Schmutziger Deal
von Jürgen Nieth
„Es war ein Sylvesterböller der besonderen Art: Am 31. Dezember, wenige Minuten vor dem Jahreswechsel schickte die Europäische Kommission in Brüssel an die Mitgliedsstaaten einen Verordnungsentwurf mit dem Vorschlag, Investitionen in Erdgas- und Atomkraftwerke unter bestimmten Voraussetzungen als klimafreundlich einzustufen“ (taz, 03.01.22, S. 3).
Die Taxonomie
„Die Idee einer Taxonomie für umweltfreundliche und nachhaltige Produkte stellte die EU-Kommission bereits vor knapp vier Jahren vor. Ziel ist das sogenannte Greenwashing zu verhindern, das anpreisen von Produkten als ‚grün‘ und umweltfeundlich, obwohl sie es nicht sind. Ein einheitliches Klassifizierungssystem, so die Idee, soll Investoren und Privatleuten dabei helfen, ihr Geld nachhaltig anzulegen und damit den Ausbau einer klimafreundlichen Energieversorgung voranzutreiben“ (Spiegel, 08.01.22, S. 15). Im ersten Entwurf vom März 2020 „hatte die EU-Kommission nur erneuerbare Energien als nachhaltig deklariert“ (Zeit, 05.01.22, S. 5). Jetzt wurde die ursprüngliche Zielsetzung ins Gegenteil verkehrt.
Für Inge Paulini, Präsidentin des Bundesamtes für Strahlenschutz, wurde bei der EU „mit einem verkürzten Nachhaltigkeitsbegriff gearbeitet und zugleich das Risiko der Technologie nicht umfassend betrachtet, ebenso wenig die Langzeitfolgen“ (FR, 21.01.22). Andreas Hoepner, Mitglied des 57 Mitglieder umfassenden EU-Beratungsgremiums »Plattform für nachhaltige Finanzen« spricht in der SZ (13.01.22, S. 5) vom „wohl größten Greenwashing aller Zeiten.“ Und „sein Kollege Sebastian Rink […] hält die Vorlage für eine Verwässerung, durch die die gesamte Taxonomie ihre Glaubwürdigkeit verliert. […] Damit schaffe die EU einen ‚Präzedenzfall‘ und würde schlimmstenfalls sogar einen Dammbruch auslösen. Auch andere Industrien könnten dann bei der Einstufung eine Sonderbehandlung verlangen.“ Die SZ sieht bereits ein Beispiel: „Der Bundesverband der Verteidigungs- und Sicherheitsindustrie will seine Unternehmen ebenfalls in die EU-Taxonomie einbringen mit der Begründung, dass Sicherheit die Mutter aller Nachhaltigkeit sei.“
Der Kuhhandel
Viele zeigten sich überrascht, doch die Position der EU-Kommission „war seit Monaten erkennbar. Ebenso, dass die Kommission versuchen würde, die Entscheidung zwischen den Jahren durchsickern zu lassen, um der Debatte die Schärfe zu nehmen“ (Handelsblatt, 03.01.22, S. 17) und die deutschen Regierungen waren in den Prozess einbezogen. Die SZ (04.01.22, S. 2) spricht vom „Brüsseler Kuhhandel“ und vom „Nicht-Widerstand“ der Regierung Merkel.
Im nd (10.01.22, S. 8) schreibt Sheila Myrsorekar: „Deutschland möchte gerne seine Gaskraftwerke behalten […], Frankreich im Gegenzug seine Atomkraftwerke. Die Grünen finden das zwar nicht gut, aber Scholz hat es so bereits in einem Hinterzimmerkonsens mit Frankreich abgesprochen.“ Für Petra Pinzler (Zeit, 05.01.22, S. 5) wollte Olaf Scholz bei seinem Antrittsbesuch in Paris „dem französischen Präsidenten nicht verwehren, was dem wiederum wichtig ist, das grüne Label für Atomstrom. Scholz erhielt im Gegenzug Frankreichs Zustimmung zum Ökosiegel für Gas.“
Die französische Zusicherung ist für Scholz aus diesem eigenen Interesse bedeutsam. Zwar lehnt die „neue Bundesregierung […] das Label ‚nachhaltig‘ für Atomkraft ab. Beim Erdgas ist sie nachsichtiger. In ihrer Stellungnahme fordert sie nun sogar weniger strikte Klimaauflagen als die EU-Kommission.“ (SZ, 24.01.22, S. 6) Sie führte aus, es sollten „Zwischenstufen für den Einsatz von klimaneutralem Gas wegfallen, weil diese ‚nicht realistisch zu erreichen‘ seien.“ (Handelsblatt, 24.01.22, S. 4)
Gestern gegen Zukunft
Bundeskanzler Olaf Scholz erklärte auf dem EU-Gipfel im Dezember, der „Kommissionsvorschlag solle ‚nicht überschätzt werden‘. […] (Es gehe um) ‚eine Einschätzung der Aktivitäten von Unternehmen‘, nicht um eine Empfehlung an die Staaten“ (taz, 03.01.22, S. 3).
Selbst wenn es so wäre: „Das Siegel als ‚grüne Energie‘ hat aber finanzielle Folgen, weil es die Bereitschaft privater Investoren fördert, in diese Energien zu investieren. Und so Milliardeninvestitionen lenkt“ (Tagesspiegel, 24.01.22, S. 5). Gelder, die dann für die Energiewende fehlen.
Doch es geht auch um staatliche Gelder. „Frankreich bezieht schon jetzt 70 Prozent seines Stroms aus Kernenergie. Wegen des Klimawandels sollen es jetzt noch mehr werden“ (NZZ, 09.01.22, S. 3). Thierry Breton, französischer EU-Binnenmarktkommissar, taxiert den Investitionsbedarf für „die noch zu errichtenden Kernkraftwerke […] auf 500 Milliarden Euro bis zum Jahr 2050“ (FAZ, 11.01.22, S. 16). Laut Handelsblatt (12.01.22, S. 46) sind derzeit in Frankreich „15 von 56 AKW wegen Störungen oder Wartungsarbeiten komplett vom Netz genommen. Europäische Steuergelder und private Investitionen sollen nun die Lücken der französischen Stromversorgung schließen.“
Und in der WaS (02.01.22, S. 6) heißt es: „Die sogenannte Taxonomie-Regelung soll Finanzanleger anlocken, die klimafreundliche Investitionen suchen. Sogar direkt aus dem EU-Topf könnten Fördergelder an die Atomindustrie und -forschung fließen. Deutschland, das Milliarden für den Ausstieg ausgibt, wird […] über EU-Beiträge womöglich auch die Atombranche ihrer Nachbarn finanzieren.“
Aussicht
Die neuen Regeln sollen Anfang 2022 in Kraft treten und es ist nicht wahrscheinlich, dass die EU-Staaten ihn mit einer „qualifizierten Mehrheit aus mindestens 20 Mitgliedsstaaten, die 65 Prozent der EU-Bevölkerung vertreten, stoppen.“ Auch die absolute Mehrheit im Europaparlament „dürfte nicht zu erreichen sein“ (FAZ, 24.01.22, S. 19).
Bleibt der Weg zum Europäischen Gerichtshof, den Götz Reichert, Leiter der Abteilung für europäisches Energierecht am Centrum für europäische Politik, laut Tagesspiegel (24.01.22, S. 5) für erfolgversprechend hält. „Luxemburg und Österreich haben eine Klage angekündigt.“ Eine Beteiligung Deutschlands würde das politische Gewicht der Klagenden natürlich deutlich erhöhen. Aber darauf scheint nichts hinzudeuten.
Zitierte Presseorgane: FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung, FR – Frankfurter Rundschau, Handelsblatt, nd – nd-Der Tag, NZZ – Neue Zürcher Zeitung, Spiegel – Der Spiegel, Tagesspiegel – Der Tagesspiegel, taz – die tageszeitung, WaS – Welt am Sonntag, Zeit – Die Zeit