W&F 2022/3

Rückblick als Vorausblick?

Eine Eventdatenanalyse des ersten Kriegsjahres in der Ukraine

von Jan Niklas Rolf

Rückblick: Am 17. Juli 2014 wurde ein Passagierflugzeug der Malaysia Airlines mit 298 Insassen über der Ostukraine abgeschossen, was den seit Monaten tobenden Krieg in der Ukraine nochmals auf eine neue Eskalationsstufe hob. Doch wer war für den Abschuss verantwortlich und war eine solche Eskalation vorhersehbar? Anhand einer quantitativen Analyse der Ereignisse des Jahres 2014 versucht dieser Beitrag Antworten auf diese Fragen zu liefern. Der Aufforderung von Melanie Hussak und Jürgen Scheffran (2022) im vorherigen Heft folgend, „Frühwarnsystemen wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken und auch stärker militärische Analysen und Szenarien in Risikobewertungen einzubeziehen“, soll untersucht werden, ob die Ereignisse Rückschlüsse über die mögliche Wahl von unkonventionellen Mitteln durch Russland in der Ukraine zulassen.

Am Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine mahnte Wladimir Putin in seiner Fernsehansprache: „Wer immer sich uns in den Weg stellt oder gar unser Land, unser Volk bedroht, muss wissen, dass Russlands Antwort augenblicklich erfolgen wird, und sie wird Folgen haben, wie Sie sie in Ihrer Geschichte noch nicht erlebt haben“ (zit. in Gillmann 2022). Auf diese Drohung folgte wenige Tage später die Versetzung der russischen Abschreckungswaffen – darunter der strategischen Atomwaffen – in besondere Alarmbereitschaft. Diese doppelte Drohgebärde schien ihre Wirkung nicht zu verfehlen, argumentierten führende Politiker*innen im Westen doch fortan, dass eine aktive Unterstützung der Ukraine – etwa in Form der Entsendung von Soldat*innen oder der Errichtung einer Flugverbotszone – unmöglich sei, da sie nahezu unweigerlich in einem Atomkrieg münde.1

In Anbetracht der territorialen (aber auch personellen und materiellen) Verluste Russlands im Verlauf der ersten Kriegsmonate im Jahr 2022 warnten Expert*innen zudem vor dem Einsatz taktischer Atomwaffen, mit denen Russland einen Sieg doch noch erzwingen könne. „Angesichts der Rückschläge, die sie [Präsident Putin und die russische Führung] bisher militärisch hinnehmen mussten,“ so CIA-Direktor William Burns am 14. April 2022, „kann niemand von uns die Bedrohung durch einen möglichen Rückgriff auf taktische Nuklearwaffen oder Nuklearwaffen mit geringer Reichweite auf die leichte Schulter nehmen“ (zit. nach Strobel 2022).

Tatsächlich geht die von den Psychologen Daniel Kahneman und Amos Tversky (1979) entwickelte Erwartungstheorie (englisch: »Prospect Theory«) davon aus, dass Individuen im Angesicht von Verlusten größere Risiken einzugehen bereit sind als im Angesicht von Gewinnen: Befinden wir uns in einer vorteilhaften Position, agieren wir eher vorsichtig, um unsere Gewinne zu sichern. Befinden wir uns dagegen in einer nachteiligen Position, neigen wir zu riskantem Verhalten, um unsere Verluste umzukehren. Lässt sich mit dieser auf Laborexperimenten beruhenden Theorie auch das Verhalten Russlands im aktuellen Ukraine-Krieg vorhersagen?2 Wie so oft kann auch diesmal ein Blick in die Vergangenheit helfen, erwartbare Ereignisse einzuordnen.

Der Krieg in der Ukraine begann nicht etwa mit dem russischen Überfall am 24. Februar 2022, sondern bereits im Frühjahr 2014, als auf der Krim und insbesondere im Osten der Ukraine heftige Kämpfe zwischen ukrainischen Truppen und von Moskau unterstützten pro-russischen Separatisten ausbrachen. Im Gegensatz zu Russland verfügen die pro-russischen Separatisten zwar über keine atomar bestückten Raketen, wohl aber über von Russland zur Verfügung gestellte mobile Mittelstrecken-Boden-Luft-Lenkraketen. Wie die nachfolgende Eventdatenanalyse offenbart, kamen diese Raketen just in dem Moment zum Einsatz, in dem die Separatisten massiv zurückgedrängt wurden. Zwar ist der Abschuss des malaysischen Passagierflugzeuges mit der Flugnummer MH17 im Sommer 2014 – bei aller Tragik – nicht mit dem Einsatz taktischer Atomwaffen zu vergleichen, er zeigt jedoch, dass Akteure, die sich in der Defensive befinden, bereit sind, zu – für ihre Verhältnisse – unkonventionellen Mitteln zu greifen.

Unkonventionelle Mittel

Die hier angestellte Eventdatenanalyse stützt sich auf die mehr als 2.000 Ereignisse, die die täglich aktualisierte, aber inzwischen eingestellte »Ukraine Crisis Timeline« der unabhängigen US-amerikanischen Denkfabrik »Center for Strategic and International Studies« für den Zeitraum von November 2013 bis Februar 2017 ausweist. Ereignisse sind verbale oder physische Signale, denen ein Sender und Empfänger zugeordnet werden kann. Die insgesamt 357 von Januar bis Dezember 2014 zwischen der ukrainischen Regierung und den pro-russischen Separatisten ausgetauschten feindlichen Signale wurden für die hier angestellte Analyse herausgefiltert, gemäß Edward Azar und Thomas Sloan (1975) einer von sieben Ereigniskategorien zugeordnet und – da es sich bei einer »Kriegshandlung« um ein weitaus feindlicheres Signal als beispielsweise einer »Unmutsbekundung« handelt – mit den entsprechenden, von einem Expert*innenpanel vorgeschlagenen Faktoren multipliziert (siehe Tabelle 1).

Ereigniskategorie

Faktor

Umfangreiche Kriegshandlung

102

Begrenzte Kriegshandlung

65

Militärische Aktion geringen Ausmaßes

50

Politisch-militärische feindliche Handlung

44

Diplomatisch-wirtschaftliche feindliche Handlung

29

Starke verbale Unmutsbekundung

16

Leichte verbale Unmutsbekundung

6

Tabelle 1: Kodierungsschema nach Azar und Sloan (1975)

Grafik Abbildung 1

Abbildung 1: Intensität der 2014 von ukrainischer Regierung und pro-russischen Separatisten ausgesandten feindlichen Signale

Aggregiert in monatliche Einheiten, ergibt sich das Kurvendiagramm in Abbildung 1. In den ersten sechs Monaten sind die beiden Kurven nahezu deckungsgleich, was davon zeugt, dass die ukrainische Regierung und die pro-russischen Separatisten ihre feindlichen Signale symmetrisch (de-)eskalierten. Dieses »tit-for-tat«-Muster ist typisch für Gewaltkonflikte, in denen auf eine feindliche Aktion stets eine gleichwertige Reaktion erfolgt (siehe beispielsweise Azar 1972; Fielding und Shortland 2010; Linke, Witmer und O’Loughlin 2012).

Nach einer ersten Deeskalationsphase im sechsten Monat steigen die beiden Kurven im siebten Monat wieder an. Doch während die Kurve der ukrainischen Regierung auf einen Wert von 1249 steigt, nimmt die Kurve der pro-russischen Separatisten nur einen Wert von 918 an, das heißt, auf ein feindliches Signal der ukrainischen Regierung kommen nur noch 0,73 feindliche Signale der pro-russischen Separatisten.3 Die entstehende Lücke ist ein Indikator dafür, dass die pro-russischen Separatisten der ukrainischen Regierung merklich weniger entgegenzusetzen hatten. Tatsächlich begann die ukrainische Armee in diesem Monat ihre Juli-Offensive, in deren Verlauf sie zahlreiche Städte im Donbass zurückerobern konnte. Um die eintreffenden feindlichen Signale zu erwidern, blieb den Separatisten scheinbar nichts anderes übrig, als zu unkonventionellen Mitteln zu greifen. Der Einsatz von Mittelstrecken-Boden-Luft-Lenkraketen ist ein solch – für eine Volksmiliz – unkonventionelles Mittel. Nachdem am 14. Juli 2014 bereits eine ukrainische Militärmaschine in über 6.500 Metern Höhe abgeschossen wurde, folgte am 17. Juli 2014 der Abschuss des malaysischen Passagierflugzeuges mit der Flugnummer MH17.

Umstrittene Ereignisse

Der Abschuss von MH17 – ob beabsichtigt oder nicht – ist nicht nur ein besonders fatales, sondern auch ein besonders umstrittenes Ereignis. So beschuldigen sich die ukrainische Regierung und die pro-russischen Separatisten bis zum heutige Tage, das vollbesetzte Passagierflugzeug zum Absturz gebracht zu haben. Der Umstand, dass die Frage nach der Täterschaft zunächst offen blieb, mag neben der Tatsache, dass bei dem Absturz keine ukrainischen Staatsbürger*innen ums Leben kamen, erklären, warum die Ukraine in den Folgemonaten nicht mehr, sondern weniger feindliche Signale sendete und es zu einer vorübergehenden »Resymmetrierung« der feindlichen Signale auf niedrigerem Niveau kam. Erst im Jahr 2016 gelangte eine Ermittlungsgruppe unter niederländischer Führung zu dem Ergebnis, dass das Flugzeug mit einer russischen Boden-Luft-Rakete vom Typ Buk-M1 abgeschossen wurde, die von einem von pro-russischen Separatisten kontrollierten Feld aus abgefeuert wurde. Sollte dies der Wahrheit entsprechen, wovon bei aller gebotenen Vorsicht auszugehen ist, bestätigt dies, was sich bereits aus den obigen Daten ablesen lässt: Dass der Einsatz von Mittelstrecken-Boden-Luft-Lenkraketen für die pro-russischen Separatisten eine Möglichkeit – vielleicht die einzige Möglichkeit – war, die Symmetrie der ersten sechs Monate wiederherzustellen.

Dabei ist der Abschuss von MH17 bei weitem nicht das einzige umstrittene Kriegsereignis der letzten Jahre.4 Im Syrien-Krieg gab es beispielsweise eine Reihe von Giftgasangriffen, die keiner Kriegspartei eindeutig zugeordnet werden konnten. Zwar richtete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen einen gemeinsamen Untersuchungsmechanismus ein, doch wurde die Erneuerung seines Mandats wiederholt von Russland blockiert. Auch hier könnte ein enges Monitoring der Geschehnisse dabei helfen, die Wahrscheinlichkeit eines Einsatzes von unkonventionellen Mitteln zu bestimmen und die Täter*innen eines nicht zuzuordnenden Angriffs zu identifizieren: Weist die Interaktion der Kriegsparteien wie im obigen Fall ein starkes Muster der Reziprozität auf, und weicht eine Partei für einige Zeit von diesem Muster ab, indem sie deutlich weniger feindliche Signale sendet als sie empfängt, könnte dies darauf hindeuten, dass die Partei nicht mehr in der Lage ist, mit konventionellen Mitteln mitzuhalten. Im Gegensatz dazu ist es eher unwahrscheinlich, dass eine Partei, die in der Lage ist, die eingehenden feindlichen Signale zu erwidern (oder die bereits mehr feindliche Signale sendet als sie empfängt), zu unkonventionellen Mitteln greift.

Ein gesichtswahrender Ausweg: Losung und Lösung?

Der Einsatz von Mittelstrecken-Boden-Luft-Lenkraketen durch eine in die Defensive gedrängte Volksmiliz zeugt davon, dass Kriegsakteure im Angesicht von Verlusten dazu bereit sind, unkonventionelle Mittel zu ergreifen. Vor diesem Hintergrund ist nicht auszuschließen, dass Russland, wenn militärisch in die Enge getrieben, einen Ausweg im Einsatz taktischer Atomwaffen sucht. Das Massaker von Butscha – ein weiteres umstrittenes (oder besser: von Russland bestrittenes) Ereignis – mag hier nur ein trauriger Vorbote gewesen sein. Was bedeutet das für die Ukraine? Aus moralischer wie taktischer Sicht kann man ihr kaum dazu raten, den russischen Angriff weniger resolut zurückzuschlagen. Deshalb kann die Losung nur lauten, Putin nicht komplett in die Ecke zu drängen, sondern ihm einen gesichtswahrenden Ausweg zu lassen, so schwer es angesichts des von ihm begonnenen Angriffskriegs und der von ihm befehligten Gräueltaten auch fallen mag.

Dies wird noch dadurch erschwert, dass der russische Präsident nicht nur etwaige Rückschläge auf dem Schlachtfeld, sondern die Unabhängigkeit der Ukraine als solche als Verlust betrachtet. So hat er der Ukraine, die er als historisch russisches Land ansieht, mehrfach ihr Existenzrecht abgesprochen. Dies mag eine Erklärung (aber keinesfalls eine Rechtfertigung) dafür liefern, weshalb Putin einen höchst risikobehafteten Angriffskrieg in der Ukraine führt. Für Jeffrey Taliaferro (2004) sind risikoreiche Interventionen (und sicherlich auch Invasionen) dagegen eher eine Folge von relativen Macht- und Ansehensverlusten. Der Zerfall der Sowjetunion, von Putin als größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet, sowie Barack Obamas Verunglimpfung Russlands als Regionalmacht mögen schlussendlich also auch einen Teil zum gegenwärtigen Krieg in der Ukraine und der Schwierigkeit seiner Befriedung beigetragen haben.

Anmerkungen

1) Siehe etwa Olaf Scholz, zitiert in Der Spiegel (2022).

2) Für einen ersten, im Lichte des russischen Angriffskriegs allerdings unbefriedigenden Versuch, siehe Aleprete (2017). Siehe auch He und Feng (2013), die die Erwartungstheorie auf mehrere außenpolitische Entscheidungen im asiatisch-pazifischen Raum angewandt haben.

3) Der Abschuss des malaysischen Passagierflugzeuges mit der Flugnummer MH17 wurde zum Zwecke der besseren graphischen Darstellung nicht kodiert. Bis zum Abschuss des Flugzeuges am 17. Juli weisen die von der ukrainischen Regierung gesendeten feindlichen Signale einen Wert von 794 und die von den pro-russischen Separatisten gesendeten feindlichen Signale einen Wert von 554 auf, das heißt auf ein feindliches Signal der ukrainischen Regierung kommen 0,69 feindliche Signale der pro-russischen Separatisten.

4) Siehe etwa Bauer, Ruby und Pape (2017).

Literatur

Aleprete, M. (2017): Minimizing loss: explaining Russian policy choices during the Ukrainian crisis. The Soviet and Post Soviet Review 44(1), S. 53-75.

Azar, E. E. (1972): Conflict escalation and conflict reduction in an international crisis: Suez, 1956. Journal of Conflict Resolution 16(2), S. 183-201.

Azar, E. E.; Sloan, T. J. (1975): Dimensions of interaction: a source book for the study of 31 nations from 1948 through 1973. Studies of Conflict and Peace, Department of Political Science, University of North Carolina at Chapel Hill.

Bauer, V.; Ruby, K.; Pape, R. (2017): Solving the problem of unattributed political violence. Journal of Conflict Resolution 61(7), S. 1537-1564.

Der Spiegel (2022): »Es darf keinen Atomkrieg geben«. Bundeskanzler Scholz im Interview mit dem SPIEGEL. 22.04.2022

Fielding, D.; Shortland, A. (2010): ‘An eye for an eye, a tooth for a tooth’: political violence and counter-insurgency in Egypt. Journal of Peace Research 47(4), S. 433-447.

Gillmann, B. (2022): Atomwaffen: Wie ernst ist die nukleare Bedrohung durch Russland? Handelsblatt, 20.05.2022.

He, K.; Feng, H. (2013): Prospect theory and foreign policy analysis in the Asia Pacific: rational leaders and risky behavior. New York: Taylor and Francis.

Hussak, M.; Scheffran, J. (2022): Alles über Bord werfen? Friedenswissenschaft und Friedensbewegung im Kontext des Ukrainekrieges. W&F 2/2022, S. 6-8.

Kahneman, D.; Tversky, A. (1979): Prospect theory: an analysis of decision under risk. Econometrica 47(2), S. 263-291.

Linke, A. M.; Witmer F. D. W.; O’Loughlin, J. (2012): Space-time granger analysis of the war in Iraq: a study of coalition and insurgent action-reaction. International Interactions 38(4), S. 402-425.

Taliaferro, J. W. (2004): Power politics and the balance of risk: hypotheses on great power intervention in the periphery. Political Psychology 25(2), S. 177-210.

Strobel, W. P. (2022): CIA chief: Don’t ‘take lightly’ threat Putin could use limited nuclear strike. The Wall Street Journal, 15.04.2022.

Dr. Jan Niklas Rolf ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Europapolitik und Internationale Beziehungen an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2022/3 Krieg gegen die Ukraine, Seite 18–20