W&F 2017/3

Religionen als Friedensressource

Es kommt darauf an

von Michael A. Schmiedel

Der folgende Essay erzählt in einem kurzen Durchlauf durch die Religionsgeschichte, welche Ressourcen Religionen für ein friedliches Miteinander der Menschen bereithalten. Dabei wird herausgestellt, dass es letztlich auf uns Menschen und unsere Interpretationen unserer Religionen ankommt, wie sehr diese Ressourcen genutzt werden können und welche Reichweite sie haben. Je nach Interpretation helfen Religionen, den Egoismus zu überwinden und Friedfertigkeit und Gewaltlosigkeit zu fördern oder ganz im Gegenteil Fanatismus und Grausamkeiten hervorzubringen.

Nicht selten hört man den Satz: Ohne Religionen wäre die Welt friedlicher. Wer so spricht, verweist auf die vielen Religionskriege und die Verfolgung Andersgläubiger durch religiöse Fanatiker, wobei der Fanatismus oft für untrennbar von Religion erklärt wird. Wer einer Religion anhänge, die mit bestimmten Lehrinhalten, Verhaltensregeln und religiösen Praktiken verbunden sei, der könne ja gar nicht anders, als alles als falsch, irrig oder böse anzusehen, was dem nicht entspricht. Wer anders glaube, der glaube falsch, und wer nicht glaube, sei in den Augen vieler Gläubiger gar kein richtiger Mensch.

Ja, tatsächlich fällt es nicht schwer, in der Religionsgeschichte Belege für diese Behauptungen zu finden, und auch die Gegenwart ist voll von Gotteskrieger*innen, Fundamentalist*innen und religiösen Terrorist*innen. Nachrichten von Geistlichen, die sich sexueller Übergriffe auf Schutzbefohlene schuldig machten, ergänzen das negative Bild von Religion als einer unfriedlichen, letztlich menschenverachtenden Art, die Welt zu betrachten und zu erklären. Also wäre die Welt ohne Religion friedlicher? „Ich glaube nicht“, sagt Perry Schmidt-Leukel im ARD-Beitrag »Woran glaubt Deutschland«, „denn dann gäbe es ja immer noch uns“.1

Worauf Schmidt-Leukel da hinweist, ist das Faktum, dass das Unfriedliche, das auch in Religionen zu Tage tritt, seine Wurzeln in uns hat, in uns Menschen oder in der menschlichen Natur. Diese Natur bricht sich Bahn und sucht Wege, sich auszuleben, ob mit oder ohne Religion. Wir Menschen sind also nicht böse, weil wir gläubig sind, sondern Religionen enthalten Böses, weil sie menschlich sind. Nun wird aber jeder Mensch einwenden, dass wir Menschen doch nicht nur böse seien, und ja, das Wörtchen »nur« habe ich ja gar nicht verwendet, sondern schlage stattdessen das Wort »auch« vor. Wir Menschen sind gut und auch böse, und so enthalten auch unsere Religionen Gutes und auch Böses. Woher wir Menschen diese beiden Seiten unseres Charakters haben, sei dahingestellt. Man kann es mit Gott und Teufel oder mit natürlichen, evolutionär entwickelten Anlagen erklären oder andere Mythen bemühen – Fakt ist, wir sind fähig zu Gewalt und Grausamkeit, aber auch zu Friedfertigkeit und selbstloser Liebe.

Und so spiegelt es sich auch in den Religionen wider, ganz ungeachtet ihrer in den Augen der Gläubigen göttlichen, transzendenten, übernatürlichen Herkunft. Die Religionen mögen verstärken, was in uns ist, aber sie erschaffen es nicht. Wer zu Gewalt und Grausamkeit neigt, findet ihm*ihr genehme Rechtfertigungen in seiner Religion, und wer zu Friedfertigkeit und selbstloser Liebe neigt, ebenso. Und in beiden Fällen gibt diese Rechtfertigung dem schon vorhandenen Trieb eine Sanktion, eine Heiligung, die diese menschlichen Triebe mit einer Aura des Heiligen umgibt und sie über jede Kritik und jeden Zweifel erhaben macht.

Ein Gang durch die Religionsgeschichte

Nun möchte ich aber eine These wagen: Die Sanktionierung von Friedfertigkeit und selbstloser Liebe in den Religionen ist ursprünglicher als die von Gewalt und Grausamkeit. Diese These möchte ich gar nicht theologisch belegen, sondern anthropologisch und ein wenig philosophisch. Auch ohne die religiöse Annahme einer transzendenten Herkunft religiöser Lehren kann man davon ausgehen, dass Menschen, wann auch immer unsere Vorfahren damit anfingen, religiöse Ideen nicht entwickelt haben, um sich oder anderen zu schaden. Die ältesten als religiös zu interpretierenden Artefakte sind Gräberfunde aus dem Mittelpaläolithikum vor 34.000 bis 200.000 Jahren. Grabbeigaben zeugen davon, dass die Menschen an ein wie auch immer vorgestelltes Leben nach dem Tode glaubten. Wem man etwas zum jenseitigen Gebrauch mitgibt, dem will man aber nichts Böses. Durch die Grabbeigaben bezeugten die Hinterbliebenen dem Verstorbenen Liebe oder zumindest Respekt, also eine ihm Wohlwollen zollende Einstellung. Religion hatte, was ihre Ethik anging, also ihren Sitz im Miteinander von Menschen, das idealerweise so zu gestalten war, dass sie gut miteinander auskamen, auch über den Tod hinaus.

Die Menschengruppen, um die es damals ging, waren indes kaum größer als 50 bis 100 Individuen. Solidarität war zunächst innerhalb dieser kleinen Gemeinschaften zu pflegen, denn man war zum Überleben aufeinander angewiesen. Die Beisetzung von Verstorbenen und die Verehrung von Ahnen flocht eine Verbindung über die aktuell Lebenden hinaus und schuf eine Verpflichtung auch den Ahnen gegenüber, denen man das Leben letztlich verdankte. Das Verhältnis zu anderen Menschengruppen war sicher anders, sie waren Fremde, Andere, mit denen man aber auch möglichst friedlich lebte, zumindest so lange, wie es für die eigene Gruppe von Vorteil war. Oft waren sie aber auch Konkurrent*innen um Lebensressourcen, wie Wasser, Nahrung, Siedlungsplätze. In Krisensituationen schlug der Stress dann auch in Gewalt über, so wie auch innerhalb der Gruppe Streit ein Normalfall war, wie man es ja auch an Primaten beobachten kann. Wie religiöse Vorstellungen in solchen Konfliktsituationen zum Tragen kamen, ist mangels schriftlicher Überlieferungen nicht bekannt.

Die Verschriftlichungen, die in der zweiten Hälfte des ersten vorchristlichen Jahrtausends einsetzten, geben uns eine Vorstellung vom religiösen Leben dieser Jahrhunderte. Zugleich sind die ab dieser Zeit entstandenen religiösen Schriften zumindest teilweise noch heute Heilige Schriften für die Gläubigen der Religionen, die sich damals formierten. In diesen Schriften finden wir nun unter anderem auch religiös sanktionierte ethische Gebote, die Vergehen erwähnen, die vorkamen, obwohl sie verboten waren. Wären sie nicht vorgekommen, hätte man sie nicht zu verbieten brauchen, aber auch nach dem Verbot gab es immer wieder Übertretungen. Solche Taten waren zum Beispiel das Lästern der obersten heiligen Instanz, also der Götter, des einen Gottes, des Buddha oder der Ahnen, das ungerechtfertigte Töten von Menschen, das Stehlen, das Lügen oder sexuelle Handlungen außerhalb sanktionierter Rahmenbedingungen.

Religionen waren bis zur Mitte des ersten vorchristlichen Jahrtausends unlösbar mit ethnischen und/oder politischen Gesellschaften verbunden. Doch diese Gesellschaften hatten sich inzwischen vergrößert, Städte und Flächenstaaten waren entstanden und mit ihnen auch die Gruppe von Menschen, denen die Solidarität gelten sollte. Könige konzentrierten religiöse Verehrung manchmal auf sich oder ihr Amt, was für die von ihnen regierten Gesellschaften Stabilität und Frieden garantieren sollte. Andere Städte und Staaten galten noch nicht als dazugehörig, sondern als Konkurrenten oder gar Feinde, bestenfalls als Bündnispartner gegen gemeinsame Feinde. Aber der Handel verband sie auch miteinander, und befriedete Handelswege nützten allen Beteiligten.

Mit dem Buddhismus und dem Jainismus kamen die ersten bis heute existierenden, vom Ansatz her internationalen, also ethnisch und politisch nicht gebundenen Religionen in die Menschheit. Religionswissenschaftlich spricht man hier von Universalreligionen im Gegensatz zu den bis dato alleine üblichen Volksreligionen. Und doch waren auch sie nicht völlig unabhängig von den Staaten, auf deren Territorium sie existierten. Die Könige von Magadha und Kosala hatten den religiösen Orden zwar intern eine eigene Gerichtsbarkeit zugesprochen, doch durften diese keine Männer als Mönche aufnehmen, die vom staatlichen Gesetz verfolgt wurden. Die vom Buddha, aber sicher nicht nur von ihm, gelehrte Ethik indes galt gleichermaßen für Fremde wie für Landsleute, ja, er empfahl, überhaupt kein lebendes Wesen zu schädigen, also auch keine Tiere oder Geister, deren Existenz selbstverständlich vorausgesetzt wurde; andernfalls habe man mit negativen karmischen Folgen, etwa mit einer ungünstigen Wiedergeburt zu rechnen. Man solle nicht nehmen, was einem nicht freiwillig gegeben wurde, keinen Sex mit Abhängigen praktizieren, weder lügen noch unsinnigen Klatsch von sich geben und keine berauschenden Getränke zu sich nehmen. Diese fünf Verhaltensrichtlinien, die fünf Silas, bilden bis heute die Basis buddhistischer Ethik, egal in welchem Land die Buddhist*innen leben, wenn auch die Interpretationen dieser Regeln unterschiedlich ausfallen können, je nach buddhistischer Schulzugehörigkeit. Für Mönche und Nonnen wurden noch ausgefeiltere Ordensregeln, der Vinaya, entworfen.

Der zur gleichen Zeit aus der brahmanischen oder vedischen Religion entstandene Hinduismus beziehungsweise die Hindu-Religionen, als die man sie wegen ihrer Vielfalt heute lieber bezeichnet, erschufen mit dem Varnash­rama-System aus vier oder fünf Kasten und vier Lebensstadien für die männlichen Angehörigen der drei obersten Kasten ein vergleichsweise starres gesellschaftliches System, das für jede Kaste (Varna) und jedes Lebensstadium (Ashrama) eigene Verhaltensregeln vorsah. Gewalt wurde hinduistisch nie völlig abgelehnt, aber in eine Art Monopol der Kshatriyas, der Kriegerkaste, kanalisiert. Und doch entwickelte ein Kshatriya-Angehöriger, der unter dem Namen Mahatma Gandhi berühmt wurde, aus der eigentlich keineswegs pazifistischen Bhagavad Gita heraus eine Hochschätzung des Ahimsa-, also Nicht-verletzen-Prinzips, das ihn zu seinem passiven Widerstand gegen die britische Kolonialverwaltung motivierte. Man sieht an diesem Beispiel sehr deutlich, dass es viel mehr auf die Interpretation Heiliger Schriften ankommt als auf diese selber, denn Anhänger der religio-nationalistischen Hindutva-Bewegung, aus der sich auch die derzeitige indische Regierung rekrutiert, interpretieren die »Gita« ganz anders. Für sie ist sie eine Schrift der Hindus gegen andere, in Indien fremde Religionen.

In China erwuchsen ebenfalls um die Mitte des ersten vorchristlichen Jahrtausends aus der traditionellen, sehr an natürlichen und landwirtschaftlichen Rhythmen orientierten Religion der Konfuzianismus und der Daoismus. Immer wieder in Konkurrenz zueinander und zum aus Indien importierten Buddhismus, aber oft auch einander ergänzend, geradezu komplementär, motivierten sie die Chinesen zu einer Lebensweise, die an natur-spirituellen und traditionellen Gegebenheiten orientiert war. Die Menschen versuchten, sich den Gesetzen der Natur, so wie sie sie verstanden, anzupassen, damit sie mit ihr in Harmonie leben konnten. Und ständig hielten sie die Verbindung zu den Ahnen, die ein Teil des Kollektivs blieben. Noch heute werden ihnen Gebrauchsgegenstände und spezielle Geldscheine aus Papier geopfert, indem man diese verbrennt. Die Achtung vor dem Alter, vor Eltern und Vorgesetzen ist vor allem konfuzianisch eine Basis der Ethik.

Ebenso in dieser Zeit warnten Propheten des Volkes Israel, seinem Gott treu zu bleiben und sich nicht in den Gebräuchen anderer Völker zu verlieren. Die Thora wurde im und nach dem Babylonischen Exil verschriftlicht und auf die Zeit Mose zurückprojiziert, um eine ungebrochene Tradition zu betonen. Die Ethik der zehn Gebote war zunächst eine innerethnische, die das ethnospezifische Verhältnis zwischen Gott und Israel und unter den Israeliten regeln sollte. Keinen fremden Gott anzubeten, den Namen (des eigenen) Gottes zu ehren, den Schabbat als wöchentlichen Ruhetag zu halten, Vater und Mutter zu ehren, keine anderen Menschen – also zunächst vor allem Israeliten – zu ermorden, zu bestehlen, zu belügen, die eigene und die Ehe der anderen sowie das Eigentum anderer Leute zu achten bilden die Basis dieser Ethik, die dann schon in der Thora, aber auch im Talmud ausgebaut, kommentiert, interpretiert und vielfach diskutiert wurde und bis heute wird. Dass Menschen die göttlichen Gebote unterschiedlich verstehen und man im Diskurs miteinander dem Gemeinten näher kommt, als wenn man für sich alleine darüber brütet, ist eine Einsicht, die die Juden zu einer theologischen Streitkultur entwickelten, die in der gesamten Religionswelt der Menschheit ihresgleichen sucht. Auch diese anfänglich reine Volksreligion brachte Denker hervor, die die Grenzen sprengten und menschheitlich dachten, zum Beispiel indem sie dem mosaischen Bund Gottes mit dem Volk Israel den abrahamischen Bund mit allen semitischen Völkern und den noahischen mit allen Menschen vorschalteten. Und doch blieb das Judentum eine Religion der Geburtszugehörigkeit, von Ausnahmen der Konversion von anderen Religionen ins Judentum abgesehen.

Aus dem Judentum erwuchs das Christentum und bestimmte im Folgenden unsere Zeitrechnung. Die im Judentum postulierte Liebe des Menschen zu Gott und zum Mitmenschen, dem »Nächsten«, wurde bei Jesus von Nazareth zum Mittelpunkt der Ethik. In der Annahme, bis zum Jüngsten Tag sei es nicht mehr lange, richteten die Anhänger*innen Jesu und die ersten Christ*innen ihr Leben auf das für sie Wesentliche aus, nämlich die Vorbereitung auf das Endgericht und das ewige Leben. Grenzen der ethnischen Zugehörigkeit wurden dabei unwichtig. Allein wichtig wurde der Glaube und eine an ihm orientierte Lebensweise. Doch im Laufe der Jahrhunderte wurde vor allem das westliche Christentum eine der Welt sehr zugewandte Religion, die in Form von Mönch- und Nonnentum, von Mission und Caritas Landschaften für die Menschen umformte, diese auf die nächste Welt vorbereitete, ihnen aber auch im Diesseits seelische und körperliche Fürsorge zukommen ließ. Calvins Prädestinationslehre lehrte eine Vorherbestimmung aller Menschen für Himmel oder Hölle, die nicht durch Werke verdient werden könne, vielmehr das Ergebnis reiner Gnade Gottes, aber am wirtschaftlichen Wohlstand erkennbar sei. Sie ermunterte die Gläubigen zu harter ökonomischer Arbeit, führte also durch die Hintertür die eigentlich abgelehnte Werkgerechtigkeit doch wieder ein und beförderte dadurch das Entstehen des Kapitalismus. Das östliche Christentum dagegen legte seinen spirituellen Schwerpunkt auf eine Vergeistigung des Menschen durch Kontemplation und Sakramente.

Im 7. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung verband der Islam abrahamitisches Erbe und arabisches Stammesdenken zu einem kompromisslosen Monotheismus, der einen Gott lehrte, der vom Menschen absolute Hingabe erforderte und dem Diesseits nur die Rolle der Vorbereitung auf das Jenseits zubilligte. Solidaritätsverpflichtungen galten zunächst anderen Gläubigen der eigenen und verwandter Religionen gegenüber, waren aber von Anfang an unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit. Die Selbsterziehung zu einem guten, Gott gehorsamen Menschen spielte als große Anstrengung, als großer Dschihad, eine zentrale Rolle. Völlig pazifistisch war der Islam aber genauso wenig wie das Judentum oder der Hinduismus, sondern Verteidigung des Lebens, der Familie und des Glaubens waren als kleiner Dschihad erlaubt und mitunter auch Pflicht.

Allgemeine Erkenntnisse

Die religiöse Kreativität der Menschen hörte mit diesen Religionen keineswegs auf, sondern formte diese immer wieder um und ließ auch noch viele neue entstehen, auf die ich hier aus Platzgründen nicht näher eingehen kann. Stattdessen will ich noch ein paar allgemeine Worte versuchen.

Bei allen Unterschieden zwischen den Religionen lassen sich in Bezug auf unsere Fragestellung, welche Friedensressourcen sie uns Menschen bieten, aber auch ein paar Gemeinsamkeiten nennen:

Erstens wird überall der Mensch in größere Zusammenhänge gestellt, denen er nur gerecht werden kann, wenn er sein Ego relativiert, also in Beziehung zu eben diesen größeren Kontexten stellt. Egal ob die Existenz einer ewigen Seele gelehrt wird oder nicht, ob der Hauptfokus auf dem Diesseits oder dem Jenseits liegt, ob ein Gott oder mehrere Gottheiten geglaubt werden oder das Konzept »Gott« keine heilsrelevante Größe darstellt, immer geht es darum, das Ich einzubetten in und auszurichten auf Wichtigeres und Egoismus und Egozentrismus zu überwinden. Überall finden wir spirituelle Übungswege, die dem Gläubigen dabei helfen, ihm aber auch einiges abverlangen. Der friedliche oder gar fürsorgliche Umgang mit anderen Menschen, die Ethik, die Sittlichkeit ist immer ein wichtiger Teil dieses Weges.

Zweitens hängt sehr viel oder gar alles davon ab, wie der oder die einzelne Gläubige die Lehren der eigenen Religion interpretiert. Dazu gehört auch die Frage, wer der Nächste, wer Freund, wer Feind ist, ob die Verpflichtung zu Solidarität, Nächstenliebe, Menschenliebe, Mitgefühl an den Grenzen der eigenen ethnischen oder religiösen Gemeinschaft aufhört oder über sie hinausgeht, ob Andersgläubige auch Gläubige oder Ungläubige sind, ob man die eigene Religion mit Gewalt verbreiten darf oder nicht oder ob man sie vielleicht gar nicht verbreiten darf und so weiter. In allen Religionen gab und gibt es viele einander widersprechende Interpretationen. Hier sind die Intelligenz, die Vernunft, auch die emotionale Intelligenz und das Verantwortungsbewusstsein und -gefühl aller Gläubigen und Praktizierenden in den und außerhalb der Religionsgemeinschaften gefragt. Dazu muss natürlich auch jeder für sich klären, wie autonom er beim Finden der richtigen Interpretation sein darf oder wieviel er unhinterfragt übernehmen muss, wobei man das »darf« und das »muss« hier auch austauschen kann. Was einer als Freiheit empfindet, zum Beispiel wählen zu dürfen, empfindet ein anderer als Zwang, zum Beispiel wählen zu müssen. Auch Gehorsam gegenüber Autoritäten empfindet mancher als Zwang, ein anderer aber als Freiheit von der Last der eigenen Verantwortung.

Die vielen zu beobachtenden Gewaltakte im Namen einer Religion kann man so gesehen einerseits als eine Verweigerung ansehen, das eigene Ich in größere Zusammenhänge zu setzen und den Egoismus zu überwinden, andererseits aber findet gerade dies doch statt, aber es werden andere Schlüsse daraus gezogen. Nicht wenige religiös motivierte Gewalttäter*innen opfern sich dabei auch selber, was ja normalerweise das Gegenteil von Egoismus ist. Es sei denn, man projiziert die eigene egoistische Gier nach Glück und Heil so ins Jenseits, dass man meint, grade dieses durch Gewaltakte erreichen zu können. Die hier wichtige Unterscheidung kann man von außen aber niemandem abnehmen, da ist innerreligiöse theologische Arbeit vonnöten, aber auch wirtschaftliche und politische Akteure sind gefragt, für eine friedliche Interpretation günstige Rahmenbedingungen zu schaffen. Wer sich wirtschaftlich und politisch wohl fühlt, neigt selten zu Gewalt, auch nicht zu religiös motivierter.

Ich beende diesen Essay mit einem Gedanken von Boethius, der sich im ostgotisch besetzen Italien des 6. Jahrhunderts mit Hilfe der Philosophie mit seinem Schicksal versöhnte, unschuldig eingesperrt zu sein. Seinen Groll auf die Bösen, denen es doch scheinbar so gut gehe, überwand er mit dem Gedanken, dass doch eigentlich jeder das Gute wolle. Das sei der sehnlichste Wunsch aller Menschen. Wer nun aber Böses tue, um das Gute zu erreichen, erreiche das Gegenteil, nämlich das Böse. Und so erreiche ein solcher Mensch sein eigenes Ziel nicht, auch wenn es ihm vordergründig gut gehe. Boethius gehe es nun vordergründig schlecht im Gefängnis, aber sein Ziel, das Gute, habe er erreicht, also gehe es ihm doch richtig gut. Das ist ein Beispiel, wie es auch in vielen Religionen gelehrt wird, sein eigenes kleines Ich in größere Zusammenhänge zu stellen und so den eigenen Glauben zu einer Ressource des Friedens zu machen.

Anmerkung

1) Interview in dem Film »Was glaubt Deutschland? (1): Die Gewalt, der Frieden und die Religionen« von Bernd Seidl und Claus Ha­nischdörfer, erstmals ausgestrahlt im Ersten am 13.6.2017, zur Verfügung in der ARD-Mediathek bis zum 12.06.2018. Die zitierte Stelle kommt in der Minute 43.

Literatur

Die folgende Liste zeigt eine Auswahl der im Hintergrund meines Denkens für diesen Essay mitschwingenden Literatur:

Antes, P. (2006): Grundriss der Religionsgeschichte – Von der Prähistorie bis zur Gegenwart. Stuttgart: Kohlhammer, Theologische Wissenschaft 17.

Berger, P.L. und Luckmann, T. (2010): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt a.M.: S. Fischer, 23. Aufl. (1. Aufl. 1969).

Bischof, F.X.; Bremer, T.; Collet, G.; Fürst, A. (2012): Einführung in die Geschichte des Christentums. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Boethius (2010): Trost der Philosophie. Hrsg. von Marie Luise Gothein, aus dem Lateinischen von Eberhard Gothein. Köln: Anaconda.

Bowker, J. (Hrsg.) (1999): Das Oxford-Lexikon der Weltreligionen. Für die deutschsprachige Ausgabe übersetzt und bearbeitet von Karl-Heinz Golzio. Düsseldorf: Patmos.

Clart, P. (2009): Die Religionen Chinas. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht/UTB, Studium Religionen.

Deutsche Vereinigung für Religionswissenschaft (Hrsg.) (2003): Zeitschrift für Religionswissenschaft Nr. 11, Religion und Gewalt: Diagonal-Verlag, Marburg. Mit Beiträgen von Kollmar-Paulenz, K.; Prohl, I.; Bretfeld, S.; Schlieter, J.; Deeg, M.; Kleine, C.

Eliade, M. (1992/93): Geschichte der religiösen Ideen. 4 Bände. Freiburg, Basel, Wien: Herder (1. Auflage 1978-1983).

Freiberger, O.; Kleine, C. (2011): Buddhismus – Handbuch und kritische Einführung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Hasenfratz, P. (1990): Die antike Welt und das Christentum. Menschen, Mächte, Gottheiten im römischen Weltreich. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Hick, J. (2002): Gott und seine vielen Namen. Frankfurt a.M.: Lembeck (2. Auflage).

Jaspers, K. (1949): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. München: Piper.

Küng, H.(1990): Projekt Weltethos. München: Pieper.

Meier, J. (2007): Judentum. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Mensching, G. (1959): Die Religion – Erscheinungsformen, Strukturtypen und Lebensgesetze. Stuttgart: Kurt E. Schwab.

Michaels, A. (1998): Der Hinduismus. München: Beck.

Müller-Karpe, H. (1998): Grundzüge früher Menschheitsgeschichte – Anfänge bis 3. Jahrtausend v. Chr. 5 Bde. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Schimmel, A. (2010). Der Islam – Eine Einführung. Stuttgart: Reclam.

Tworuschka, M. und U. (2007): Die Welt der Religionen. Reihe in 6 Bänden. Gütersloh, München: Wissen Media Verlag.

von Foerster, H.; von Glasersfeld, E.; Hejl, P.M.; Schmidt, S.J.; Watzlawick, P. (2003): Einführung in den Konstruktivismus. München: Pieper, 7. Aufl.

Dr. Michael A. Schmiedel ist Religionswissenschaftler und tätig als Lehrkraft für besondere Aufgaben in der Abt. ev. Theologie der Universität Bielefeld. Er ist ehrenamtlich tätig u.a. bei Religions for Peace, beim Bonner Institut für Migrationsforschung und interkulturelles Lernen und im Interreligiösen Friedensnetzwerk Bonn und Region sowie als Musikjournalist für die Zeitschrift «Folker«.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2017/3 Ressourcen des Friedens, Seite 24–27