffrei bleiben, sondern auch an »entfernten Orten« geahndet werden können. Der Beitrag von Daniela Triml-Chifflard ist ein Beleg dafür, dass die künftige Rechtssetzung zur Bewahrung der Umwelt einen Horizont verlangt, der eurozentristisches Denken überschreitet und dabei auch Rechtsvorstellungen indigener Gemeinschaften würdigt. All dies zeigt: es ist vieles in Bewegung im Völkerrecht. Nicht nur aus diesem Grund sollten wir nicht weitere zehn Jahre warten, um die Zusammenhänge von Recht, Friedenssicherung und ziviler Konfliktbewältigung erneut zu thematisieren,

Ihr Paul Schäfer

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2021/2 Völkerrecht in Bewegung – Von Kritik, Krisen und Erneuerung, Seite 2