W&F 2000/2

Russland und die GUS

von Olga Alexandrova

Der Machtwechsel im Kreml und der Krieg in Tschetschenien haben andere Ereignisse im postsowjetischen Raum beinah vollkommen verdrängt. Das Kürzel »GUS« (Gemeinschaft Unabhängiger Staaten) sagt der westlichen Öffentlichkeit nach wie vor sehr wenig. Unterdessen zeichnen sich Tendenzen auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion ab, die zur Neugestaltung des postsowjetischen Raums führen.

Die Transformation der Sowjetunion in die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten wurde im Jahre 1991 mit dem Ziel durchgeführt, einen friedlichen Übergang von einem unitaren Bundesstaat in einen lockeren Staatenbund herbeizuführen. Die Mitgliedsstaaten der GUS, damals die sowjetischen Unionsrepubliken, sind mit stark divergierenden Zielen und Erwartungen und manche – wie Aserbaidschan, Georgien oder Moldova – nur unter starkem Druck Russlands der GUS beigetreten. Jeder von diesen Staaten verstand die Gemeinschaft auf seine eigene Art und Weise. Während Russland die GUS eher als eine Fortsetzung des früheren Bundesstaates in einer lockereren Form sehen wollte, betrachtete z.B. die Ukraine die Gemeinschaft lediglich als ein Instrument der »zivilisierten Scheidung«. Der Präsident Kasachstans, Nasarbaew, schlug dagegen die Schaffung einer Eurasischen Union mit suprastaatlichen Strukturen vor. Turkmenistan trat konsequent gegen eine engere Integration innerhalb der Gemeinschaft ein und bestand – wie die Ukraine – darauf, dass die GUS kein suprastaatliches Gebilde werden dürfe, sondern ein koordinierendes Konsultativorgan bleiben solle. Inzwischen hat die GUS ihre Aufgabe und Funktion als »Konkursverwalterin« mehr oder weniger erfüllt. Im Ergebnis der bisherigen Entwicklung besteht das Spezifikum dieser Organisation in der einzigartigen Kombination von Integrations- und Desintegrationstendenzen, die zur politischen Distanzierung der Mitgliedsstaaten von einander bei der Erhaltung von wirtschaftlicher Abhängigkeit führen.

Die GUS in der Krise

Heute jedoch befindet sich die GUS in der Krise, die im Wesentlichen nicht so sehr durch einen Mangel an Integrationsinitiativen, als vielmehr »genetisch« bedingt ist. Die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten wurde seinerzeit nicht auf der Grundlage eines grundsätzlich neuen Aufbruchskonzepts geschaffen, sondern als Substitut für die aufgelöste Sowjetunion. Bei der Gründung wurde eine gewisse Unbestimmtheit in Hinsicht auf ihren Status festgelegt: In den Gründungsdokumenten wurde nicht klar definiert, was die neue Struktur darstellt oder darstellen soll. Es wurde lediglich erklärt, dass die Gemeinschaft weder ein Staat, noch eine suprastaatliche Struktur sei. Die GUS besitzt keine Völkerrechtssubjektivität und ist mit keiner vertragschließenden Gewalt ausgestattet. Infolge dessen nimmt sie in rechtlich relevanter Hinsicht an den internationalen Beziehungen nicht teil. Das Vertragswerk der GUS ist inzwischen unübersichtlich geworden. Trotz der Tatsache, dass mehr als 50 GUS-Organe entstanden und weit über 1.000 Verträge und Abkommen vereinbart worden sind (umgesetzt werden jedoch lediglich 7-10 Prozent von allen Abkommen und Verträgen), funktioniert heute die GUS als ein Instrument einer Neuintegration eher schlecht als recht. Dabei werden die beschlossenen Abkommen nicht selten in erster Linie von Russland selbst nicht eingehalten. Zahlreiche multilaterale Verträge wurden oft nur von einem Teil der GUS-Staaten unterzeichnet und sind wegen fehlender Ratifizierung nicht in Kraft getreten. Hier sind nur ein paar Beispiele zu nennen: Die Satzung der GUS ist durch die Ukraine, Moldova und Turkmenistan nicht unterzeichnet worden und die Ukraine, die auch am System der kollektiven Sicherheit der GUS nicht teilnimmt, betrachtet sich lediglich als ein »assoziiertes Mitglied« oder »Teilnehmerstaat«. Zehn GUS-Staaten unterzeichneten ursprünglich die Konvention über die Zwischenparlamentarische Versammlung (inzwischen ist auch die Ukraine der Zwischenparlamentarischen Versammlung der GUS beigetreten) und neun Staaten die Erklärung über die Gründung der Wirtschaftsunion. Dem Taschkenter Vertrag über die kollektive Sicherheit gehörten bis April 1999 neun von zwölf GUS-Staaten an. Im April 1999 haben sich Adserbaidschan, Georgien und Usbekistan geweigert den Taschkenter Vertrag zu verlängern. Somit umfasst heute das System der kollektiven Sicherheit lediglich sechs von zwölf GUS-Staaten – Armenien, Belarus, Kasachstan, Kirgistan, Russland und Tadschikistan, wobei Armenien mit keinem von diesen Staaten eine gemeinsame Grenze hat und Russland nur mit Belarus und Kasachstan.

Einer der Gründe für das Versagen der GUS als Integrationsstruktur gleichberechtigter Subjekte liegt in der politischen, wirtschaftlichen, militärischen sowie institutionellen Dominanz Russlands. In russischer Auffassung bedeutete die Konsolidierung der GUS die Aufrechterhaltung der auf Moskau zentrierten politischen, wirtschaftlichen und militärischen Beziehungen anderer GUS-Mitglieder. Die russischen Überlegungen bezüglich der Integration gingen davon aus, dass die anderen GUS-Staaten einen Teil ihrer Souveränität abtreten sollen, nicht jedoch Russland. In der Tat, zu wessen Gunsten sollte Russland auf einen Teil seiner Souveränität verzichten? Zugunsten der vollkommen von Russland kontrollierten GUS, mit anderen Worten zu seinen eigenen Gunsten? Dies zeigte den grundsätzlichen Unterschied zu den europäischen Integrationsvorstellungen. Die europäische Integration setzt zwar auch voraus, dass die Mitgliederstaaten einen Teil ihrer Souveränität abgeben, aber an suprastaatliche Strukturen, in denen kein Staat Übergewicht hat und die von allen Mitgliedern gleichermaßen getragen werden.

Die wichtigsten Ansatzpunkte der russischen GUS-Politik sahen u.a. vor:

  • umfassende wirtschaftliche Zusammenarbeit im Rahmen einer Wirtschaftsunion, Schaffung günstiger Voraussetzungen für die Etablierung des russischen Kapitals in den anderen GUS-Staaten;
  • Aufbau eines Systems der kollektiven Sicherheit;
  • Errichtung russischer Militärstützpunkte in den anderen GUS-Staaten sowie gemeinsamer Schutz (d.h. unter Beteiligung Russlands) der äußeren Grenzen der GUS;
  • Schutz der »russischsprachigen« Bevölkerung als eines der wichtigsten Instrumente zur Sicherung langfristiger russischer Präsenz in den anderen GUS-Staaten.

Die Erhaltung der russischen Diaspora als Vertreterin russischer Interessen außerhalb der Grenzen der Russischen Föderation führte zu ihrer Instrumentalisierung. Der Anspruch, einziger Garant von Frieden und Stabilität im postsowjetischen Raum zu sein, und der Versuch, die russische Kontrolle über friedensstiftende Aktionen zu sichern, schufen die Möglichkeit, ethnische und politische Spannungen sowie Grenz- und Territorialkonflikte zwischen den neuen unabhängigen Staaten in russischem Interesse zu instrumentalisieren. Dasselbe betraf die militärische Präsenz Russlands.

Es wurde jedoch bald offensichtlich, dass Moskau nicht imstande war, die Kosten für eine direkte Abhängigkeit anderer ehemaliger Sowjetrepubliken aufzubringen. Russland musste deswegen nach solchen politischen Mitteln der GUS gegenüber suchen, die bei begrenztem Kostenaufwand seine Kontrolle über die neuen unabhängigen Staaten sichern. Vom ursprünglichen Konzept der Reintegration des postsowjetischen Raums hat sich die russische Führung jedoch verabschiedet. Das bedeutet freilich nicht, dass Russland bereit wäre, die Kontrolle über den postsowjetischen Raum vollkommen aufzugeben – insbesondere über die Regionen, in denen die Interessen (Erdöl und -gas) der neuen russischen Wirtschaftselite tangiert werden. Die heutige russische Politik in der GUS ist weniger auf die Wiederherstellung der Sowjetunion in dieser oder jener Form gerichtet, als viel mehr auf die Sicherung der schwindenden russischen Kontrolle, wobei sich die Formen dieser Kontrolle wandeln und wirtschaftlicher Einfluss sich wirksamer erweisen kann als direkte politische und militärische Einflussnahme.

Der Schwerpunkt in den Beziehungen zwischen den GUS-Staaten verschiebt sich immer mehr von der multilateralen Kooperation auf die bilaterale Ebene. Russland hat diesen Sachverhalt nicht nur anerkannt, sondern es konzentriert seine Bemühungen vor allem auf den Ausbau bilateraler Beziehungen zu anderen GUS-Staaten. Die immer offensichtlicher werdenden Differenzierungs- und Diversifizierungstendenzen innerhalb der GUS haben ohne Zweifel der russischen Politik Anstoß in dieser Richtung gegeben. Dies ist auch das stillschweigende Eingeständnis, dass die GUS ihr integratives Potenzial fast vollständig erschöpft hat und selbst aus Sicht der russischen Führung als Integrationsinstrument zunehmend an Bedeutung und Attraktivität verliert. Russland ist zur differenzierten Anbindungspolitik auf der Basis der bilateralen Beziehungen über gegangen und die Suche nach Lösungen in Streitfragen vollzieht sich zunehmend außerhalb der GUS-Strukturen. Der GUS-Rahmen wird dadurch immer mehr relativiert.

Subregionale Differenzierung der GUS

In den letzten Jahren sind Tendenzen festzustellen, die auf eine Festigung der Selbstständigkeit der meisten GUS-Staaten (mit Ausnahme von Armenien, Belarus und dem militärisch und finanziell total von Russland abhängigen Tadschikistan) in den internationalen Angelegenheiten sowie deren aufkeimende Emanzipation von Russland hinweisen. Mit der Konsolidierung der Eigenstaatlichkeit nach außen werden Unterschiede in der außen- und sicherheitspolitischen Ausrichtung sowie in den außenwirtschaftlichen Interessen verschiedener Staaten zunehmend deutlich. Dies ist keine Fehlentwicklung innerhalb der GUS, sondern ein natürlicher Prozess. Das Entstehen neuer institutionalisierter und nicht institutionalisierter subregionaler Zusammenschlüsse ist ein weiteres deutliches Anzeichen für den sich vertiefenden Differenzierungsprozess innerhalb der GUS. Diese formellen und informellen Zusammenschlüsse, obwohl sie innerhalb der GUS entstehen, sind nicht so sehr auf die Zusammenarbeit in der Gemeinschaft wie auf sich selbst oder auswärtige Partner ausgerichtet und stellen ohne Zweifel einen Prozess der Regionalisierung der GUS und einer graduellen Institutionalisierung regionaler oder subregionaler Interessen dar, die sich deutlich von »gemeinsamen«GUS-Interessen unterscheiden.

Dazu gehört die im März 1996 gegründete sogenannte Gemeinschaft Integrierter Staaten oder die Zollunion, welche Russland, Belarus, Kasachstan, Kirgistan und seit Ende 1998 auch Tadschikistan umfasst. Obwohl diese Gemeinschaft bei ihrer Gründung als eine höhere Stufe der Integration gepriesen wurde funktioniert sie eher schlecht als recht und droht wegen gegensätzlicher Zolltarifpolitik der einzelnen Teilnehmer zu scheitern. Es gibt immer wieder Streitigkeiten wegen russischer protektionistischer Zolltarife zwischen Russland einerseits und den anderen drei Zollunion-Mitgliedsstaaten, weil Verbraucher in Belarus, Kasachstan und Kirgistan letzten Endes für ihre Importe mehr zahlen müssen um russische Produzenten zu schützen. Der Beitritt Kirgistans zur WTO hat die Zollunion noch weiter ausgehöhlt. Das Gleiche trifft auf den Zentralasiatischen Wirtschaftsraum Kasachstans, Kirgistans und Usbekistans (gegründet im Januar 1994) zu, der auch eine militärische Dimension umfassen sollte. Besonders zu erwähnen sind jedoch zwei ganz unterschiedliche subregionale Zusammenschlüsse: die Union Belarus-Russland (gegründet als Gemeinschaft im April 1996, im Dezember 1999 nach mehreren Anläufen zu einem vertraglich fixierten Unionsstaat ausgebaut) und das sogenannte »GUUAM« (der Name besteht aus den ersten Buchstaben der beteiligten Staaten – Georgien, Ukraine, Usbekistan, Aserbaidschan und Moldova).

Die Union Belarus-Russland ist ein merkwürdiges Gebilde. Einerseits werden jetzt supranationale Organe geschaffen und mit entsprechenden Kompetenzen ausgestattet, andererseits soll die nationale Souveränität der Partnerstaaten weiterhin gewahrt werden. Beide Seiten sind mit unterschiedlichen Zielen die Union eingegangen: Dem belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko ging es vor allem um die Lösung eigener wirtschaftlicher Probleme mit Hilfe eines gemeinsamen Wirtschaftsraums Belarus-Russland, was auf erhebliche Vorteile u.a. im Transport- und Energiebereich für Minsk hinauslaufen würde. Für die russische Führung war die Symbolik der Integration wichtig, welche ohne besonders hohen Einsatz politischen Mehrwert schuf. Eine bedeutende Rolle spielten auch sicherheitspolitische Überlegungen: »Die Westerweiterung« Russlands als Antwort auf die NATO-Osterweiterung. Der neue »Unionsstaat« bleibt eher eine »virtuelle Realität« als eine reale »Wiedervereinigung« und die Aussichten auf die Schaffung eines »slawischen Staates« unter der Beteiligung der Ukraine sind genauso unrealistisch wie früher.

GUUAM entstand zuerst als ein informeller Zusammenschluss – oder engere Zusammenarbeit und »strategische Partnerschaft« – zwischen Aserbaidschan, Georgien und der Ukraine auf der Grundlage des gemeinsamen Interesses an der Realisierung des alternativen eurasischen Transportprojekts für den Transport des kaspischen Erdöls über Georgien und die Ukraine. Später schlossen sich zuerst Moldova und, auf dem NATO-Gipfeltreffen im April 1999 in Washington, Usbekistan an. Neben dem wirtschaftlichen Interesse am Kommunikationsprojekt haben alle Staaten – mit Ausnahme Usbekistans – ein gemeinsames Problem: den Seperatismus und die ambivalente Rolle Russlands in dieser Frage. Aserbaidschan war mit dem Krieg in Nagorny Karabach, Georgien in Abchasien und Moldova in Transnistrien konfrontiert, in der Ukraine befindet sich die Krim in dieser Hinsicht noch immer im latenten Zustand. Für Nagorny Karabach, Abchasien und Transnistrien versucht Russland die für Aserbaidschan, Georgien und Moldova unannehmbare Formel eines »gemeinsamen Staates«, einer Art Konföderation, durchzubringen. Darüber hinaus bemühen sich Aserbaidschan, Georgien und die Ukraine um eine umfangreiche Zusammenarbeit mit der NATO.

Die Tatsache, dass die Ukraine, der nach Russland zweitgrößte Nachfolgestaat der Sowjetunion, mit von der Partie ist, verleiht der Gruppe größere Bedeutung. Die Ukraine hat 1997 die »strategische Partnerschaft« mit Aserbaidschan und Georgien beschlossen und trat neben Russland als Garant der Konfliktbeilegung in Moldova ein. GUUAM ist keine regionale Organisation, kein Bündnis – es ist lediglich eine Interessengemeinschaft und ein Beratungsgremium. Während Russland und Belarus versuchen, ein Modell der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Vereinigung – wenn auch virtuell– zu realisieren, wählen die Staaten im Süden der GUS – die Ukraine sowie die Staaten Transkaukasiens und Zentralasiens – den Weg der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Da die Zusammenarbeit innerhalb GUUAM vor allem auf die Verwirklichung der Kommunikationsprojekte, vor allem des Transports des Erdöls vom Kaspischen Meer nach Ostmittel- und Westeuropa, zielt, haben nach einigen Meldungen auch Polen und Rumänien ihr Interesse angekündigt, sich der Gruppe anzuschließen. Ein großes Problem für das Funktionieren des GUUAM bleibt die wirtschaftliche Schwäche aller beteiligten Staaten und vor allem des größten Partners, der Ukraine.

Heute kristallisieren sich neben Russland drei Gruppen von Staaten innerhalb der GUS heraus:

  • Militärische Verbündete Russlands; dazu gehören Armenien, Belarus, Tadschikistan. Mit diesen Staaten hat Russland Verträge über enge militärische Zusammenarbeit abgeschlossen.
  • Westorientierte Staaten (GUUAM);: Aserbaidschan, Georgien, Moldova, die Ukraine, Usbekistan.
  • Zwischen diesen zwei Gruppen befinden sich Kasachstan, Kirgistan und Turkmenistan, wobei Turkmenistan zur GUUAM-Gruppe tendiert.

Fehlende Voraussetzungen
für eine umfassende Integration der GUS

Einer der Gründe für die fortgesetzten Differnzierungstendenzen innerhalb der GUS liegt darin, dass einige wichtige Voraussetzungen für eine engere politische, sicherheitspolitische und wirtschaftliche Integration dieser Organisation fehlen. Es gibt derzeit keine äußere und innere Bedrohung, die als für alle gemeinsame Gefahr empfunden wird, oder auch nur eine von allen Staaten gleichermaßen geteilte Bedrohungsperzeption. Die Bedrohungsperzeptionen verschiedener GUS-Staaten erweisen sich im Gegenteil nicht selten als nicht kongruent oder sogar als gegensätzlich. Die Diskussion um die NATO-Osterweiterung oder der gescheiterte Versuch Russlands, eine gemeinsame Position und Verurteilung der NATO wegen Kosovo durch die GUS zu erzielen, haben dies besonders deutlich gezeigt: Mit Ausnahme von Belarus und Tadschikistan, die den russischen Standpunkt vorbehaltlos unterstützten, sowie von Armenien, das eine zurückhaltende Stellung gegenüber der NATO bezog, strebten andere GUS-Staaten nach enger Zusammenarbeit mit der Allianz. Es fehlt weiter eine gemeinsame tragende supranationale oder suprastaatliche Idee. Letztlich ist auch kein umfassendes gemeinsames und einigendes wirtschaftliches Interesse festzustellen. Die GUS-Staaten wickeln ihren Außenhandel zunehmend mit der Außenwelt ab. In den letzten Jahren und insbesondere nach August 1998 ist die Position Russlands im Handel mit den meisten GUS-Staaten deutlich schwächer geworden, was vor allem auf die tiefe Wirtschaftskrise in Russland, aber auch in anderen GUS-Staaten sowie auf die Umstellung der Außenhandelsbeziehungen vieler Staaten der Gemeinschaft auf Drittländer zurückzuführen ist. Der Anteil des Intra-GUS-Handels am Gesamtaußenhandelsvolumen der GUS ist seit 1991 von 78 auf 24 Prozent zurückgefallen. Auch der Anteil Russlands am Außenhandel der meisten dieser Staaten ist deutlich gesunken, dennoch bleibt das Land für einige Staaten (Belarus, Kasachstan, Moldova, die Ukraine) nach wie vor der wichtigste Handelspartner.

Russland hat sein wirtschaftliches Übergewicht und seine Überlegenheit gegenüber den anderen GUS-Mitgliedstaaten natürlich bewahrt. Die dargelegten Entwicklungstendenzen innerhalb der GUS deuten jedoch auf das Schwinden des russischen Einflusses auf die Konzeption und Durchführung der Politik der neuen unabhängigen Staaten hin. Das Entstehen neuer Zusammenschlüsse auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion ohne russische Beteiligung wird in politischen Kreisen Russlands im besten Falle als Anzeichen wachsender politischer und wirtschaftlicher Konkurrenz mit Russland im postsowjetischen Raum und im schlimmsten Falle als Ausdruck einer »antirussischen Ausrichtung« der Politik der betroffenen Staaten betrachtet.

Der Aufbau von Bündnisbeziehungen zu den neuen unabhängigen Staaten wurde auch vom amtierenden russischen Präsidenten Putin zu einer der Prioritäten der Sicherheitspolitik des Landes erklärt. Das Bemühen der GUS-Staatsoberhäupter um ein freundliches Verhältnis zu Putin, das auf dem Gipfeltreffen im Januar 2000 in Moskau offensichtlich war, ist vor allem darauf zurückzuführen, dass sie sich noch nicht sicher sind, was vom neuen Mann im Kreml zu erwarten ist. Der Krieg in Tschetschenien wird nicht nur für die russische Innen- und Außenpolitik weitreichende Folge haben. Er hat auf direkte und indirekte Weise die Komplexität der Probleme, mit denen sich die neuen unabhängigen Staaten in ihren Beziehungen zu Russland konfrontiert sehen, und die unterschiedliche Lage der GUS-Staaten gegenüber Russland sehr deutlich gezeigt. Die meisten GUS-Staaten – vor allem Aserbaidschan und Georgien, die sich verstärktem Druck aus Moskau ausgesetzt sehen – sowie die Ukraine, verfolgen den Krieg in Tschetschenien mit gemischten Gefühlen. Einerseits registriert man mit Besorgnis die Hinweise der russischen Führung auf »externe Bedrohungen« und »äußere Feinde«. Andererseits wird das von Russland hervorgehobene Feindbild von internationalen islamistischen Netzwerken, die den postsowjetischen Raum bedrohen, in vielen GUS-Staaten – insbesondere in Kirgistan, Usbekistan und Tadschikistan –nicht ignoriert. Die unterschiedlichen Reaktionen auf den Krieg in Tschetschenien und Irritationen Moskaus über solche Reaktionen im »nahen Ausland« zeigen sehr deutlich, zu welchen ehemaligen Sowjetrepubliken die Beziehungen Moskaus am problematischsten sind. Das sind in erster Linie Aserbaidschan, Georgien und die Ukraine. Es bleibt abzuwarten wie die neue russische Führung unter Wladimir Putin ihre Politik gegenüber der GUS insgesamt und den einzelnen Staaten zu gestalten gedenkt.

Literatur

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Dr. Olga Alexandrova ist Wissenschaftliche Referentin am Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien (BIOSt), Köln

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2000/2 Russland – Zerfall einer Supermacht, Seite