W&F 2000/2

Rüstung in Russland

Entwicklungstendenzen und Exporte

von Peter Lock

Um die gegenwärtige Situation des russischen militärisch-industriellen Komplexes – in der russischen Abkürzung VPK – zu verstehen, ist ein kurzer Rückblick auf den sowjetischen VPK und seine Rolle im innergesellschaftlichen Kräftespiel notwendig. Im Hinblick auf sein Verhältnis zu den Rüstungsindustrien in den führenden westlichen Industriestaaten ist die außerordentliche Beschleunigung des Innovationstempos in zivilen Sektoren von großer Bedeutung, das inzwischen auch die Entwicklung der meisten militärischen Systeme bestimmt. Denn das Dilemma des sowjetischen VPK bestand darin, daß er keine Verbindung zur globalen Dynamik ziviler Innovation hatte. Die zahlreichen technologischen Spitzenleistungen des VPK, z.B. in der Weltraumforschung, können nicht darüber hinweg täuschen, daß die Isolation der Sowjetunion von der Dynamik des zivilen Weltmarktes dazu geführt hat, daß man industriell das Zeitalter der Informationstechnologien verpasst hat. Wegen der nach wie vor weitgehend chaotischen Verhältnisse in der russischen Volkswirtschaft hat sich bis heute, trotz der prinzipiellen Verfügbarkeit hervorragend ausgebildeten wissenschaftlichen Personals, daran wenig geändert.

Immerhin hat sich die Diskussion längst von naiven Erwartungen an die Möglichkeiten friedenskensianischer Strategien nach dem Ende des Kalten Krieges als Umkehrung vom Rüstungskensianismus verabschiedet. Die »Friedensdividende« war zwar eine notwendige Utopie während des Kalten Krieges, aber sie war zugleich auch eine von Kenntnissen wirtschaftlicher Zusammenhänge kaum getrübte Wunschvorstellung. Denn man war einerseits einem falschen Image herausragender technologischer und unternehmerischer Leistungsfähigkeit der Rüstungsindustrie aufgesessen und hatte andererseits die Hinterlassenschaft des Kalten Krieges in Form von riesigen Hypotheken übersehen, die von nachfolgenden Generationen noch abgetragen werden müssen.1 Unmittelbare Wohlfahrtsgewinne hat es daher nicht gegeben, während die langfristigen positiven Wirkungen sich in der allgemeinen konjunkturellen Entwicklung verlieren.

Vor allem in Russland ist es bislang nicht gelungen, die im VPK gebundenen Ressourcen umzusteuern. Mehr noch, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Russlands hat sich trotz massiver Rohstoffexporte soweit verschlechtert, daß man um die Aufrechterhaltung von einheitlicher Staatlichkeit, insbesondere der Reproduktion leistungsfähiger Streitkräfte, fürchten muß. Vor dem Hintergrund von Verfügbarkeit und notwendiger Kontrolle von großen Mengen zum Teil weitreichender Massenvernichtungswaffen müssen die Entwicklung des russischen VPK und die wirtschaftliche Entwicklung des Landes als ein vorrangiges Problem für die globale Sicherheit betrachtet werden. Die Gefahren, die sich aus der gegenwärtigen russischen Misere ergeben können, sind ungleich größer als die Schäden, die von den sog. Schurkenstaaten und internationalen Terroristen angerichtet werden können.

Die notwendige Vorgeschichte

Während Gorbatschow mit Rüstungsminderungen eine systemische Stabilisierung anstrebte und die ökonomische Implosion der sowjetischen Wirtschaft durch Konversion zu verhindern suchte, wurde er im Westen als Systemveränderer hofiert. Die Menschen in Russland und den anderen Staaten der Sowjetunion haben die Gorbatschow'sche Politik realistisch bewertet und ihn nach seiner Entmachtung mit Verachtung gestraft während er im Westen weiter als der gefeiert wird, der er wider eigenen Willen wurde. Er war Auslöser oder doch zumindest Beschleuniger einer systemischen Veränderung, deren Ausgangspunkt die Implosion des erschöpften, von Rustüngsproduktion geprägten sowjetischen Wirtschaftssystems war.

Die Wahrnehmung des VPK als vermeintlich besonders leistungsfähiger Sektor innerhalb der sowjetischen Wirtschaft hat zu einer fatalen Restrukturierung der sowjetischen Industrie unter Gorbatschow geführt. Mit dem Ziel, die Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern und besonders langlebigen Gebrauchsgütern in hinreichender Menge und in verbesserter Qualität zu erreichen, wurden Ende der Achtzigerjahre Unternehmen des zivilen Sektors in großem Umfang in den VPK integriert, sodaß statistisch der Anteil des VPK an der zivilen Produktion dramatisch stieg. Gleichzeitig hatte sich damit der Machtbereich der lokalen und regionalen VPK-Direktoren während der Endphase der Sowjetunion teilweise umfassend erweitert. Zwar schmelzen diese »machtvollen Eisberge« des VPK, die die Industrielandschaft nach wie vor prägen, seit 1990 unaufhaltsam ab. Aber es ist gegenwärtig nicht erkennbar, wann dieser Prozeß zum Stillstand kommen und sich selektiv in bestimmte Richtungen umkehren wird.

Zunächst ist festzuhalten, daß das sowjetische Rüstungssystem weit weniger effizient gesteuert war als es dessen auf die Legitimation der eigenen militärischen Industrie-, Forschungs- und Bürokratiekomplexe ausgerichtete Projektion im Westen Glauben machte. Eine Kombination von vertikaler sektorieller Segmentierung des VPK durch oft wahllose, zentralistische Zuordnung zu den zahlreichen Branchenministerien und umfassender Steuerungsmacht einzelner Unternehmen – vor allem aufgrund ihrer häufig regional dominanten Position – hat den zentralen Planungsvorgang de facto weitgehend zu einem Anpassungsprozeß an die existierenden und sich ständig verstärkenden Machtpositionen dominanter Akteure sowohl auf Unternehmens- als auch auf der Ebene einzelner Branchenministerien gemacht. Verstärkt durch die geradezu paranoide Geheimhaltung innerhalb des VPK startete die russische Föderation mit einer industriellen Infrastruktur, die durch totale Intransparenz, ineffektive parallele Mehrfachentwicklungen im F&E-Bereich und großen Disökonomien durch vertikale Integration ohne Berücksichtigung der damit verbundenen Kosten gekennzeichnet war. Auch das System der sowjetischen Rüstungsproduktion befand sich in den Achtzigerjahren bereits in einer schweren Entwicklungskrise, die in den propagandistischen Nebeln des Kalten Krieges weitgehend verhüllt blieb.

Alle Versuche des VPK, den Innovationsprozeß zu effektivieren und den Beschaffungsprozeß zu rationalisieren, sind an der »Vermachtung« des ökonomischen Systems gescheitert. Während die Einführung unterschiedlicher Typen eines Waffensystems im Westen als Sequenz auf einem bedrohlich effizienten Innovationspfad des sowjetischen VPK dargestellt wurde, handelte es sich tatsächlich aber häufig um verschiedene Baumuster der gleichen Generation, die von konkurrierenden, aber durchsetzungsmächtigen Produktionsverbünden entwickelt worden waren. Klassisches Beispiel sind die Panzer der Baumuster T 64, T 72, T 80, die im Westen alarmistisch als vermeintlicher Beweis für eine bedrohliche Innovationskompetenz der sowjetischen Rüstungsindustrie dargestellt wurden, obgleich es sich um konkurrierende Produkte handelte, die allen militärischen Erfordernissen widersprechend parallel beschafft wurden. Die Sowjetarmee war politisch nicht in der Lage, die Beschaffung an militärischen Prioritäten zu orientieren und zwecks Standardisierung das beste Baumuster auszuwählen. Die jeweiligen Produktionsverbünde erwiesen sich politisch als mächtiger.

Überspitzt formuliert war die Rüstungsbeschaffung in der Sowjetunion und damit indirekt auch die Doktrin eine Funktion der Machtverhältnisse unter den segmentierten Akteuren des VPK. Daher war es nur konsequent, daß sowohl Gorbatschow als auch später Jelzin innerhalb der militärischen Führungsschicht Unterstützung fanden, denn dort war man davon überzeugt, daß der sowjetische VPK den technologischen Wettlauf ohne einschneidende wirtschaftliche Veränderungen und den Zugriff auf westliche Technologien endgültig verlieren würde.

In einem Punkt waren alle Akteure des VPK vereint und haben sehr erfolgreich ihre partikularen ökonomischen Interessen als Kollektiv zum Schaden der sowjetischen Volkswirtschaft durchgesetzt: Rüstungsexporte galten als Ausdruck des Erfolges des sowjetischen Systems gegenüber dem Westen. Der expansiven Breshnew-Doktrin blieben zumeist nur ärmste Drittweltstaaten als Kooperationspartner (u.a. Angola, Mozambique, Kuba, Äthiopien, Somalia, Nicaragua). Daher waren die expandierenden sowjetischen Rüstungsexporte gesamtwirtschaftlich eine große Belastung, denn nur ein geringer Teil wurde bezahlt. Auch finanzkräftigere Rüstungskunden wie Syrien, Irak und Indien ließen »anschreiben«. Zumeist wurden »unendliche« Kredite vergeben. In der innersowjetischen Konkurrenz um Ressourcen waren die an Rüstungsexporten beteiligten Unternehmen gleichwohl privilegiert, denn die Exporte wurden bei Ablieferung aus der Staatskasse in Rubel bezahlt, unabhängig davon, ob die Empfängerländer jemals für die Lieferungen bezahlten.

Die allgemeine Rüstungsexporthausse nach der Ölkrise im Jahre 1973 hatte zu einer stetigen Ausweitung auch der sowjetischen Rüstungsexporte geführt. Daraus hat sich eine sich selbst immer weiter verstärkende ökonomische Position des VPK im sowjetischen System ergeben. Der VPK konnte höhere Löhne zahlen und umfangreiche Sozialleistungen bieten, was zu einer Konzentration besonders qualifizierter Arbeitskräfte im VPK führte. Zusätzlich hatten Rüstungsunternehmen und militärische Forschungsinstitute privilegierten Zugang zu selektiven Importen aus westlichen Industriestaaten, vor allem im Werkzeugmaschinenbereich, nachdem durch Energieexporte nach Westeuropa hinreichend Devisen verfügbar geworden waren. Die Allokation erheblicher Devisen zur Beschaffung westlicher Werkzeugmaschinen, häufig unter Umgehung der COCOM-Restriktionen, an den VPK brachte volkswirtschaftlich kaum Produktivitätsfortschritte, da in Abwesenheit von Marktmechanismen in der vertikal zerklüfteten Rüstungsindustrie Maschinenlaufzeiten dieser Hightech-Importe von wenigen Tagen pro Jahr keine Seltenheit waren.

Rüstung in Russland

Mit dem Ende der Sowjetunion und dem Beginn der Liberalisierung im Jahre 1992 unter Gaidar ist der Rüstungsmarkt intern und extern zusammengebrochen. Der Staat verfügte weder über die Mittel für militärische Beschaffung, noch über die Mittel für die Kreditierung von Exportgeschäften nach altem Muster. Durch die anfänglich weitgehende Ausnahme des VPK von der Privatisierung und die massive vertikal integrierte Produktion, die durch die Übernahme ziviler Fertigung Ende der Achtzigerjahre um die Dimension häufig auch lokaler horizontaler Konzentration erweitert worden war, hat sich der Kern der Rüstungsindustrie trotz minimaler Beschaffungsvolumen in Russland auf erheblich abgesenktem Niveau gehalten. Zunächst negierte man die veränderte Lage und setzte die Produktion auf der Grundlage einer Pyramide von Lieferantenkrediten fort, wozu auch die Herstellung von Konsumgütern im Rahmen planwirtschaftlicher Konversionsvorgaben gehörte, für die es allerdings kaum Nachfrage gab. Dies führte zu teilweise großen Lagerbeständen an Waffensystemen unterschiedlichster Art. Folglich konzentrierten sich alle Anstrengungen auf Rüstungsexport, vorgeblich um auf diese Weise die Umstellung der Rüstungsindustrie auf zivile Produktion zu finanzieren. Mit Ausnahme der Lieferung militärischer Hochtechnologie nach China gab es jedoch wenig zahlungskräftige Nachfrage nach russischer Militärtechnologie. Entsprechend hat der Sektor große Verluste an qualifiziertem Personal an den Dienstleistungssektor erlitten und operiert auf niedrigstem Lohnniveau. Aber für die verbliebene Belegschaft ist die Betriebszugehörigkeit, trotz Zwangsurlaub und Wochenarbeitszeiten von ein bis zwei Tagen, zumeist ohne Alternative. Der Mobilität, die mit einem Wohnortwechsel verbunden ist, sind in Russland enge bürokratische und wirtschaftliche Grenzen gesetzt.

Die Direktoren des VPK kontrollieren das Geschehen, sie haben häufig verwertbare Anlagen aus den Betrieben herausgelöst und zum eigenen Nutzen privatisiert oder Lagerbestände an Rohstoffen und Halbwaren illegal exportiert. Überwiegend kam es zu einer Nomenklaturaprivatisierung. Sie ermöglichte es den Direktoren häufig, sich »ihren« Betrieb mehr oder weniger anzueignen.

Hierdurch wurde das Netzwerk bestehender informeller Beziehungen wiederum zu einer zentralen Ressource der Transformation bzw. deren Verhinderung. Unter diesen Voraussetzungen ist die russische Wirtschaft insgesamt in sehr starkem Maße auf zwischenbetrieblichen Tauschhandel zurückgefallen. Wahrscheinlich ist, daß dies für die Rüstungsindustrie in besonders starkem Maße gilt. Aus den akkumulierten zwischenbetrieblichen Verschuldungspyramiden der ersten Jahre, die per Dekret abgeschrieben wurden, hat sich eine auf Tausch beruhende Wirtschaftsweise entwickelt. Selbst Steuern werden durch Warenlieferungen abgegolten, deren Preise weit überhöht sind da es sich meist um Waren handelt, für die keine Nachfrage besteht und schon gar nicht zu den Verrechnungspreisen, die in diesen »Steuerzahlungen« nominal behauptet werden.

Staatliche Forschungsförderung, die grundsätzlich an militärischen Prioritäten ausgerichtet war, ist auf einem Minimum angelangt. Gleichwohl ist bislang die flächendeckende Schließung maroder Einrichtungen ausgeblieben und eine notwendige Restrukturierung verhindert worden. Hierzu haben zahlungsfähige Exportkunden in Nischenmärkten beigetragen. Hier ist vor allem der Satellitensektor zu nennen, in dem es eine intensive Zusammenarbeit mit westlichen Konzernen gibt, weil man bestimmte Technologien überlegen beherrscht und vor allem kostengünstig anbieten kann. Weitere Bereiche sind spezielle Werkstoffe, sowohl metallische als auch nichtmetallische. In einigen Fällen scheiterte eine Einbindung technisch leistungsfähiger Institute in global vernetzte Produktionsstrukturen an fehlenden Rahmenbedingungen wie fehlende Rechtssicherheit für potenzielle Partner und politische Einschränkungen der Handlungsfreiheit im militärisch-industriellen Bereich.

Entgegen der propagandistischen Darstellung paralleler Strukturen im Rüstungsbereich in West und Ost hatte sich seit den Siebzigerjahren eine dramatische Differenzierung der Grundlagen rüstungstechnologischer Entwicklung ergeben, die sich im Verlaufe der Zeit beschleunigt hat und auch in den westlichen Industrienationen zu einschneidenden Strukturveränderungen des Rüstungssektors geführt hat. Das Innovationstempo des Informationstechnologiesektors, dessen Dynamik von ziviler Nachfrage auf dem Weltmarkt bestimmt wird, hat das sowjetische, ausschließlich von militärischen Prioritäten bestimmte Innovationssystem uneinholbar abgehängt. Während in den westlichen Industriestaaten Waffensysteme und Produktionsverfahren immer stärker vom »spin-in« ziviler Informationstechnologie profitierten, hatte die sowjetische Rüstungsindustrie einen mindestens zehnjährigen informationtechnologischen Rückstand zu bewältigen. In begrenztem Maße gelang dies durch hochspezielle und aufwendige Softwareentwicklungen. Aber im Gegensatz zur westlichen Informationstechnologie, die auf zivile Märkte ausgerichtet und daher generisch konzipiert ist, hatten diese Lösungen kein kumulatives Entwicklungspotenzial.

Dieser Strukturwandel in der rüstungstechnologischen Innovation hat der russischen Rüstungsindustrie jede Chance genommen auch nur näherungssweise eine Parität zu wahren. Daher haben die Folgen der tiefen Wirtschaftskrise in Russland seit Beginn dieses Jahrzehnts den Niedergang der Rüstungsindustrie zwar beschleunigt, aber sie waren strukturell nicht ursächlich. Vielmehr war bereits der sowjetischen Wirtschaft aus systemischen Gründen eine Teilhabe an der zivil-industriellen Innovationsdynamik des Weltmarktes verschlossen geblieben.

Daher beruht die im VPK verbreitete Sowjetnostalgie auf einem Trugbild einer Zeit, in der man bereits den Anschluß endgültig verloren hatte. Die militärischen Spitzentechnologien des VPK befanden sich bereits in einer Sackgasse ohne langfristiges Entwicklungspotenzial. Darüber können beeindruckend agile Jagdflugzeuge von Sukhoi und MAPO (MIG) nicht hinweg täuschen. Den zur US-amerikanischen AirLand-Battle-Doktrin gehörenden Waffensystemen der Achtzigerjahre hatte die sowjetische Industrie nichts entgegen zu setzen. Der zweite Golfkrieg hat diesen Sachverhalt weltöffentlich gemacht.

Daß es den russischen Rüstungssektor überhaupt noch gibt, erklärt sich einerseits aus dem alternativlosen Prinzip Hoffnung der beteiligten Akteure, die sich noch nicht erfolgreich in andere Wirtschaftsbereiche absetzen konnten und mageren Exportmärkten, die Gegenstand des letzten Abschnittes sind. Die Beschaffung neuen Gerätes durch die russischen Streitkräfte ist minimal, jedenfalls seit die Hersteller auf wirklicher Bezahlung durch den Staat bestehen. Anfang der Neunzigerjahre hatten die Streitkräfte Waffen geordert, die nie oder so spät gezahlt wurden, daß die Zahlung aufgrund der hohen Inflationsrate den gelieferten Werten nicht einmal näherungsweise entsprachen. Der laufende Krieg in Tschetschenien und die damit verbundenen Änderungen des politischen Klimas eröffnen erstmals Chancen für ein wenig erhöhte Beschaffungen.

Sollten sich die russischen Staatsfinanzen wieder so weit konsolidieren, daß militärische Beschaffungen überhaupt in einem nennenswerten Umfang realisiert werden können – was derzeit nicht der Fall ist – dann stellt sich die Frage der Ausrichtung und Konzentration des Rüstungssektors auf der Grundlage einer noch zu entwickelnden Doktrin. Die dabei zu diskutierenden Optionen hängen unmittelbar vom politischen Umfeld ab, in dem sich Russland definieren muß. In erster Linie bedeutet das, daß das Verhältnis zur EU – und davon abgeleitet zur NATO – entscheidend diese Entwicklung prägen wird.

An eine eigenständige intensive Weiterentwicklung der Rüstungstechnologie ist nicht zu denken, selbst in jenen Nischen, in denen bereits entwickelte Prototypen, auch gemessen an westlichen Maßstäben, ein leistungsfähiges Angebot ergäben wenn man sie denn mit westlicher Elektronik ausgestattet in angemessener Frist auf dem Markt anbieten könnte. Ein Beispiel ist das neue militärische Transportflugzeuge Antonow 70. Ohne westlichen Partner wird man allein schon aus Kapitalmangel ein solches Produkt nicht zur Produktionsreife bringen können und wäre dann auch auf Exportmärkte angewiesen.

Dabei hat es gegenwärtig den Anschein, als hätten die westlichen Luftrüstungskonzerne ein Verweigerungskartell gebildet, das darauf aus ist die russische Luftfahrtindustrie endgültig auszuschalten. Vor allem der Zusammenbruch ziviler Märkte in Russland hat das »good will«-Potenzial selektiver rüstungswirtschaftlicher Zusammenarbeit auf Seiten der westlichen Luftfahrtindustrie als Eintrittskarte in die zivilen Märkte Russlands vollständig entwertet. Daher wird sich die Zusammenarbeit mit westlichen Unternehmen, auch im Rüstungsbereich, auf isolierte Komponentenfertigung in Fällen beschränken, in denen russische Unternehmen nach wie vor über ein verfahrenstechnisches »tacit know how« verfügen, das sie kostengünstig anbieten können. Außerdem hat wie bereits erwähnt die große Nachfrage nach ziviler Weltraumtechnologie einigen russischen Unternehmen, die ursprünglich dem VPK zugeordnet waren, gute Exportchancen eröffnet, die zu einer Konsolidierung der entsprechenden Unternehmen führen können, wenn es die Rahmenbedingungen erlauben.

Insgesamt aber bleibt die Situation in Russland von der Diskrepanz zwischen seinem potenziellen Reichtum und der Implosion der Ökonomie sowie dem Zerfall des Staates geprägt. Das gesamte Staatsbudget Russlands übersteigt kaum den Haushaltsansatz für die Bundeswehr, die Gesellschaft ist dem Staat entfremdet, das Bruttosozialprodukt liegt in der Größenordnung von Belgien. Ein erheblicher Teil der industriellen Produktion wird auf Tauschbasis abgewickelt, was hohe Transaktionskosten verursacht und konkurrenzfähige Exportproduktion nahezu unmöglich macht. Zusätzlich überlagern mächtige kriminelle Akteure die russische Ökonomie wie ein giftiger Nebel, für den staatliche Akteure kein Hindernis bilden.

Schließlich belastet das militärische Erbe des Kalten Krieges die russischen Perspektiven. Die noch zu erbringenden Lebenszykluskosten vor allem der Massenvernichtungswaffen übersteigen die finanzielle Leistungsfähigkeit Russlands deutlich. Zur Verhinderung von Katastrophenszenarien, die über Russland hinausreichen,2 muß das teure Recycling der kumulierten chemischen und nuklearen Kriegsmittel dringend als internationale Gemeinschaftsaufgabe angegangen werden.

Als gefährliche Alternative zu einer langsam zunehmenden rüstungsindustriellen Verflechtung und schließlichen Integration in einen gesamteuropäischen Verbund zeichnet sich ein abgekoppelter russischer, von Nationalismus getriebener Weg ab, der darauf verwiesen ist, die vergleichsweise spärlichen Ressourcen auf die Entwicklung größtmöglicher Abschreckung mit Massenvernichtungswaffen zu konzentrieren. Dies bedeutet die Entwicklung asymmetrischer militärischer Optionen in Russland, die das angehäufte Arsenal atomarer und chemischer Waffen aggressiv in Wert setzen. Denn differenziertere Doktrinen sind für ein isoliertes Russland, das sich von der NATO, d.h. den USA und Europa, bedroht sieht, nicht finanzierbar.

Rüstungsexport als scheinbarer Rettungsanker des VPK

Die nach wie vor große Aufmerksamkeit, die russischen Rüstungsexporten in den westlichen Medien zuteil wird, vermittelt ein falsches Bild. Die russischen Rüstungsexporte3 sind gegenüber sowjetischen Zeiten dramatisch gesunken und haben sich in den letzten drei Jahren ein wenig konsolidiert, weil die Volksrepublik China Aufträge über mehrere Milliarden US-$ an die russischen Luftrüstungsindustrie erteilt hat. Nahezu alle anderen lukrativen Märkte werden inzwischen von den USA beherrscht. Größere und kleinere Brosamen bleiben Großbritannien, Frankreich und rechnet man die Lieferungen von Überschußbeständen hinzu auch Deutschland.

Dabei ist zu beachten, daß sich Rüstungsimporte gegenüber den Achtzigerjahren insgesamt außergewöhnlich verringert haben. Gründe liegen in der Beendigung des Kalten Krieges und der ökonomisch erzwungenen Einstellung des konfrontativ begründeten faktischen Verschenkens von Waffen durch die Sowjetunion an befreundete Staaten und der tiefgreifenden Finanzkrise in vielen Staaten, die noch in den Achtzigerjahren stark gerüstet hatten. Ohne die Nachrüstung nach dem zweiten Golfkrieg in den Erdöldiktaturen der Region wäre der Zusammenbruch des internationalen Rüstungsmarktes noch drastischer ausgefallen.

Trotz größter Anstrengungen und massiver Beteiligung an allen Rüstungsmessen reduziert sich der russische Rüstungsexport auf:

  • die Lieferung moderner Luft- und Flottenrüstung an die Volksrepublik China in großem Umfang, einschließlich Know-how-Transfer (40 % und mehr);
  • die gelegentliche Berücksichtigung der Angebote in Erdöldiktaturen, Südkorea und Südostasien um die Verhandlungsposition gegenüber den dominierenden USA und Großbritannien zu verbessern (etwa 30%);
  • das Abtragen von massiver Verschuldung aus Zeiten des RGE durch Lieferung von Rüstungsgütern, z.B. MIG 29 an Ungarn;
  • neuerdings die Schaffung einer eigenständigen Agentur zur internationalen Vermarktung von Surplusmaterial, deren Erträge den Streitkräften zu Gute kommen soll (weniger als 10 %);
  • legale, aber vor allem illegale Transaktionen aller Art, dazu gehören Lieferungen innerhalb der GUS, Verschieben von Armeeeigentum auf Schwarzmärkte und verschleierte Lieferungen aus laufender Produktion durch kriminelle Akteure (Anteil wird heute auf nicht mehr als 10 % geschätzt). Da auch auf den völkerrechtlich legalen Märkten Schmiergeldzahlungen in Höhe von 15 % der Auftragssumme an der Tagesordnung sein sollen (vgl. Schreiber) ist eine Abgrenzung der beiden Sphären problematisch.

Mit einem maximalen Horizont von drei Mrd. US-$ für Exporte ist eine Refinanzierung und Modernisierung des russischen VPK ausgeschlossen. Ohne einschneidende Änderung der Situation wird das kontinuierliche Abschmelzen des VPK nicht aufgehalten, ferner wird man weiter technologisch den Anschluß an die von den USA forcierte Entwicklung verlieren und längerfristig nur noch als Billiganbieter einfacher Waffensysteme fungieren. Der strukturelle Niedergang wird bislang noch dadurch ein wenig verschleiert, daß die Entwicklungszeiträume komplexer Waffensysteme im Vergleich zur zivilen Technologie ungleich länger sind und daß Waffensysteme überaus lange Zeit, häufig bis zu 50 Jahre, eingesetzt werden und somit noch im Kalten Krieg erreichte Standards weiter marktfähig sind.

Trotz seiner prekären Situation hat Russland soweit bekannt sämtliche UN-Embargomaßnahmen diszipliniert mitgetragen und allen Versuchungen widerstanden Massenvernichtungswaffen zu exportieren.

Bleibt es bei der relativen Isolierung der russischen Industrie wird die Fähigkeit der Rüstungsindustrie weiter abnehmen, in Konkurrenz zu anderen Anbietern leistungsfähige Rüstungsgüter zu fertigen. Damit wäre sie dauerhaft auf die Bedienung illegaler Märkte in innerstaatlichen bewaffneten Konflikten verwiesen. So paradox es unseren im Kalten Krieg sozialisierten Ohren klingen mag, es liegt im europäischen Sicherheitsinteresse Wege zu finden, mit der russischen Rüstungsindustrie zu kooperieren und sie einzubinden.

Anmerkungen

1) Vgl. hierzu: Peter Lock, Auf Schulden gibt es keine Dividende. Friedensdividende: Einst notwendige Utopie, heute tragische Illusion, in: Der Überblick 2/1992, S. 67-70. Diese Hypotheken bestehen unter anderem in Fehlallokationen in der Volkswirtschaft, schamloser Vernutzung der Umwelt und schließlich hoher Staatsverschuldung.

2) Siehe: Lock, Peter / Opitz, Petra (1996): Deferred Costs of Mlitary Defence: An Underestimated Economic Burden, in: Chaterji et al. eds., Arms Spending, Development and Security, New Dehli 1996, S.253-266.

3) Daten zu russischen Rüstungsexporten finden sich in: SIPRI-Yearbook, erscheint bei Oxford University Press; auf den Internetseiten des US-amerikanischen Center for Defense Information und dem Informationsdienst des Council for a livable World Education Fund »Arms Trade News« in Washington D.C. 20002, 110 Maryland Avenue N.E., Suite 201, nützliche Informationen auch im Yearbook von BICC (Bonn International Center for Conversion).

Dr. Peter Lock, European Association for Research on Transformation, Hamburg / Moskau (EART) e.V.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2000/2 Russland – Zerfall einer Supermacht, Seite