W&F 1991/1

Risiken komplexer Rüstungstechnik (II)

Das Beispiel C³I

von Jürgen Scheffran

Das in den achtziger Jahren in der NATO eingeführte Konzept des »Follow On Forces Attack« (FOFA) stellt außerordentliche Anforderungen an die Waffentechnologie. Durch eng gekoppelte Waffenkomponenten, Zeitdruck und Verwundbarkeiten entsteht eine extreme Komplexität, die das Gesamtsystem für Betreiber und Gegner zugleich undurchschaubar und riskant macht und zudem hohe Kosten verursacht.1 Auch wenn durch die Veränderungen in Europa die Geschäftsgrundlage für FOFA weitgehend entfallen ist, darf die Frage gestellt werden, worauf die NATO sich eingelassen hatte und welche der geplanten Programme weitergeführt bzw. in ein neues Sicherheitskonzept für Europa eingeführt werden sollen.

Das FOFA-Konzept und das C³I-System der NATO

Ein Kernpunkt des FOFA-Konzepts ist die Ausführung von tiefen Schlägen (Deep-Strikes) mit Raketen und Kampfflugzeugen in das Hinterland des Gegners, um nachrückende Kampfverbände frühzeitig ausschalten zu können. Diese Integration von Land- und Luftkriegführung, die dem Air-Land-Battle-Konzept der USA ihren Namen gab, stellt hohe Anforderungen an die Gewinnung, Weiterleitung und Verarbeitung der relevanten Informationen, was seit Ende der siebziger Jahre eine umfassende Umstrukturierung des C³I-Systems der NATO in Europa notwendig machte.2 Drei Modernisierungsprogramme sind besonders hervorzuheben:

  1. Das Automated Command, Control and Information System (ACCIS) im Alliierten Kommandobereich Europa (ACE) soll die C³ Operationen auf allen Befehlsebenen automatisieren.
  2. Das NATO Integrated Communications System (NICS) soll die Verbindung zwischen den NATO Hauptquartieren und den wichtigsten C³ Einrichtungen herstellen.
  3. Das Air Command and Control System (ACCS) soll ein umfassendes C² System für die alliierten Streitkräfte in Europa bereitstellen und das festgestellte Defizit in der NATO-Luftverteidigung beseitigen.

ACCS ist (wie die beiden anderen Systeme auch) hochkomplex und soll zahlreiche nationale und NATO-weite Komponenten miteinander verbinden. Drei wesentliche Schwachpunkte und Risikofaktoren von ACCS sollen hier beleuchtet werden.3

  • Die zentralen Befehlsstellen und Kommunikationsverbindungen sind verwundbar gegenüber Angriffen und wenig redundant bei Ausfall einzelner Komponenten, was zur Überlastung des verbleibenden Systems führt. Besonders ungeschützt sind die großen und exponierten Radaranlagen. Die Verbindungen zwischen den Bodenleitzentralen sind anfällig gegenüber elektronischen und physikalischen Störmaßnahmen. Die dort beteiligten Operateure müssen wegen ihrer Bedeutung für den Gegner im Ernstfall bereits frühzeitig damit rechnen, ihre Kommunikationsmöglichkeit zu verlieren oder gar selbst Opfer eines Angriffs zu werden.
  • Auch ohne einen gegnerischen Angriff steht die Funktionsfähigkeit von ACCS in Frage, zum einen wegen der Schwierigkeit, eine große Zahl von Systemen mit unterschiedlichen (nationalen) Standards aufeinander abzustimmen, zum anderen wegen ihrer mangelnden technischen Zuverlässigkeit. Einige ACCS-Komponenten, wie das Elektronische Informations- und Führungssystem (EIFEL) der Bundes-Luftwaffe, erreichen nicht die geforderte Leistungsfähigkeit bzw. sind inkompatibel mit dem CCIS-Netzwerk. EIFEL „wurde in Übungen unter annähernden Kriegsbedingungen leicht überlastet, was zu langen Verzögerungen in der Übermittlung von Befehlen und dem Empfang von Information führte.“4 Selbst unter günstigsten Umständen fanden seine Operateure, daß es »unfreundlich« zu bedienen sei. Ein Nachfolgesystem ist daher in Entwicklung.
  • Besonders gravierend ist der Mangel eines wirksamen Freund-Feind-Erkennungssystems (IFF: Identification Friend or Foe), wie sich während des Aegis-Zwischenfalls gezeigt hat. Es gibt zwar verschiedene IFF-Methoden in der NATO, doch basieren diese meist auf kooperativen Verfahren, in denen Flugzeuge ihre Identität in kodierter Form auf Anfrage bestätigen. Das bereits in den fünfziger Jahren entwickelte MK XII-System kann leicht gestört bzw. getäuscht werden, und seine Trägerfrequenzen und Signaleigenschaften können sich mit denen des zivilen Flugverkehrs überlagern. Nichtkooperative IFF-Systeme zur Identifizierung von Flugkörpern aufgrund ihrer physikalischen Charakteristika (Radar, optische oder Infrarot-Sensoren) hängen stark von Umgebungsfaktoren, der Verfügbarkeit der Kommunikationsverbindungen und Fehlern der Operateure ab. Eine Studie des »General Accounting Office« (GAO) der USA stellte 1986 fest: „Die Streitkräfte der Vereinigten Staaten und der NATO können, bei Nacht oder bei schlechtem Wetter, Flugzeuge nicht jenseits der Sichtbarkeitsgrenze mit hoher Zuverlässigkeit identifizieren.“5 Daraus ergeben sich Risiken, entweder zu spät zu reagieren, mit der Gefahr der eigenen Vernichtung durch gegnerische Flugzeuge, oder auf Verdacht einen großen Teil »freundlicher« (insbesondere auch ziviler) Flugzeuge abzuschießen. In NATO-Übungen fielen gar bis zu 40% der eigenen Flugzeuge einem solchen »Brudermord« zum Opfer.6 Die Erfahrungen aus dem Aegis-Unglück legen die Vermutung nahe, daß Operateure im Zweifelsfalle dieser Möglichkeit den Vorzug geben.

Um diesen Defiziten zu begegnen, hat die NATO kostspielige Programme zur Ersetzung ihrer IFF-Systeme aufgelegt,7 die jedoch erhebliche Übergangsprobleme aufweisen, ohne die Brudermordrate entscheidend senken zu können.

Die technischen, organisatorischen und konzeptionellen Probleme haben dazu geführt, daß nach einer zehnjährigen Diskussionsphase ACCS nicht vor den frühen neunziger Jahren in Betrieb gehen soll (ganz abgesehen von den politischen Unsicherheiten). Die Kosten werden auf die enorme Summe von 25 Milliarden Dollar geschätzt.

Während die technische und politische Zukunft des gesamten C³I-Systems der NATO noch in den Sternen steht, haben sich zwei seiner wichtigsten Komponenten, beides luftgestützte Radarsysteme, zur Einsatzreife gemausert: das bereits anfang der achtziger Jahre eingeführte AWACS und das in der Endphase seiner Entwicklung befindliche JSTARS.

AWACS

Das luftgestützte Warn- und Kontrollsystem E-3 AWACS (Airborne Warning and Control System, kurz E-3A) ist ein großes phasengesteuertes Radar zur Entdeckung und Identifizierung von Luftzielen, das von einer umgebauten Boeing 707 getragen wird (Stückpreis 200 Millionen Dollar).8 AWACS ist seit 1981 Bestandteil der aktiven Luftverteidigung (Defensive Counter Air) und soll wertvolle Ziele der NATO rechtzeitig vor einem Überraschungsangriff warnen. In einer Höhe von 9 km wird eine sichtlinienbedingte Reichweite gegen tieffliegende Flugkörper von 400 km erreicht, was gegenüber Bodenradars eine Verzehnfachung der Reichweite ermöglicht. Neben dieser Überwachungsfunktion, die AWACS den englischen Beinamen Sentry (Schildwache) gegeben hat, soll AWACS auch in der Lage sein, die Abwehrmission zu leiten. Die erforderliche Kommunikation erfolgt über geschützte Sprech- und Datenverbindungen zu den Kontroll- und Einsatzzentralen (Command Reporting Centers, CRCs) sowie zu Kampfflugzeugen in der Luft und Flugabwehrraketen am Boden.

Jedes der 18 E-3A-Flugzeuge hat, neben der außen sichtbaren Radarantenne, eine IFF-Antenne, einen IBM-Computer (Software mit 3.75 Millionen Befehlen!) sowie neun Mehrzweck-Konsolen für die neun Radaroperateure, von denen sechs auf den Überwachungsmodus und drei auf den Kontrollmodus spezialisiert sind (insgesamt gibt es 30 solcher Teams). Auf den Bildschirmen können Angaben über Typ, Geschwindigkeit, Flugrichtung, Aufgabe (ob feindlich) und Höhe der Zielflugkörper auf Hintergrundkarten dargestellt werden. Die zentrale Einsatzbasis liegt in Geilenkirchen, weitere vorgeschobene Basen befinden sich in Norwegen, Italien, Griechenland und der Türkei.

Grenzen und Risiken der AWACS-Einsatzfähigkeit sind nur zu einem geringen Teil technisch bedingt, da aufgrund bisheriger Erfahrungen von einer hohen Zuverlässigkeit (bis zu 95% Verfügbarkeit) ausgegangen werden kann. Wichtiger sind operationelle und organisatorische Grenzen, die (neben den oben angesprochenen Problemen der Freund-Feind-Erkennung) durch die Verwundbarkeit der geringen Zahl von Systemen und die individuellen Fähigkeiten der Operateure bedingt sind.

1. Verwundbarkeit und Krisenstabilität

Wegen ihrer zentralen Bedeutung in der Luftabwehr, sind die E-3A-Flugzeuge wertvolle Ziele für einen gegnerischen Angriff, zumal bei Ausfall einzelner Flugzeuge die Einsatzfähigkeit erheblich eingeschränkt wäre (geringe Redundanz). Durch die Aussendung der Radarstrahlung wird AWACS zu einem weithin sichtbaren Ziel und ist verwundbar durch physikalische (zielsuchende Raketen) und elektronische (Störung, Täuschung, Elektromagnetischer Puls) Gegenmaßnahmen, die nur in begrenztem Maße durch Gegen-Gegenmaßnahmen (Strahlbündelung, Härtung) abgeschwächt werden können. Da die großen Maschinen nur wenig manövrierfähig sind und praktisch keine Fähigkeit zur Selbstverteidigung haben, sind sie gegenüber gegnerischen Kampfflugzeugen und Boden-Luft-Raketen auf den Schutz durch die eigene Luftabwehr angewiesen, was deren Kapazitäten bindet: „Die NATO stünde vor dem Problem, daß entweder substantielle E-3A-Fähigkeiten und eine beträchtliche Zahl von Kampfflugzeugen zum Schutz der Frühwarnflotte bereitgestellt werden müßten (was ihr »Force-Multiplier«-Potential ungünstig beeinflussen würde) oder daß die E-3A ziemlich verwundbar wäre.9Um die eigene Überlebensfähigkeit zu erhöhen, müßten die AWACS-Flugzeuge in größerem Abstand (etwa 150 km) von der jeweiligen Front fliegen, was ihre Wirksamkeit ebenfalls erheblich einschränken würde.

Noch verwundbarer als die beweglichen Flugzeuge sind die wenigen ortsfesten Basen und Einsatzzentralen, ohne die AWACS nur sehr eingeschränkt operieren kann. Bei einer Zerstörung der Reparatur- und Wartungseinrichtungen, der Start- und Landebahnen oder gar der am Boden befindlichen Flugzeuge und Bedienungsmannschaften wäre ein Ersatz der in der Luft befindlichen Flugzeuge nicht mehr möglich.

Die hohe Effektivität und Verwundbarkeit hat negative Auswirkungen auf die Krisenstabilität, da AWACS-Flugzeuge, die in Friedenszeiten meist am Boden sind, in einer Krise starten müßten, um Einsatzbereitschaft zu demonstrieren, wichtige Informationen über Absichten des Gegners zu gewinnen und um bei einem möglichen Überraschungsangriff nicht als »lahme Enten« am Boden festzusitzen. Diese Aktivitäten können jedoch von der Gegenseite als Provokation, zusätzliche Bedrohung oder gar als Vorbereitung eines Überraschungsangriffs wahrgenommen werden, was zur Eskalation beiträgt (defense-provocation dilemma).

2. Menschliche und organisatorische Grenzen

Die E-3A-Bedienungsmannschaft ist in einer tatsächlichen Krisen- oder Kriegssituation einer hohen Belastung ausgesetzt. Die Anforderung, bis zu 400 Ziele identifizieren zu müssen (was der technisch vorgegebenen maximalen Datenverarbeitungskapazität entspricht), ist von den neun Operateuren praktisch nicht zu bewältigen. Bei einer verfügbaren Zeit von ein bis zwei Minuten für die Identifizierung können selbst mit einer hohen technischen IFF-Rate von 90% nicht alle verbleibenden Flugkörper von den Operateuren identifiziert werden. Noch stärker machen sich die menschlichen Leistungsgrenzen im Waffenkontrollmodus bemerkbar, da hier die Operateure die eigenen Kampfflugzeuge zum Ziel dirigieren müssen und diesen Vorgang während der Flugdauer des Angreifers (typischerweise 15 Minuten) nur wenige Male ausführen können.10 In wenigen Minuten müßte jeder Operateur mehrfach Entscheidungen über Leben und Tod treffen.

Stellt dies bereits für psychisch und physisch optimal präparierte Menschen eine außerordentliche Anstrengung dar, so gilt dies in noch stärkerem Maße, wenn Streß und Bedrohungswahrnehmung, Überreaktionen und unüberlegte Verhaltensmuster eine wohldurchdachte Reaktion vereiteln (siehe Aegis). Verschiedene Streßfaktoren wurden für AWACS genannt:11

  • die Angst, einem Angriff des Gegners zum Opfer zu fallen, weil man für diesen ein bedeutendes Ziel darstellt;
  • die Unsicherheit, sich bei der Lagebeurteilung ausschließlich auf Radardaten verlassen zu müssen, ohne visuellen Kontakt zur Umwelt;
  • die Ermüdung während eines 10-stündigen konzentrierten Einsatzes;
  • Blackout als Folge einer Informationsüberflutung und kurzer Reaktionszeiten;
  • Sprachprobleme aufgrund der multinationalen Zusammensetzung der Mannschaft.

Abgesehen von Sprachproblemen waren diese Faktoren auch bei dem Aegis/Vincennes-Unglück zu beobachten: „es wird klar, daß dieselbe Art des Zeitdrucks wie im Falle der USS Vincennes (7 Minuten zwischen erster Entdeckung und Raketenstart) auch bei der E-3A auftreten könnte. Ebenso würde Streß auftreten.“ Folglich ist es während einer Krise durchaus möglich, „daß Operateure an Bord der E-3A irrtümlich annehmen, ein Angriff auf ihr Flugzeug sei im Gange, und daher auf eine Abfangmission drängen, wie es im Falle der USS Vincennes geschehen ist.“12 Im Unterschied zur Vincennes verfügt AWACS nicht direkt über die Waffen, ein angegebenes Ziel zu zerstören, sondern ist auf weitere ausführende Organe (Kampfflugzeuge, Boden-Luft-Raketen) angewiesen.

Obwohl die Bodenstationen das Recht zum Einsatzbefehl für sich beanspruchen, wäre ein Szenario vorstellbar, in dem eine AWACS-Mannschaft eine akute Bedrohung feststellt und unter Zeitdruck unmittelbar den Startbefehl an eine Patriot-Batterie gibt (wie im Falle der Vincennes könnte dies sogar mit Zustimmung des regionalen Kommandeurs geschehen). Somit kann ein durch AWACS ausgelöster Unfall (Abschuß eines Passagierflugzeugs) nicht ausgeschlossen werden, der in einer kritischen Situation zum Auslöser (Trigger) einer militärischen Eskalation werden könnte.

JSTARS

Viele der für AWACS getroffenen Aussagen gelten in ähnlicher Weise auch für das Joint Surveillance and Target Attack Radar System (JSTARS, oft auch Joint STARS), das als »AWACS für den Kampf gegen Bodenziele“ gepriesen wurde.13 Bei JSTARS handelt es sich ebenfalls um ein phasengesteuertes Radar, das von einer umgebauten Boeing 707 (auch E-8A genannt) getragen wird und im Rahmen des FOFA-Konzepts Bodenziele im Hinterland des Gegners entdecken, verfolgen und bekämpfen soll (besonders Panzer und Truppenverbände). Das Radarsystem soll in drei Einsatzmodi operieren: zur Beobachtung bewegter Ziele (Moving Target Indicator, MTI), zur Ortung feststehender Ziele (Synthetic Aperture Radar, SAR) und im Waffenlenkmodus. Um Beobachtungs- und Zieldaten in Realzeit an Bodenstationen, Flugzeuge und Bodenraketen zu übermitteln, gibt es drei Kommunikationskanäle. Die enormen Datenströme werden von parallel arbeitenden Prozessoren bewältigt, die 625 Millionen Instruktionen pro Sekunde (MIPS) ausführen können (analog zu einem Cray 1 Computer). Die auf Farbmonitoren dargestellten Informationen werden von 10 Bordoperateuren ausgewertet (4 für Überwachung, 6 für Waffeneinsatz). Weitere technische Details sind an anderer Stelle beschrieben worden.14

Von JSTARS werden wahre Wunderdinge erhofft, die weit über die Leistung bisheriger Systeme hinausgehen: es soll eine größere Reichweite haben und eine größere Fläche überdecken, feste und bewegte Ziele genau erfassen und verfolgen, Kettenfahrzeuge und Radfahrzeuge unterscheiden, die Daten in Echtzeit übermitteln, sowie Deep-Strikes unterschiedlicher Offensivwaffen koordinieren. Allerdings ist JSTARS noch in der Entwicklungs- und Testphase und endgültige Entscheidungen über Beschaffung und Stationierung wurden nicht getroffen. Verschiedene Probleme haben zu Zeitverzögerungen und Kostensteigerungen geführt.15 Besonders die folgenden kritischen Punkte sollen erwähnt werden.

So ergeben sich bei JSTARS vergleichbare Probleme der Verwundbarkeit und Kriseninstabilität wie bei AWACS. Der FOFA-Bericht des »Office of Technology Assessment« von 1987 weist auf die im US-Kongreß ausgesprochene Befürchtung hin, „daß das als JSTARS-Plattform vorgeschlagene E-8A-Flugzeug nicht ausreichend überlebensfähig sei, wenn es wie ursprünglich vorgesehen nahe der Front operiere. Käme es dagegen in größerem Abstand von der Front zum Einsatz, wäre die überdeckte Fläche nicht ausreichend, um seine Kosten zu rechtfertigen.“16 Ein ausreichender Schutz durch die NATO-Luftabwehr sei nur in genügender Grenzentfernung zu gewährleisten. Zudem ist JSTARS anfälliger gegen elektronische Störmaßnahmen als AWACS, was durch offensive Maßnahmen zur Erfassung und Zerstörung von Radaranlagen und Störsendern kompensiert werden soll.

Durch die Verwundbarkeit und physikalisch-technische Grenzen sind JSTARS Einsatzgrenzen gesetzt. So ist JSTARS nicht in der Lage, weiter als 130 km jenseits der Grenze zu sehen, wenn es in einem Sicherheitsabstand von 150 km westlich der Grenze fliegt. Wegen der Erdkrümmung sind in einem Abstand von mehr als 100 km bereits bis zu 40% aller Ziele verdeckt.17 Trotz ausgefeilter Radartechnik und höchstem Datenfluß ist JSTARS kaum in der Lage, von einem Ziel mehr als einen Fleck zu sehen. Ob es sich um einen Militärlastwagen oder einen Bus handelt, ist mit JSTARS aus der vorgesehenen Sicherheits-Entfernung nicht auszumachen, allenfalls beim direkten Überflug.

Alternative Systeme können je nach Funktion erheblich kosteneffektiver sein, z.B. ferngelenkte Aufklärungs-Flugkörper (Remotely Piloted Vehicle, RPV) wie Phoenix oder vorprogrammierte Zieldrohnen vom Typ CL-289. Beide sind in der Lage, bis zu einer Tiefe von 50 km Aufklärung zu betreiben (was für die Verifikation von Bedeutung ist), CL-289 sogar darüber hinaus 70 – 130 km, wenn auch mit sinkender Genauigkeit. Bei der Zielerfassung können RPVs ebenfalls bis 50 km wesentliche Aufgaben erfüllen, JSTARS bis 80 km (Drohnen sind für solche Aufgaben weniger geeignet). Allein bei der komplexeren und zeitkritischeren Zielzuweisung können die JSTARS-Fähigkeiten nicht ohne weiteres durch die genannten Systeme ersetzt werden (auf diese Funktion könnte wohl am ehesten verzichtet werden).

In einer Krise hätte der Einsatz von JSTARS vorwiegend destabilierende Konsequenzen, da der Gegner einen Angriff auf seine wichtigsten Bodenziele fürchten müßte und versucht wäre, das verwundbare und wichtige JSTARS seinerseits anzugreifen. Da JSTARS nicht Bestandteil der Luftverteidigung ist, sind versehentliche Flugzeugabschüsse weitgehend auszuschließen, doch könnte JSTARS Deep-Strikes von Kampfflugzeugen und taktischen Raketen auf die gegnerische Luftabwehr am Boden dirigieren, um sich vor der davon ausgehenden bzw. wahrgenommenen Bedrohung zu schützen. Dadurch wird JSTARS in einer Krise zu einer potentiellen Gefahr für praktisch alle, auch zivile Bodenziele.

Besondere Komplikationen könnten sich aus der Wechselbeziehung von AWACS und JSTARS ergeben, die gegenseitig aufeinander angewiesen sind: AWACS ist für den Schutz beider Systeme vor Angriffen aus der Luft verantwortlich, JSTARS dagegen für die Abwehr von Angriffen vom Boden aus. Für den Gegner sind die Systeme von außen nur schwer zu unterscheiden, so daß ein Angriff auch das »falsche« System treffen könnte. Positive und negative Eigenschaften beider Systeme könnten sich in einer Krise synergistisch verstärken. Dadurch wird die Aufgabe für die JSTARS-Operateure, die wie bei Aegis und AWACS auch einer großen Belastung ausgesetzt sind, nicht gerade übersichtlicher. Da das JSTARS-System ohnehin entlang der technischen und menschlichen Leistungsgrenzen operiert, könnten sich die unvermeidbaren Risiken komplexer Systeme auch hier bemerkbar machen.

Nachtrag

Dieser Beitrag wurde vor dem Golfkrieg geschrieben und unverändert übernommen. Unter dem Eindruck des ungewöhnlich intensiven und brutalen Krieges hätte vieles noch geschrieben werden können, doch werden die obigen Aussagen nur unwesentlich durch das Erlebte beeinflußt. Tatsächlich waren in diesem Krieg die Risiken komplexer Rüstungstechnik erfahrbar geworden, weniger in dem hier beschriebenen mehr technischen Sinne als vielmehr im militärstrategischen Sinne. Ohne Zweifel hat Rüstungstechnik nicht immer die ihr zugewiesene Funktion erfüllt, wie sich z.B. an dem ungeheuren Materialverschleiß von mehr als 100.000 Bombenflügen ersehen läßt und der geringen Effektivität bei der Schadensfeststellung oder der Jagd auf die Scuds. Andererseits hat die Waffentechnik gegenüber dem total unterlegenen Irak unerwartet »gut« funktioniert, besonders der als entscheidend angesehene Bereich der elektronischen Kriegführung und C³I-Systeme. Selbst die kühnsten Vorstellungen der Rüstungsenthusiasten wurden übertroffen.

Dieser scheinbare Widerspruch bestätigt auf diffizile Weise die Thesen dieses Beitrags, der auf eine Reduzierung der rüstungstechnischen Komplexität drängt. Moderne Rüstungstechnik ist für die Bewältigung höchster Anforderungen konzipiert und muß demnach eine hohe Effektivität aufweisen. Erkauft wird dies durch eine Abhängigkeit von den jeweiligen technischen Spezifika und Instabilitäten (Sachzwängen), damit die erwünschte Effektivität erreicht wird. In Kenntnis der damit verbundenen Unsicherheiten und Schwächen sind die günstigsten Voraussetzungen im Falle eines eigenen Angriffs gegeben, möglichst gegen einen unterlegenen Gegner, der nur wenig zur Störung des Systems beitragen kann. In diesem Falle, der mit dem Irak gegeben war, kann das Vertrauen auf die eigene, waffentechnisch bedingte Überlegenheit die Bereitschaft zum Krieg erhöhen und zur Präemption verleiten, um die eigenen Waffen optimal einsetzen zu können. Dieser Effekt eines wahrscheinlicher gewordenen Krieges kann den Effekt einer Schadensbegrenzung wieder zunichte machen und zur Destabilisierung beitragen.

In einem derartigen Krieg einer Supermacht gegenüber einem isolierten Land der Dritten Welt ist der Ernstfall sogar der ideale Test für neue Waffen, deren Erprobung unter annähernd realistischen Bedingungen ansonsten kaum noch möglich oder zu teuer ist, besonders wenn der menschliche Faktor ins Spiel kommt. Tatsächlich hätte der Golfkrieg erfunden werden müssen, um all die Waffensysteme und Strategiekonzepte zum Einsatz zu bringen, die über 10 Jahre hinweg entwickelt wurden und unmittelbar vor diesem Krieg einsatzfähig wurden. Hierzu gehört das Air-Land-Battle Konzept, von dem häufig abgestritten wurde, daß es dies überhaupt gibt, ebenso wie Stealth-Bomber, Nachtsichtgeräte, lenkbare Flugkörper und Marschflugkörper, aber auch JSTARS, von dem die ersten Prototypen »erfolgreich« eingesetzt wurden (entsprechendes wurde von AWACS gemeldet). Ganz anders hätte die Situation ausgesehen, wären die Waffen gegen den Gegner zum Einsatz gekommen gegen den sie eigentlich entwickelt wurden: die Sowjetunion. Eine langfristige Gefahr liegt darin, daß sich der Eindruck festsetzt, mit elektronischen Waffen liesse sich auch der Schaden in einem Atomkrieg begrenzen. Der scheinbar grandiose Erfolg der Patriot und die daraufhin erneuerte SDI-Diskussion lassen hier nichts Gutes ahnen.

Literatur

Die Literaturliste wurde bereits im ersten Teil veröffentlicht. Verwiesen sei hier auf zwei neuere Veröffentlichungen:

Eurich, C.; Tödliche Signale: Die kriegerische Geschichte der Informationstechnik, Luchterhand, 1991

Scheffran, J.; NATO Command and Control Between High-Tech Warfare and Disarmament, Frankfurt: HSFK-Report, 1991

Anmerkungen

1) Eine zusammenhängende Darstellung des FOFA-Konzepts, der geplanten Waffen und möglicher Kosten und Risiken findet sich etwa bei OTA (1987) und Nikutta (1987). Zurück

2) Zur Übersicht über diese Struktur sei verwiesen auf Scheffran (1991). Zurück

3) Stares (1990). Zurück

4)Stares (1990), S. 5-79. Zurück

5) U.S. General Accounting Office, Improved Aircraft Identification Capabilities: A Critical Need, GAO/NSIAD-86-181, August 1986, S. 3. Zitiert nach Stares (1990), S. 5-80. Zurück

6)Grin (1990), S. 153. Zurück

7)Das NATO Identification System (NIS) und das Multifunction Information and Distribution System (MIDS), das als NATO-Version des Joint Tactical Information and Distribution System (JTIDS) der USA fungiert. Zurück

8)Eine ausführliche Beschreibung von E-3A wird von Grin (1990) gegeben. Zurück

9) Grin (1990), S. 139. Zurück

10) Grin (1990), S. 148, schätzt, daß die gesamte E-3A-Mannschaft, je nach Lage der Dinge, gegen die vorgesehenen 400 Ziele lediglich zwischen 9 und 54 Abwehrvorgänge durchführen kann. Zurück

11) Grin (1990), S. 151. Zurück

12) Grin (1990), S. 151. Das genannte Beispiel bezog sich auf eine Ost-West-Krise, könnte aber auch überall dort auftreten, wo AWACS eingesetzt wird, etwa in der Golfkrise. Zurück

13) Wegen dieser Analogie soll auf eine ausführliche Darstellung hier verzichtet werden. Zurück

14) Ende 1988 waren 22 Flugzeuge geplant für insgesamt 6.6. Milliarden Dollar, was einen relativ zu AWACS höheren Stückpreis von 300 Millionen Dollar ergibt. Für mehr als hundert Bodenstationen waren mehr als eine Milliarde Dollar eingeplant. Zurück

15) Grin (1990), C³I (1988). Zurück

16) OTA (1987), S. 144. Zurück

17) Grin (1990), S. 191. Zurück

Dr. Jürgen Scheffran ist Physiker an der TH Darmstadt.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1991/1 Nach dem Golfkrieg, Seite