W&F 2011/4

Revolution in Tunesien

Wie Kleptokratie und IWF die Würde rauben

von Werner Ruf

Am Beispiel Tunesien, wo die Aufstandsbewegung in der arabischen Welt begann, zeigt sich wie in einem Brennglas die Problematik und die tönerne Basis der arabischen Regime, die sich ganz offenkundig nur so lange halten konnten, wie sie vom Westen nahezu bedingungslos unterstützt wurden.

Auslöser des Aufstands in Tunesien war die Selbstverbrennung des arbeitslosen Informatikers Mohamed Bouazizi in der westtunesischen Stadt Sidi Bouzid. Als fliegender Händler verkaufte er, um seine achtköpfige Familie zu ernähren, mittels eines Handkarrens Obst und Gemüse. Die Polizei, die sich selbst ein Zubrot verdienen musste, erpresste von ihm Strafgebühren, die er nicht bezahlen konnte. Verzweifelt übergoss sich Bouazizi mit Benzin und zündete sich an. Im Gegensatz zu früheren Vorfällen ähnlicher Art kam es diesmal zu massiven Protesten der Bevölkerung. Die Sicherheitskräfte schossen wahllos in die Menge. Es gab Tote, die Proteste weiteten sich aus auf weitere Orte, auf die ganze Region und schließlich auf das ganze Land, mit einer Signalwirkung in die anderen arabischen Länder.

Der Aufruhr in Tunesien war keineswegs eine unvorhersehbare Eruption. Im Januar 2008 war es in den Phosphatminen von Redeyef im südlichen Gouvernorat Gafsa zu Protesten der Arbeiter gekommen, die acht Monate dauerten. Ein vom Internationalen Währungsfonds (IWF) erarbeiteter Strukturanpassungsplan hatte zur Reduzierung der Belegschaften von 11.000 auf 5.000 Arbeiter in dieser Armutsregion des Landes geführt.1 Die Proteste kulminierten in der brutalen Niederschlagung der Demonstrationen und in drakonischen Urteilen gegen die »Rädelsführer«.2

Ganz ähnlich in Ägypten. Schon 1991 hatte die Regierung mit dem IWF ein Strukturanpassungsprogramm abgeschlossen; bis Mitte 2002 waren 190 Betriebe privatisiert.3 Privatisierungen, also die Übernahme der Betriebe durch die mit dem System verbündeten Fraktionen der Bourgeoisie, der Raub von Lohn und sozialen Errungenschaften, und die Gründung von Staatsgewerkschaften führten zur Bildung unabhängiger Gewerkschaften und gewerkschaftlichen Bündnissen, die von Lehrern und Beschäftigten im Gesundheitswesen über Staatsbedienstete bis zur Metall-, Chemie- und Automobilindustrie reichten.4 Ein weiteres Signal der allgemeinen Unzufriedenheit hatte 2004 die so genannte Kifayah-Bewegung (von kifayah = es reicht) gesetzt, die sich gegen die damals anstehende Wiederwahl des Präsidenten Hosni Mubaraks, gegen die sein Regime kennzeichnende Korruption und den Nepotismus wandte.

Kleptokratie und Neoliberalismus.

In Tunesien hatten Präsident Zin Abdin Ben Ali und der Familienclan seiner zweiten Ehefrau Leila Trabelsi ein das gesamte Land umfassendes kleptokratisches System entwickelt.5 Die kriminellen Absichten des Präsidenten wurden sogar in der Verfassung festgeschrieben. Ihr Artikel 41 wurde am 26. Mai 2001 erweitert.6 Hinfort genoss er strafrechtliche Immunität „auch nach Ende seiner Funktionen für Taten, die er während der Ausübung seines Amtes begangen hat“.

Demgegenüber wurden IWF und Weltbank nicht müde, die »Erfolgsstory« Tunesien zu feiern und das Land – ebenso wie Ägypten – als Musterbeispiel erfolgreicher Strukturanpassung zu bezeichnen.7 Der vom Weltwirtschaftsforum herausgegebene Global Competitiveness Report kürte Tunesien mehrfach, zuletzt 2009, zum wettbewerbsfähigsten Land Afrikas8, und die bundeseigene Germany Trade and Invest (vormals Bundesstelle für Außenhandelsinformation, bfai) bescheinigte Tunesien ein kontinuierliches Wachstum von knapp 4% während der vergangenen zehn Jahre.9 Nachdrücklich wird darauf verwiesen, dass „die Lohnkosten in Tunesien im internationalen Vergleich günstig (sind)“, dies vor allem weil „Erhöhungen bei Löhnen […] durch eine kontinuierliche Abwertung des tunesischen Dinar ausgeglichen werden konnten“. Das heißt: Nominell stiegen zwar die Löhne, die Kaufkraft aber sank.

Die tunesische Wirtschaft basierte zu Zeiten des Vorgängerpräsidenten Burgiba vor allem auf Staatsbetrieben. Ben Ali privatisierte diese Betriebe, weshalb das Land regelmäßig Bestnoten des IWF erhielt. Die Entscheidung über die Ernennung der Firmenleitungen lag beim Kabinett oder beim Präsidenten selbst. An die Spitze der Unternehmen wurden somit getreue Lakaien des herrschenden Clans gesetzt, meist Mitglieder der angeheirateten Trabelsi-Familie. Banken – oft zusammen mit Kapital aus den Golfstaaten gegründet – sprossen wie Pilze aus dem Boden, im Aufsichtsrat saßen stets Vertreter des vielköpfigen Trabelsi-Clans, die Brüder, Söhne, Vettern und Ehemänner der Töchter der Präsidenten-Gattin. Ihnen gehörten Firmen und entscheidende Anteile an Hotels, Fluglinien, Rundfunk- und Fernsehsendern, Supermarktketten. Leilas Bruder Belhassan war Chef der Bank von Tunesien, was die illegalen Transfers der Familie ins Ausland erleichterte.10 Die Familie scheute auch nicht davor zurück, von privaten Immobilien Besitz zu ergreifen, deren rechtmäßige Bewohner bisweilen von Schlägertrupps vertrieben wurden.11 Leilas Sohn Imed gab gezielt den Diebstahl von Luxusyachten in Auftrag, die aus korsischen Häfen ins »sichere« Tunesien »überführt« wurden.12

Eine besonders lukrative Einrichtung war der 1993 eingerichtete »Fonds für nationale Solidarität«, nach seiner Kontonummer »26/26« genannt. Die auf das Konto eingezahlten »Spenden« waren nicht freiwillig, sondern Unternehmen, Staatsbedienstete und Freiberufler wurden auf der Grundlage einer Tabelle veranlagt. Wer nicht zahlte, wurde bestraft: Unternehmen mit Steuernachzahlungen, Staatsbedienstete mit Entlassung. Der Fonds stand allein dem Präsidenten zur Verfügung, der daraus bisweilen – öffentlichkeitswirksam inszeniert – Wohltaten an Arme verteilte. Allein die jährlichen Einnahmen aus dem Fonds werden auf rund 30 Millionen Euro geschätzt.13

Ihren letzten Coup landete Leila Trabelsi drei Tage vor ihrer Flucht, als sie die Goldreserven des Landes stahl und nach Dubai verbrachte, immerhin 1,5 Tonnen Gold im Wert von rund 45 Mio. Euro. Persönlich wurde sie am 11. Januar 2011 bei der tunesischen Zentralbank vorstellig und verlangte die Herausgabe des Goldes. Als der Zentralbankpräsident Leilas Ansinnen zunächst ablehnte, rief sie ihren Gatten an. Ben Ali selbst erteilte schließlich dem Direktor am Telefon den Befehl, das Gold herauszurücken.14

Jenseits der von „Ben Ali Baba und den vierzig Trabelsis“ (so der tunesische Volksmund in Abwandlung des klassischen arabischen Märchens) organisierten Kriminalität hatte die Staatsspitze ein System der Korruption und des Nepotismus entwickelt, das dazu führte, dass nur loyale Anhänger des Systems, von der Polizei bis zu den Universitäten, vom Zoll bis zu den verschiedenen Strukturen der Verwaltung, vom privaten Unternehmertum bis zur Führung der Einheitsgewerkschaft UGTT, Spitzenpositionen erhielten.15

Entscheidenden Anteil am Niedergang der tunesischen Wirtschaft und vor allem an der Verschärfung der sozialen Antagonismen in der Gesellschaft hatten nicht zuletzt die westlichen Regierungen und vor allem die internationalen Finanzorganisationen, die nicht müde wurden, das »tunesische Modell« über den grünen Klee zu loben. Kein Geringerer als Dominique Strauss-Kahn, der damalige Direktor des IWF, erklärte im November 2008 in Tunis, dass die wirtschaftliche Situation des Landes dank der „weisen“ monetären Politik seiner Regierung gut sei.16 Tunesien hatte, wie später auch andere Mittelmeerländer, am 1.3.1998 mit der Europäischen Union ein so genanntes Europa-Mittelmeerabkommen abgeschlossen, das binnen zwölf Jahren zur vollständigen Verwirklichung einer Freihandelszone mit der EU führen sollte. Ausgenommen bleiben aufgrund des Drucks der europäischen Agrarlobby die Agrarprodukte, was eine schwere Behinderung für die Agrarexporte dieser Länder darstellt. Hinzu kommt, dass die kleineren und mittleren Betriebe der Konkurrenz billiger europäischer Massenprodukte oft nicht standhalten können. In Tunesien waren Betriebsschließungen und Entlassungen in etwa einem Drittel dieser Betriebe die Folge. Demgegenüber genießen europäische Investoren staatlich garantierte Steuerfreiheit und freien Gewinntransfer über mehrere Jahre.17 Die Akkumulation wird ferner behindert durch die Bildung von »Freien Produktionszonen«. In diesen speziell ausgewiesenen Gebieten kommt die nationale Arbeits- und Sozialgesetzgebung nicht zur Anwendung. Sie ermöglichen daher dem dort investierenden ausländischen Kapital im Vergleich zu den inländischen Unternehmen enorme Extraprofite.

So behinderte die Außenorientierung der Wirtschaft, zu der auch der Tourismus gehört, systematisch die Entwicklung einer auf die Bedürfnisse des lokalen Markts orientierten Produktion und verstärkte die Außenabhängigkeit des Landes. Korruption und Kleptokratie wirkten sich zusätzlich hemmend auf die tunesischen Betriebe aus. Einer Analyse des tunesischen Arbeitgeberverbandes UTICA (Union Tunisienne de l’Industrie, du Commerce et de l’Artisanat) zufolge standen 40% der tunesischen Betriebe unter Kontrolle des Trabelsi-Clans.18 Die Studie kommt zu dem Schluss, dass viele Betriebe nicht investierten oder modernisierten, um nicht zum Zielobjekt der Mafia der Präsidenten-Gattin zu werden. Hätten diese Betriebe sich unternehmerisch und marktkonform verhalten (können), hätten rund 200.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden können – eine bemerkenswerte Zahl in einem Staat mit zehn Millionen Einwohnern.19

Die tatsächliche Situation der tunesischen Wirtschaft musste den internationalen Finanzagenturen wie auch den entsprechenden Gremien der EU bekannt sein. Immerhin äußerte selbst die Germany Trade and Invest (gtai) Zweifel an der Verlässlichkeit der von den tunesischen Behörden gelieferten Zahlen, die wiederum Grundlage für die »Erfolgsstory« waren.20 Den katastrophalen Zustand der tunesischen Wirtschaft und das blutsaugerische System der Präsidentenfamilie belegt sogar eine Studie, die von IWF und Weltbank in Auftrag gegeben wurde. In den Jahren 1999 bis 2008 wurden mehr als zehn Mrd. Euro aus dem Umkreis der Präsidentenfamilie auf ausländische Konten transferiert.21 Die Summe entspricht ziemlich genau den gesamten Auslandsschulden des Landes. Bewusst falsch waren die offiziellen Angaben betreffend das Ausmaß der Armut in Tunesien. Rund 15% der tunesischen Bevölkerung leben unter der absoluten Armutsgrenze von zwei US$ pro Tag, während das Regime diesen Prozentsatz mit 4% angegeben hatte. Der Maßstab für absolute Armut war einfach von zwei US$/Tag auf 0,8 US$/Tag abgesenkt worden.22

Trotz dieser klaren Befunde scheint die EU aus dem Desaster der sozialen – und letztlich politischen – Auswirkungen ihrer Politik nicht lernen, bzw. weiterhin allein die Interessen europäischer Investoren bedienen zu wollen. Dies belegen die gebetsmühlenartig wiederholten Erklärungen von europäischen Ministern und EU-Vertretern bei ihren Reisen nach Tunis, wonach jetzt verstärkte europäische Investitionen – unter den Bedingungen des oben erwähnten Freihandelsabkommens – die Situation stabilisieren sollen. Auch die deutsche Politikberatung argumentiert in diese Richtung und fordert, dass europäische Firmen, die weiterhin in Tunesien investieren wollten, zusätzlich zu den schon vorhandenen Vergünstigungen von der EU Zuschüsse erhalten sollten.23 An eine im Interesse der Entwicklung des Landes liegende Unterstützung einheimischer Betriebe oder auch nur an deren Gleichstellung mit europäischen Firmen wird nicht gedacht.

Die Platzierung Tunesiens als Musterland und die Mär vom »tunesischen Wirtschaftswunder« entsprechen keineswegs der Realität, sondern dürften rein politische Gründe gehabt haben. Die Protektion, die das Ben-Ali-Regime durch Frankreich genoss, dürfte auch die Stellungnahmen des IWF beeinflusst haben, dessen Präsidentschaft traditionell Frankreich obliegt: In diesen Kontext passt, dass die französische Verteidigungsministerin Michèle Alliot-Marie noch drei Tage vor der Flucht Ben Alis diesem französische Spezialtruppen zur Aufstandsbekämpfung anbot.24 Schließlich musste sie zurücktreten, als bekannt wurde, dass sie mehrfach auf Kosten eines Mitglieds der Trabelsi-Bande in Tunesien Urlaub gemacht hatte.

Würde

„Schießt doch, wir sind schon tot“, stand auf einem Transparent, mit dem Tausende Jugendliche in der algerischen Stadt Tizi Ouzou vor einer Polizeiwache demonstrierten, auf der einen Tag zuvor ein Siebzehnjähriger totgeschlagen worden war. Es ist dieses Gefühl der absoluten Verzweiflung, das seit Jahren jede Nacht nicht nur Migranten aus Schwarzafrika, sondern auch Dutzende von Jugendlichen aus Marokko, Algerien, Tunesien veranlasst, mit kaum seetüchtigen Booten die Reise ans Nordufer des Mittelmeers anzutreten, wobei sie sich sehr wohl bewusst sind, dass die Chancen, diese Reise zu überleben, nicht groß sind.

In den Augen der Menschen in ganz Nordafrika ist die Staatsmacht nicht nur abgrundtief korrupt, sondern auch bar jeden moralischen Prinzips. Hierfür stand in Tunesien auch die Reputation der Präsidentengattin als einer Frau lockerer Moral. Kurzum: Das »System« verkörperte selbst Amoralität und Würdelosigkeit und war zugleich verantwortlich für das menschenunwürdige Leben der Bürgerinnen und Bürger. Alltägliche Frustrationen und Erniedrigungen produzierten ein Gefühl der Selbstverachtung.25 Aus dieser Situation entsteht „dieser schwer fassbare Faktor, der Bedarf nach Anerkennung von Würde.“26

Der Gegenbegriff zu »karama«, Würde, ist »hogra«, Würdelosigkeit, Verachtet-Sein, was sich ausdrückt in den täglichen Erfahrungen, eine deklassierte und unterbezahlte Beschäftigung annehmen zu müssen, permanent am Rand der Legalität leben zu müssen, stets Gefahr zu laufen, verhaftet, erpresst oder denunziert zu werden. Das Leben in einem Provisorium, das kein Ende nimmt, vermittelt jenes Gefühl, ohne Würde zu sein. Verdeutlicht wird dies in Aussagen wie: „Am Zahltag schlafe ich mit Tränen in den Augen. In meinem Kopf rechne ich, bezahle die offenen Rechnungen und meine Gläubiger. Und die Freude, meinen Lohn erhalten zu haben, wird zur Übelkeit, denn ich weiß nicht, wie ich bis zum Ende des Monats überleben soll.“ Oder: „Ich arbeite in einer Firma [… für] 300 Dinar [160 Euro] im Monat. Ich habe zwei Kinder und lebe mit meiner Frau und den Kleinen in einem einzigen Zimmer. Ist das normal?“.27

Belegt wird diese Misere, in der die Masse der Bevölkerung lebt, durch die Tatsache, dass in Tunesien 38% der Bevölkerung (in Algerien und Marokko sind diese Zahlen noch erheblich höher) ihren Lebensunterhalt im informellen Sektor sichern müssen. „Die illegalen Praktiken entwickeln sich nicht gegen oder außerhalb des Staates, da sie letztlich reguliert werden durch Erpressung und Korruption der öffentlichen Verwaltung“.28 Sie sind somit Teil des Systems, in dem nur extralegale Mittel die prekäre Sicherung einer erbärmlichen Existenz ermöglichen: „Ich hatte gerade meinen Arbeitstag begonnen. Auf der ersten Reise [als Schmuggler über die Grenze nach Libyen, W.R.] wurde ich von einem Polizisten angehalten, der zehn Dinar [fünf Euro] forderte. Ich habe ihm geschworen, dass ich kein Geld hatte, weil ich gerade erst aufgebrochen war. Wir haben gehandelt und er hat mir Fragen gestellt, ob ich Kinder habe. Ich habe ihm gesagt: drei, davon zwei an der Universität. Er sagte, er hätte drei an der Universität. […] Wir waren etwa gleich alt. Er hat mich laufen lassen, gab mir seine Mobilfunknummer und bat mich, ihm eine Pre-paid-Karte für zehn Euro zu schicken. Als ich abends zurück kam, habe ich die Karte gekauft und ihm den Code geschickt. Er hat mir geantwortet: »Danke!«“29

Diese Zitate illustrieren die enge Wechselbeziehung zwischen »hogra« und »karama«. Die Permanenz der »hogra«, die damit verbundene Perspektivlosigkeit, die ständige Demütigung kulminierten in der Selbstverbrennung von Mohamed Bouazizi zu einem Akt des Protests und der Befreiung. Die dadurch ausgelösten Demonstrationen und ihre blutige Repression lösten den revolutionären Prozess aus: Die protestierenden Demonstranten hatten nichts zu verlieren außer einem lebensunwürdigen Leben. Dem Regime war ihr Leben nichts wert. Indem sie dieses riskierten, gewannen die Aufständischen jedoch wenigstens ihre Würde.

„Wir sind alle Khaled Said“, riefen die Demonstranten in Alexandria und Kairo und identifizierten sich mit jenem jungen Blogger, den die Polizei in Alexandria auf offener Straße zu Tode geprügelt hatte. Wie Mohamed Bouazizi symbolisierte er die Perspektivlosigkeit der Jugend und die Rechtlosigkeit der Menschen in einem brutalen, abgrundtief korrupten und deshalb amoralischen System. Die kollektive Erfahrung der »hogra« war es, die die Menschen auf die Straßen brachte – nicht nur die lumpenproletarisierten Jugendlichen, auch die Älteren, die vielen Frauen, die Muslimbrüder und die Kopten, die Mittelschichten, die Richter, die Anwälte, ja sogar Unternehmer. Die gemeinsame Basis dieser Menschen in Tunesien wie in Ägypten war, jenseits der Forderung der großen Massen nach Brot, ein menschenwürdiges Leben. »Würde« gerann so zu einer entscheidenden Dimension gerade auch materieller Existenz.

Fazit

Die tunesischen und ägyptischen Revolten, die immerhin zum Sturz der alten diktatorischen Freunde des Westens führten, waren Auslöser für Proteste und Aufstände, die wohl noch lange nicht zu Ende sind. Es wäre zu einfach, die Erhebungen und bewaffneten Konflikte in Jemen und Libyen, vielleicht auch die Gewalt in Syrien nur aus der Perspektive des tunesischen oder ägyptischen Modells zu betrachten. Sie haben ihre eigenen Spezifika, die Vergleiche sehr schwer machen.

Wenig beachtet werden Wandlungsprozesse, die ohne nennenswerte Gewaltanwendung eingeleitet wurden, wie etwa die präventive massive Senkung der Lebensmittelpreise in Mauretanien, Marokko und Jordanien, die Entlassung der Regierung und die Neubildung eines Kabinetts in Jordanien, die eilige Ausarbeitung einer neuen Verfassung in Marokko, die vom Volk am 1. Juli mit der üblichen Mehrheit von 98,5% der Stimmen angenommen wurde und die ein wenig mehr Parlamentarismus, aber immerhin auch die Unabhängigkeit der Justiz verspricht. Die im Schatten des Krieges in Libyen erfolgte brutale Niederschlagung der friedlichen Proteste in Bahrain durch die saudische Armee und die Truppen des Golf-Kooperationsrats fand in unseren Medien kaum Beachtung: Der Krieg in Libyen war die willkommene Nebelwand, hinter der die Forderungen nach Demokratie der Bevölkerung des Golfstaats verschwand.

Die Völker der Region haben gezeigt, dass sie ihre Angelegenheiten in die eigenen Hände nehmen wollen, dass einige von ihnen fähig waren, ein Stück der Souveränität zu erringen. Damit haben sie nicht nur ein Selbstwertgefühl, ein Stück Würde gewonnen, sie haben auch die abstruse These von der Demokratieunfähigkeit der arabischen Völker und insbesondere Samuel Huntingtons kulturrassistisches Paradigma vom »Kampf der Kulturen« auf den Müllhaufen der Geschichte befördert. Vielleicht aber sind die arabischen Revolten ein Anzeichen für einen globalen Wandel, der nicht nur die unbestrittene hegemoniale Stellung der USA in Frage zu stellen beginnt,30 sondern auch ein Aufbegehren gegen die durch den herrschenden Neoliberalismus erzeugte Perspektivlosigkeit der Jugend weltweit. So können die arabischen Revolten auch verstanden werden als Folge vorausgegangener Entwicklungen in Lateinamerika und als Brücke zu den Protesten in Spanien, Griechenland, Großbritannien und Israel. Eine andere Welt, eine Welt in Würde, ist nicht nur nötig, sie ist auch möglich!

Anmerkungen

1) Carole Vann: Les émeutes du bassin minier de Gafsa se poursuivent malgré la répression. Le Temps (Quotidien – Suisse), 16 octobre 2008.

2) R. Maghari: Tunisie – De lourdes peines pour les émeutiers de Gafsa. maghrebinfo, 12 décembre 2008. Siehe auch: U.S. Department of State, Bureau of Democracy, Human Rights, and Labor: 2008 Human Rights Practices: Tunesia. Report, 25 February 2009.

3) Joel Beinin: Arbeiterprotest, Neoliberalismus und Kampf für Demokratie. In: Inamo Spezial Nr. 3, Frühjahr 2011, S.40-45.

4) Ingrid El Masry: Gewerkschaften und Arbeiterbewegung in der Revolution. In: Inamo Spezial Nr. 3, op.cit. S.56-57.

5) Vgl. auch: Béchir Turki (2011): Ben Ali Le Ripou. Tunis, gedruckt bei Sotepa Graphique.

6) Veröffentlicht in: Journal Officiel de la République Tunisienne, 27. moharrem 1423 = 5. April 2002, 145. Jahrgang, Nr. 28.

7) Anja Zorob: Nordafrikanische Erfolgsgeschichten? In: Blätter für deutsche und internationale Politik Nr. 7/2011, S.31-34, hier S.31.

8) Fausi Najjar (2010): Wirtschaftstrends Tunesien – Jahreswechsel 2009/10. Köln: Germany Trade and Invest – Gesellschaft für Außenwirtschaft und Standortmarketing mbH; gtai.de.

9) Germany Trade and Invest, op.cit.

10) Nicolas Beau/Catherine Graciet (2010): La régente de Carthage. Paris: Editions La Découverte.

11) Sihem Bensedrine/Omar Mestiri (2004): L’Europe et ses Despotes. Paris: La Découverte. Deutsche Ausgabe (2005): Despoten vor Europas Haustür. Warum der Sicherheitswahn den Extremismus schürt. München: Kunstmann. S.127-132.

12) Ausführlich dazu: Beau/Graciet, op.cit., S.81-95.

13) Bensedrine/Mestiri, op.cit., S.92-95.

14) Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.02.2011.

15) Hierzu die brillante Analyse von Béatrice Hibou (2011): The Force of Obedience. Political Economy of Repression in Tunisia. Cambridge: Polity Press.

16) Beau/Graciet, op.cit., S.130.

17) Béatrice Hibou: Les faces cachées du Partenariat euro-méditerranéen. Critique internationale No. 18, Januar 2003.

18) Oussama Nadjib: Le patronat tunisien »libéré« mais en crise se cherche une nouvelle image. Maghreb Emergent, 8 Février 2011.

19) Ibid.

20) Germany Trade and Invest, op.cit.

21) Béchir Turki (2011), op.cit.

22) Taïeb Zahar: Chroniques – Les chiffres de la honte. Réalités (tunesische Wochenzeitschrift), 9.6.2011; realites.com.tn.

23) Jürgen Theres: Revolution des Volkes oder Palastrevolution? Institut für Internationale Begegnung und Zusammenarbeit der Hanns-Seidel-Stiftung, 18. Januar 2011.

24) Tunisie: les propos »effrayants« d’Alliot-Marie suscitent la polémique. LeMonde, 13.1.2011.

25) Sadri Khiari, tunesischer Sozialwissenschaftler und Oppositioneller, im Gespräch mit Béatrice Hibou, op.cit., S.23-34, hier S.28f.

26) Ibid, S.34.

27) Zitiert nach: Hamza N. Meddeb: L’Ambivalence de la »course à el khobza«. Obéir et se révolter en Tunisie. Politique Africaine Nr. 121, Mars 2011, S.35-51.

28) Ibid., S.42.

29) Ibid., S.47.

30) Werner Ruf: Ex oriente lux – oder »regime change light«? In: Sozialismus, Nr. 3/2011, 21. Februar 2011, S.3-6.

Prof. em. Dr. Werner Ruf war von 1982 bis 2003 Professor für internationale und intergesellschaftliche Beziehungen und Außenpolitik an der Universität Kassel.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2011/4 »Arabellion«, Seite 7–10