W&F 2021/1

(Re)thinking Time and Temporalities

Digitale Zentrumstage, Zentrum für Konfliktforschung, Marburg, 29.-31. Oktober 2020

von Alina de Luna Aldape, Alina Giesen, Pia Falschebner, Sara Kolah Ghoutschi und Miriam Tekath

Wie beeinflussen Zeit und Zeitlichkeit Konfliktdynamiken und Friedensprozesse und wie prägen Zeitlichkeitsvorstellungen unser Verständnis eben dieser Dynamiken und Prozesse ? Wie können Zeit und Zeitlichkeit verstanden und analytisch stärker für die Friedens- und Konfliktforschung nutzbar gemacht werden ? Wie können temporale Aspekte kritische Forschungsperspektiven bereichern ?

Mit diesen und anderen spannenden Fragen setzten sich die rund 180 Konferenzteilnehmer*innen der diesjährigen Zentrumstage »(Re)thinking Time and Temporalities in Peace and Conflict« im Rahmen eines umfangreichen und abwechslungsreichen Programms auseinander. Besonders erfreulich an diesen Zentrumstagen war das durchweg große Interesse von Wissenschaftler*innen in unterschiedlichen Stadien ihrer akademischen Laufbahn. Dabei fanden die Zentrumstage auch international großen Zuspruch mit Teilnehmer*innen aus insgesamt 20 Ländern.

Aufgrund der aktuellen Covid-19-Pandemie fanden die diesjährigen Zentrumstage digital statt. Dies ging mit Herausforderungen einher, eröffnete gleichzeitig aber auch neue Chancen : Wie die geschäftsführende Direktorin des Zentrums für Konfliktforschung, Susanne Buckley-Zistel, in ihren einleitenden Worten feststellte, konnte durch die Verlagerung der Konferenz in den digitalen Raum einer größeren Anzahl an Teilnehmenden aus verschiedenen Kontexten die Konferenzteilnahme ermöglicht werden.

Trotz ihrer Allgegenwärtigkeit in (Post-)Konflikt-Kontexten und ihrer Bedeutung für das Verständnis von Konflikt- und Friedensprozessen, ist die explizite Beschäftigung mit temporalen Dimensionen in der Friedens- und Konfliktforschung meist marginal. Diesem bisher noch nicht ausgeschöpften Potenzial nahm sich die Konferenz an. Dabei wurde deutlich, wie produktiv temporale Perspektiven auch für Forschungsvorhaben sein können, in denen das Thema Zeitlichkeit nicht im Zentrum des Interesses steht.

Herrschaftskritische Konzeptualisierungen

Die Keynote-Vorträge der Konferenz beleuchteten, jeweils auf ihre Weise, das Zusammenspiel von Zeitlichkeit und Macht. In ihrer eröffnenden Keynote »Chronopolitics and temporal resistance in peace and conflict« erörterte Natascha Mueller-Hirth (Aberdeen), wie Zeitlichkeit zu einer Art des Regierens werden kann. Am Beispiel von Reparationen in Kenia zeigte sie auf, wie die Produktion von temporaler Ungewissheit als staatliche Zeitpolitik zum Einsatz kommt, um Opfer zu disziplinieren sowie Reparationen statt als grundlegendes Recht als eine Geste des guten Willens darzustellen. Gleichzeitig erläuterte sie aber auch, dass Widerstand gegen diese dominante Zeitlichkeit möglich ist und welche Widerstandspraktiken sich auf Seite der Betroffenen formieren.

Im zweiten Teil ihres Vortrages appellierte Natascha Mueller-Hirth am Beispiel von Konfliktbearbeitung an der Schnittstelle von Klimawandel und Entwicklung dafür, auch Gewaltphänomenen, die nicht der vorherrschenden Logik von Spektakel und Unmittelbarkeit genügen, mehr Beachtung zu schenken. Hier arbeitete sie ebenfalls heraus, wie Macht in Narrativen über Zeitlichkeit verortet und durch diese ausgeübt wird.

Zeit als solche sei, so Natascha Mueller-Hirth, nie neutral. Vielmehr sei sie immer gleichzeitig von Ungleichheiten geprägt und wirke ihrerseits wiederum auf Ungleichheiten ein.

Annick Wibben (Stockholm) schloss die dreitägige Konferenz mit ihrem Vortrag »Feminist Narratives of Peace & War : Conceptualizing Violence as Continua«. Einprägsam appellierte sie an die Teilnehmenden, Gewalt über Kontinuitäten hinweg zu denken und in Analysen von Gewalt verschiedene, sich überlagernde Dominanzstrukturen zu beachten. Dabei betonte sie insbesondere den Wert von feministischen und intersektionalen Perspektiven für die Analyse von Zeit und Zeitlichkeit und warb für die Betrachtung von Gewalt als etwas Gemachtem, damit aber auch als etwas potenziell Aufhebbarem.

Theoretische und praktische Perspektiven auf Zeit und Zeitlichkeit

Auch in den Panels wurden aus verschiedenen Forschungsfeldern heraus eine große Vielfalt an Themen und Konzepten behandelt und bereichernde Denkanstöße gegeben. Dabei zog sich die Frage, wie Forschende über eine zu vereinfachende, zeitlich lineare Betrachtung von Konflikt- und Friedensprozessen hinausgehen oder deren Komplexität besser (auch konzeptionell) gerecht werden können, wie ein roter Faden durch viele Beiträge.

Ingrid Samset lud beispielsweise dazu ein, sich vom Verständnis von politischen Transitionen und Aufarbeitungsprozessen als von vornherein festgelegten, eindimensional ablaufenden Prozessen mit einem klaren Start- und Zielpunkt zu lösen. Stattdessen bedarf es einer ergebnisoffeneren Konzeption, die sich von Beginn an besser an sich wandelnde Umstände sowie Erwartungen und Prioritäten anpassen kann.

Gleichzeitig schärfte die Konferenz den Blick dafür, dass Transitionen durch die Wechselwirkungen von geplanten und ungeplanten Prozessen beeinflusst werden und simultan ablaufende, gegensätzliche Entwicklungen beinhalten können. Beide Faktoren gilt es, in die Analyse mit einzubeziehen. Dieser Aspekt wurde etwa im Vortrag von Mariam Salehi herausgear­beitet.

Hinsichtlich der Ausgestaltung von »Transitional Justice«-Prozessen wurde darüber hinaus klar, dass nicht selbstverständlicherweise von homogenen Gerechtigkeitsverständnissen und -forderungen innerhalb einer Opfergruppe ausgegangen werden kann. Vielmehr sind diese, wie etwa Julie Bernath in ihrem Beitrag erörterte, in hohem Maße abhängig von Faktoren wie Lebensbedingungen, momentanen Prioritäten und Bedürfnissen, oder generationeller Zugehörigkeit und befinden sich somit in einem steten Prozess des Wandels und der Anpassung – abhängig von Zeit und Ort. Diese Komplexität von Gerechtigkeitsverständnissen gilt es beim Sequenzieren von »Transitional Justice«-Mechanismen zu beachten.

Die Bedeutung zeitlicher Aspekte wurde auch bezüglich der besonderen Rolle von Erinnerung und intergenerationellen Dynamiken in Konflikten und Aufarbeitungsprozessen offensichtlich : Wie etwa Bertie Kangoya’s Vortrag zeigte, überlagern sich insbesondere in langanhaltenden Konflikten Erinnerungen an Gewalterlebnisse der Vergangenheit mit Gewaltkontinuitäten in der Gegenwart. Somit wird die Gewalt­erfahrung ständig neu aktualisiert. Dabei kommt Trauma eine besondere Bedeutung zu : Trauma kann in seiner Gewalthaftigkeit gleichzeitig sowohl als zeitlich disruptive Erfahrung, als auch zeitlich ungebrochenes Element, welches bis in die Gegenwart hineinragt und über Generationen hinweg weitergegeben wird, verstanden werden.

Schließlich müssen auch Vorstellungen von der linearen Entwicklung kollektiver politischer Mobilisierung, etwa im Rahmen von Protesten, und rein rational-strategische Erklärungen dieses Phänomens hinterfragt werden. So zeigte etwa der Beitrag von Felix Schulte auf, wie unerwartete Trigger­events kollektive Emotionen bündeln sowie politische Mobilisierungsprozesse und Gewalteskalationen beeinflussen.

Fazit

Mit solchen und weiteren Diskussionspunkten trugen die Zentrumstage dazu bei, das Verständnis von Zeit und Zeitlichkeit zu vertiefen und schufen einen wertvollen Raum für Gespräche darüber, wie dieser elementare Fokus in der Friedens- und Konfliktforschung in Zukunft weiter verstärkt werden kann.

Insgesamt wurde deutlich, dass die verschiedenen Arten, wie Konflikt und Frieden zeitlich geordnet werden, Auswirkungen auf die Auffassungen des Gegenstandsbereiches haben. Zeitliche Dynamiken innerhalb von Konflikten wie Beschleunigung oder Verlangsamung, oder das Aufeinandertreffen unterschied­licher, potenziell konfligierender Zeitlinien in einer Konfliktarena, stellen wertvolle Bezugspunkte für die Analyse von Konfliktsituationen dar.

Darüber hinaus können »Zeitlichkeitskonstrukte« wesentlichen Einfluss auf die Fortsetzung, Transformation oder das Wiederaufleben von Konflikten haben. Dies ist beispielsweise dann wichtig, wenn Ideen von Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem selbst strittig sind, oder wenn unterschiedliche Auffassungen darüber vorliegen, ob ein gewaltsamer Konflikt als (erfolgreich) beendet oder als fortlaufend zu verstehen ist. Nicht zuletzt ist dieser Einfluss sichtbar, wenn Uneinigkeit besteht hinsichtlich der zeitlichen Begrenzung beziehungsweise Offenheit eines Aufarbeitungsprozesses.

Alina de Luna Aldape, Alina Giesen, Pia Falschebner, Sara Kolah Ghoutschi und Miriam Tekath

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2021/1 »Friedensmacht« EU ? – Zwischen Diplomatie und Militarisierung, Seite 51–52