W&F 2011/2

Revolution und Krieg

von Jürgen Nieth

Es ist noch keine drei Monate her, als eine erfolgreiche friedliche Massenbewegung in Tunesien die Familiendynastie Ali vertrieb und eine nach Millionen zählende friedliche Protestbewegung in Ägypten weltweit die Hoffnungen nährte auf ein Ende aller Despoten im arabischen Raum. Doch Entwicklungen verlaufen nicht linear. Dementsprechend bietet sich uns heute ein sehr unterschiedliches Bild. Eine Momentaufnahme vom 6. April 2011, an dem diese Zeilen geschrieben werden.

Nach den Massenprotesten in Ägypten hat das Militär offiziell die Macht übernommen, an den Schalthebeln saß es auch schon vorher – neben allen Präsidenten seit 1952. Der Militärrat hat demokratische Reformen versprochen und erste auch eingeleitet. Am 20. März haben sich über siebzig Prozent für eine Verfassungsänderung ausgesprochen, die u.a. die Amtszeit des Präsidenten auf acht Jahre begrenzt, die seit 30 Jahren bestehende Notstandsgesetzgebung aufhebt und für September Parlaments-, für Oktober oder November Präsidentenwahlen vorsieht. Aus der Demokratiebewegung gab es trotzdem Proteste, da die große Machtfülle des Präsidenten unangetastet bleibt und die kurze Zeit bis zu den Wahlen kaum Zeit lässt zur Etablierung neuer Parteien. Bürgerrechtler sehen daran eine Bevorteilung der Abgeordneten des alten Systems und der Muslimbrüder. Und während Mubarak zwei Monate nach seinem Sturz die Zeit in seiner Sommerresidenz auf dem Sinai verbringt, klagt das Volk über explodierende Preise, nehmen die Berichte wieder zu über Verfolgung, Inhaftierung und Folter von Demonstranten.

Nach dem Sturz der tunesischen und ägyptischen Despoten, Ben Ali und Mubarak, gab es Massendemonstrationen im Jemen, in Libyen, Syrien und Bahrein. Auch in Saudi-Arabien, einigen Emiraten, Jordanien und Algerien formierte sich eine Protestbewegung. Die Herrscher reagierten unterschiedlich: Regierungsumbildungen als Bauernopfer, Ankündigung von Reformen (Syrien, Jordanien, Jemen), finanzielle Zugeständnisse (377 Euro Arbeitslosengeld und 565 Euro Mindestlohn in Saudi-Arabien), gleichwohl Einsatz des staatlichen Machtapparates gegen die Protestbewegungen in allen Ländern aber in unterschiedlicher Schärfe.

Aus dem Jemen erreichen uns seit Wochen fast täglich neue Meldungen über getötete Demonstranten, aus Syrien nehmen die Schreckensmeldungen zu. Keine Meldungen mehr aus Bahrein. Nachdem Saudi-Arabien zur Stützung des Königshauses 1.000 Soldaten auf die kleine Insel im Persischen Golf entsandt hat, herrscht offensichtlich Friedhofsruhe.

Und dann ist da noch Libyen: Vom friedlichen Protest über den Bürgerkrieg zum Krieg. Gaddafi war in den letzten Jahren ein begehrter Geschäftspartner aller westlichen Regierungen. Man rüstete ihn auf – genau wie das tunesische Regime – wegen der Rüstungsprofite, aber auch, um afrikanische Flüchtlinge von Europa fern zu halten. Doch offenbar hat man ihm nie die »antiimperialistische Propaganda« seiner ersten Regierungsjahre verziehen. Ausgerechnet die alten Kolonialmächte im arabischen Raum, Frankreich und Großbritannien, setzten nach den Vernichtungsdrohungen des verwirrt erscheinenden Despoten gegen Teile seines Volkes ausschließlich auf das Militär, d.h. auf Krieg. Bis heute flogen die NATO-Mitglieder 1006 Einsätze. Über Opfer auf beiden Seiten ist kaum etwas bekannt, doch sie sind mit Sicherheit um ein Vielfaches höher, als in den Wochen vor dem 18. März. Und ein Ende ist offen. Kann es noch eine Verhandlungslösung geben? Kommt es zum Sturz Gaddafis und sind dann die neuen Machthaber – die ja zum Teil Gaddafis engste Vertraute waren – die »Besseren« (siehe auch: Kommentierte Presseschau, S.5)? Kommt es zu einer Sezession des libyschen Ostens oder setzt sich das Blutvergießen noch monatelang fort?

Drei Monate nach der tunesischen Revolution gibt es mehr Fragen als Antworten. Mehr Antworten haben wir hoffentlich in einem halben Jahr: Schwerpunkt der W&F-Ausgabe 4-2011 ist die Entwicklung in den arabischen Ländern.

Eine Erkenntnis macht aber schon heute Hoffnung: Die TunesierInnen haben nicht nur das verhasste Regime Ali davon gejagt, sie haben seitdem mehrere Regierungsumbildungen erzwungen, die alte Staatspartei – die bis vor kurzem noch Mitglied der sozialdemokratischen »Sozialistischen Internationale« war – wurde aufgelöst und der Einfluss des alten Machtapparates zurückgedrängt. Unabhängig vom Ausgang dieses Prozesses dürfte aber vor allem eine Leistung historische Bedeutung haben: Die TunesierInnen haben all das mit zivilen Massenprotesten geschafft, ohne Waffen und ohne Unterstützung aus dem Ausland. Ohne die Rolle der Protestbewegungen Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre in den Ländern des Warschauer Paktes zu schmälern: Sie hatten von Anfang an die mediale und später auch materielle Unterstützung des Westens. Das tunesische Volk war auf sich allein gestellt, der Ali-Clan erfreute sich wie die anderen Despoten der arabischen Länder bis zuletzt enger Beziehungen zum Westen, er bekam die Waffen, die er sich wünschte, auch zur Unterdrückung des eigenen Volkes, und musste trotzdem flüchten.

Ihr Jürgen Nieth

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2011/2 Kriegsgeschäfte, Seite 2