W&F 2006/3

Schöne neue nukleare Welt

von Zia Mian und Alexander Glaser

Der Traum einer wunderbaren Zukunft, in der die Energie vom Atom geliefert wird, reicht nun schon mehr als 100 Jahre zurück. Fredrick Soddy und Ernest Rutherford stellten 1901 fest, dass beim Übergang eines Atomtyps in einen anderen Radioaktivität und Energie freigesetzt werden. Bald darauf schrieb Soddy in populären Zeitschriften, Radioaktivität sei möglicherweise eine „unerschöpfliche“ Energiequelle, und er beschwor die Vision einer atomaren Zukunft mit der Möglichkeit „einen Wüstenkontinent umzuformen, die Eiskappen an den Polen aufzutauen und die ganze Erde in einen lächelnden Garten Eden zu verwandeln.“1 Seither sind die Versprechungen eines »atomaren Zeitalters«, in dem die Kernenergie als globale, Zukunft verheißende Technologie die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse garantiert, nie abgerissen.

Soddy erkannte aber auch, dass Atomenergie möglicherweise den Weg zur Herstellung schrecklicher neuer Waffen bereiten könnte. Und es ist vielleicht bezeichnend, dass in einem von konkurrierenden, waffenstarrenden Nationalstaaten beherrschten internationalen System Atomenergie zum ersten Mal praktisch eingesetzt wurde, als die Vereinigten Staaten 1945 die ersten Atomwaffen bauten und über den japanischen Städten Hiroshima und Nagasaki zum Einsatz brachten. Die Bombe war, so die US-amerikanische Regierung damals, die „Waffe des Sieges“.

Diese Demonstration der Zerstörungskraft der Atomtechnologie belebte und stärkte aber auch die Visionen, dass wirtschaftliche und soziale Probleme atomar lösbar seien. Amerikanische Zeitungen beispielsweise prophezeiten ein nukleares Utopia, „eine Welt mit unbegrenzter Energie und unendlichem Überfluss – eine Welt, deren einzige Einschränkung das menschliche Vermögen ist, sich neue Wünsche und Bedürfnisse auszudenken.“2 Lewis Strauss, damaliger Leiter der Atomenergiekommission der Vereinigten Staaten, erlangte Berühmtheit mit seiner Prophezeiung von 1954, Atomenergie bedeute, dass „unsere Kinder zu Hause in den Genuss elektrischer Energie kommen, die so billig ist, dass es sich nicht lohnt, Zähler einzubauen“ (to cheap to meter).3

Vor den Augen der Welt wurden in den vergangenen 60 Jahren riesige Anlagen zur Herstellung von hoch angereichertem Uran und Plutonium für Atomwaffen errichtet. Die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion stellten zehntausende Atomwaffen her, und nacheinander traten Großbritannien, Frankreich, China, Israel, Indien und Pakistan und vor kurzem vermutlich auch Nordkorea dem nuklearen Club bei. Etliche weitere Staaten hatten in der Vergangenheit Ambitionen zum Bau von Atomwaffen. Aus unterschiedlichen Gründen ließen sie davon wieder ab. Iran allerdings hält derzeit an seinem Programm fest.

Gleichzeitig hat die friedliche Nutzung der Atomenergie bei weitem nicht das halten können, was sie ursprünglich versprochen hatte. Vielmehr führte sie zu anhaltenden Sicherheitsproblemen, hohen Kosten, nuklearer Weiterverbreitung und Protesten in der Bevölkerung. In den Pionierstaaten der Atomtechnologie wie den USA, Großbritannien und Russland stagniert die Nuklearindustrie seit langem. Andere Länder haben den Atomausstieg bereits beschlossen. Die wenigen neuen Anlagen wurden in Ländern wie China und Indien gebaut, die erst relativ spät in die zivile Nutzung der Kernenergie eingestiegen sind.

Trotzdem propagieren jetzt einige Interessengruppen den gewaltigen Ausbau der Atomenergie als Mittel gegen den Klimawandel, der sich nach etwa 100 Jahren der ungebremsten Verbrennung fossiler Energieträger abzeichnet. Bei aller Diskussion über die »Renaissance der Kernenergie« setzt sich langsam aber auch die Erkenntnis durch, dass die nukleare Zukunft vielleicht doch eher düster sein könnte.

Im Folgenden gehen wir beispielhaft auf einige besonders kritische Aspekte der Weiterverbreitung von Atomwaffen ein und folgern, dass der massive globale Ausbau von Atomenergie neue Gefahren birgt, ohne zur Verhinderung eines Klimawandels einen wesentlichen Beitrag zu leisten.

Normale Proliferation von Atomwaffen

Recht früh schon rückte in das Bewusstsein, dass ein Atomenergiekomplex für friedliche Zwecke eingerichtet, dann aber zum Bau von Atomwaffen genutzt werden kann. Robert Oppenheimer, Leiter des US-amerikanischen Manhatten-Projekts, das 1945 die ersten Atombomben herstellte, vermerkte 1946, was im Falle eines vollständigen Verbots von Atomwaffen passieren würde: „Wir würden keine Atomwaffen herstellen, zumindest nicht gleich, aber wir würden riesige Anlagen bauen, und wir würden diese Anlagen so auslegen, dass sie mit minimalem Aufwand und innerhalb kürzester Zeit für die Herstellung von Atomwaffen umgerüstet werden könnten, und würden behaupten, dass wir das nur für den Fall tun, dass uns jemand hintergeht; wir würden Uranvorräte anlegen; wir würden möglichst viele Entwicklungen geheim halten; wir würden unsere Anlagen nicht dahin bauen, wo sie optimal für die Erzeugung von Strom eingesetzt werden können sondern dahin, wo sie am besten gegen feindliche Angriffe geschützt werden können.“4

Dabei ist der Größenunterschied zwischen zivilen und militärischen Nuklearprogrammen wichtig. Ein 40-MW(th)-Reaktor wie der CIRUS in Indien produziert genug Plutonium für etwa zwei Atomwaffen pro Jahr, während bei einem von Indiens kleineren 700-MW(th)-Leistungsreaktoren, der etwa 220 MW elektrische Leistung liefert, etwa zehn Mal so viel Plutonium pro Jahr anfällt. Ähnliches gilt für die Urananreicherung. Zur Herstellung des niedrig angereicherten Uranbrennstoffs für einen 1.000-MW(e)-Leistungsreaktor sind bis zu 150 tSWU pro Jahr (oder 150.000 Separative Work Units – SWU –, ein Maß für die geleistete Trennarbeit bei der Urananreicherung) erforderlich,5 während bereits mit einem Zehntel dieser Kapazität 100 kg Uran hoch angereichert werden können – das reicht für mehrere Atomwaffen.

Schon immer haben die Staaten ihre zivilen und militärischen Ambitionen und Fähigkeiten im Bereich Atomtechnologie miteinander gekoppelt. Großbritannien, Frankreich, China, Israel, Indien und Pakistan bauten ihre Atomwaffenprogramme auf der Infrastruktur auf, die sie vorgeblich für Atomenergie entwickelt hatten. Irak, Nordkorea und Iran, sämtlich Unterzeichnerstaaten des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages (NVV), versteckten ihre militärischen Ambitionen hinter Programmen für »friedliche« Zwecke. Und die USA haben vor kurzem damit begonnen, Tritium für ihr Atomwaffenarsenal in zivilen Leistungsreaktoren herzustellen.6

Als Antwort auf den inhärenten »Dual-Use«-Charakter der Kerntechnologie wurde seit den 1950er Jahren das Sicherungssystem für zivile Atomanlagen aufgebaut. Insbesondere müssen Nicht-Atomwaffenstaaten des später verhandelten NVV alle ihre zivilen nuklearen Anlagen deklarieren und internationale Inspektionen zulassen. Sie würden so riskieren, dass die Abzweigung signifikanter Mengen von Nuklearmaterial für heimliche Atomwaffenprogramme aufgedeckt würde.7 Diese Bemühungen waren nicht immer erfolgreich. Vor allem die Vereinigten Staaten wollen daher dem Irak, dem Iran, Nordkorea sowie vielen anderen Ländern zentrale Elemente des nuklearen Brennstoffzyklus vorenthalten und schlagen vor, in Zukunft den Zugang zur Urananreicherung und Wiederaufarbeitung auf wenige Staaten zu begrenzen, obwohl der NVV allen Unterzeichnerstaaten das Recht zu spricht, diese Technologien zu entwickeln und zu nutzen. Diese Bestrebungen sind ein klares Zeichen dafür, wie real die Proliferationsgefahr der zivilen Atomenergie ist und welche Probleme insbesondere mit der Urananreicherung, der Wiederaufarbeitung und den damit verbundenen Fähigkeiten verbunden sind.

Die nukleare Zukunft

Nun heißt es, dass Atomenergie dem Treibhauseffekt und damit dem Klimawandel entgegenwirken könnte. Um den Ausstoß von Treibhausgasen deutlich zu verringern müsste die Atomenergie allerdings um ein Vielfaches ausgebaut werden. Daher stellt sich auch die Frage, was dies für die Weiterverbreitung von Atomwaffen bedeuten würde. Dabei lassen wir für den Moment außer Acht, ob der Klimawandel damit tatsächlich aufgehalten würde und ignorieren auch die politischen und wirtschaftlichen Hürden, die ein solches Expansionsszenario ohnehin als unrealistisch erscheinen lassen.

Zur Verdeutlichung gehen wir hier davon aus, dass die Erzeugung von Atomenergie auf 1.500 GW(e) ansteigt, was etwa einer Vervierfachung gegenüber heute entspricht. Im Jahr 2050 würden dann rund 28% des weltweiten Strombedarfs in Atomanlagen erzeugt, was weniger als eine Verdopplung des nuklearen Marktanteils darstellt. Diese 1500 GW(e) entsprechen der Obergrenze, die von der Studie »The Future of Nuclear Power« des Massachusetts Institute of Technology (MIT) angenommen wurde.8

Die meisten Studien zur zukünftigen Entwicklung der Atomenergie gehen aus Bequemlichkeit meist davon aus, dass Kapazitäten für 1.000 GW(e), 1.500 GW(e) oder sogar 10.000 GW(e) »einfach da« wären — so als seien die entsprechenden Reaktoren und Anlagen nirgendwo konkret zu finden. Eine Ausnahme stellt hier die MIT-Studie dar, deren Autoren nicht davor zurückschreckten, Vorhersagen über die tatsächliche Verteilung von Nuklearkapazitäten für ein solches globales Expansionsszenario zu machen. In dem 1.500-GW(e)-Szenario der Studie würden 56 Länder kommerzielle Atomanlagen betreiben, darunter auch viele, die bisher keinen Atomstrom produzieren, wie z.B. Vietnam, Indonesien, die Philippinen, Malaysia, Thailand, Australien, Neuseeland, Österreich, Polen, die Türkei, Venezuela, Portugal, Israel, Libyen, Algerien, Usbekistan, Marokko, Kyrgystan, Kasachstan, oder Ägypten.9

Einfache Hochrechnungen erlauben Aussagen über die Infrastruktur, die zur Aufrechterhaltung des Brennstoffzyklus in so vielen Atomstrom produzierenden Ländern benötigt würde. Wir gehen hier davon aus, dass vorwiegend die momentan vorherrschende Druckwassertechnologie mit niedrig angereichertem Uran und ohne Wiederaufarbeitung zum Einsatz käme. Diese Kombination wäre aus Gründen der Nichtverbreitung klar all den Szenarien vorzuziehen, die auf die Wiederaufarbeitung und Abtrennung von Plutonium setzen, da sich Plutonium ohne weitere Bearbeitung für den Atomwaffenbau eignet. Zum Betrieb dieses Reaktorparks würden weltweit aber – nach heutigem Maßstab – gigantische Anreicherungskapazitäten benötigt (siehe Abbildung 1, S. 33).10

Die dafür erforderliche Infrastruktur ist gewaltig, sowohl im Umfang als auch in der Verteilung. Länder, die momentan keine oder vernachlässigbare kleine kommerzielle Atomstromprogramme unterhalten – wie beispielsweise der Iran, Pakistan, Mexiko oder Indonesien – würden in diesem Szenario großindustrielle Anreicherungsanlagen errichten und betreiben. Es ist nicht schwer vorher zusagen, dass dies regelmäßig zu Verdächtigungen, Anschuldigungen und internationalen Krisen führen würde. Schon Irans Pläne für die Anlage in Natanz mit einer maximalen Kapazität von 250 tSWU/Jahr haben international Bedenken ausgelöst; bei dem hier skizzierten Ausbau der Atomenergie würde Iran aber Anreicherungsanlagen mit einer Gesamtkapazität von über 3.000 tSWU/Jahr betreiben, nur um seinen Eigenbedarf an Brennstoff zu decken. Zum Vergleich: Im Prinzip kann schon mit weniger als 5 tSWU genug hochangereichertes Uran für eine Atomwaffe pro Jahr hergestellt werden.

Um die Entscheidung über Endlagerstätten für den Atomabfall hinaus zu schieben, würden vermutlich auch mehr Länder abgebrannte Brennelemente wieder aufarbeiten (und als »Abfallprodukt« dabei Plutonium abtrennen), obwohl diese Technik wirtschaftlich keineswegs attraktiv ist und erhebliche Umwelt- und Proliferationsgefahren birgt. Diese rücksichtslose Strategie, den nuklearen Ball der nächsten Generation zu zuspielen, wird schon heute von einigen Ländern verfolgt, darunter Japan und im Rahmen der neu propagierten Global Nuclear Energy Partnership (GNEP) voraussichtlich auch bald die Vereinigten Staaten.

Da mit einer Ausweitung der Atomenergie wie hier beschrieben auch erheblich größere Mengen Uran und Plutonium im Umlauf und in den Lagern gehalten würden, müssen neue Atomenergieprogramme wohl überlegt werden. Dies um so mehr, als jegliche Ausweitung der globalen Atomenergieproduktion unweigerlich auch mit einer Vielzahl größerer oder kleinerer Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten einhergeht. Bezogen auf die Proliferation stellt uns die Atomenergie hier vor das wichtigste Dilemma: Ein Atomprogramm, das aus kommerzieller Sicht klein oder sogar vollständig zu vernachlässigen ist, ist in der Regel durchaus groß genug, um ein ansehnliches Atomwaffenprogramm zu unterstützen.

Sollte die Atomenergie also rasch global ausgeweitet werden, so wächst auch die Gefahr von nuklearer Weiterverbreitung, da viele Länder mit neuen Technologien experimentieren werden. Selbst wenn die Atomenergie dann doch nicht in dem heute prognostizierten Ausmaß wächst, würde doch das ständige »Proliferationsrauschen« im internationalen Sicherheitssystem erheblich zunehmen und es schwieriger machen, »echte« Proliferation zu erkennen und zu bekämpfen sowie zwischen legitimen und grundlosen Ängsten vor heimlichen Militärprogrammen zu unterscheiden. Wie der Irakkrieg klar gemacht hat, kann die Angst vor Proliferation zuerst geschürt und dann zum Vorwand für einen Krieg genommen werden.

Atomenergie und Klimawandel

Könnte eine globale Expansion der Kernenergie dem Klimawandel prinzipiell entgegenwirken? Die Möglichkeiten sind begrenzt, denn die Atomenergie dient vor allem der Stromproduktion und hat auf die zwei Drittel der globalen CO2-Emissionen, die beim direkten Verbrauch von Brennstoffen (im Englischen: Fuels-Used-Directly, FUDs) für Verkehr, Heizung, Industrie und Gewerbe entstehen, gar keinen Einfluss.11 Das heißt, für den Großteil der Treibhausgase wäre damit immer noch keine Lösung gefunden.

Atomenergie könnte also bestenfalls den Einsatz von Kohle substituieren, da Strom vor allem aus diesem fossilen Brennstoff erzeugt wird. Kohle gibt es aber im Überfluss. Sie ist billig und wird es auch auf viele Jahrzehnte bleiben. Es ist daher naiv anzunehmen, dass global auf Nutzung von Kohle verzichtet werden wird. Länder mit großen Vorkommen billiger Kohle und raschem Wirtschaftswachstum werden auf jeden Fall von ihren Kohlevorkommen Gebrauch machen. So will China z.B. sowohl die Kohlenutzung als auch die Atomstromproduktion ausweiten, wobei in den nächsten zwanzig Jahren der Kohleeinsatz für die Erzeugung von Strom und Wärme verdoppelt werden soll.12 Bedenken über die Klimafolgen können diesen Prozess höchstens verlangsamen oder nur unwesentlich eindämmen.

Offensichtlich bleibt der Klimawandel also ein ungelöstes Problem, solange keine Lösung für das »Kohleproblem« gefunden werden kann. Verglichen mit den direkt verbrauchten Brennstoffen ist die fast vollständig CO2-freie Stromproduktion allerdings relativ einfach und mit vorhandenen nicht-nuklearen Technologien machbar.13 Diese Variante erscheint attraktiver als Investitionen in einen erheblichen Ausbau der Atomenergie.

Dieser Sicht folgt auch ein umfangreicher Bericht, den die Sustainable Development Commission der britischen Regierung 2006 vorstellte. Der Bericht konstatiert, dass der Bau neuer Atomanlagen nicht die Antwort auf den Klimawandel ist und dass selbst eine Verdoppelung der Nuklearkapazität von Großbritannien bis zum Jahr 2030 den Kohlendioxidausstoß kaum verringern würde.14 Er identifiziert fünf Hauptprobleme, sollte die Nutzung von Atomenergie fortgesetzt oder ausgebaut werden: das Fehlen bewährter Verfahren für die sichere Endlagerung von Atomabfällen; die ungewissen aber hohen Kosten für Atomenergie in der Zukunft; die unabdingbare Größe und Zentralisierung der Stromerzeugungs- und Verteilersysteme für Atomenergie, die die Entwicklung kleiner Systeme für die Produktion und Verteilung erneuerbarer Energie in der Zukunft behindern; die negativen Auswirkungen dieser großindustriellen, anbieterorientierten Technologien auf die Förderung von Energieeffizienz und schließlich die mit der nuklearen Proliferation verbundenen Sicherheitsrisiken.15 Diese Probleme dürfen bei der Debatte über die Zukunft von Atomenergie in keinem Land ignoriert werden.

Außerdem gibt es Alternativen. So wurde etwa im Jahr 1998 in einer Studie für die Europäische Union ein Szenario für ein europäisches Energiesystem entwickelt, das auf erneuerbaren Energien basiert und bis 2050 den CO2-Ausstoß gegenüber 1990 um 80% reduziert, obwohl es gleichzeitig den vollständigen Ausstieg aus der Atomenergie vorsieht.16 Eine zentrale Schlussfolgerung dieser und ähnlicher Studien ist, dass es keine einfache, allgemeingültige technologische Lösung für die Energieerzeugung gibt. Vielmehr werden äußerst heterogene Energiesysteme identifiziert, die stark von länderspezifischen Bedingungen abhängen: Offshore-Windanlagen dominieren in Dänemark, während in Spanien und anderen südeuropäischen Ländern die Solarthermik und Photovoltaik naheliegenderweise einen Standortvorteil haben. Diversifizierung bei der Stromerzeugung muss unbedingt einhergehen mit einem verringerten Verbrauch von Primärenergien in allen Sektoren unserer modernen Gesellschaften. Die Liste notwendiger Schritte ist lang, und diese Schritte müssen rasch eingeleitet werden. Mit jedem Jahr, das ungenutzt verstreicht, entstehen weitere Engpässe und werden die Kosten des notwendigen Politikwechsels erhöht.

Schlussfolgerungen

Die Hoffnungen, die in die Nukleartechnologie gesetzt werden, sind so alt wie die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die ihr zugrunde liegen. In den vergangenen 60 Jahren hat sich gezeigt, wie viele Probleme die Atomtechnologie aufwirft. Besonders erheblich sind die Risiken und Folgen eines Atomunfalls, die wir hier nicht diskutiert haben, sowie die Gefahr, dass Anlagen, Materialien und Know-how für die vermeintlich »friedliche« Nutzung von Atomenergie für Atomwaffenprogramme genutzt werden. Das Festhalten an oder ein erheblicher Ausbau von Atomenergie würde diese Gefahren nur fortschreiben und vergrößern. Und sogar die MIT-Studie von 2003 kommt zu dem Schluss, dass keine technologische Lösung für diese Probleme in Sicht ist:

„Wir können nicht feststellen und auf der Basis unseres momentanen Wissens auch nicht glauben, dass realistischerweise mit neuen Reaktor- und Brennstoffzyklustechnologien zu rechnen ist, die eine Antwort auf die Kosten-, Sicherheits-, Abfall- und Proliferationsprobleme geben würden.“17

Zudem würde schon ein einziger größerer Unfall höchst wahrscheinlich jeden Versuch zunichte machen, Atomenergie auf dem momentanen Stand zu halten oder weiter auszubauen. Würde sich ein entsprechender Unfall in den USA oder Westeuropa ereignen, würde das mit Sicherheit das endgültige Ende der Atomenergie in diesen Regionen bedeuten. Die bis dahin getätigten Investitionen in eine teure und unflexible Technologie wären für immer verloren und der Beitrag zum Klimaschutz quasi »negativ«, da erneuerbare Energien dementsprechend vernachlässigt wurden. Nur die globalen Proliferationsgefahren würden zunächst weiterbestehen.

Angesichts dieser Perspektiven stellt sich die Frage, warum Atomenergie heute überhaupt als Lösung des Energie- und Klimaproblems in Erwägung gezogen wird. Noch immer scheint Nukleartechnologie mit technologischem Fortschritt gleichgesetzt zu werden. Andere haben darauf hingewiesen, dass die Befürworter der Atomenergie immer im »Futur« reden, d.h. „darüber, was sie in Zukunft bringen wird anstatt darüber, was sie schon hinterlassen hat oder was die Aufrechterhaltung der Infrastruktur der Gesellschaft abfordert.“18 Auch deshalb bleiben Öffentlichkeit und Eliten weiterhin einer Ideologie des »Fortschritts« verhaftet, die bequeme Gewohnheiten mit hohem und ineffizienten Energieverbrauch bevorzugt.

Die Zerreißprobe zwischen der Angst vor dem Atom und dem Unwillen, Gewohnheiten zu ändern, kommt in einer Meinungsumfrage zum Ausdruck, die 2006 in 18 Ländern mit und ohne größere Nuklearindustrie für die Internationale Atomenergiebehörde (IAEO) durchgeführt wurde. Sie ergab, dass die meisten Menschen gegen den Bau neuer Kernreaktoren sind (59%), gleichzeitig aber den Weiterbetrieb vorhandener Reaktoren befürworten (62%).19 Daraus lässt sich schließen, dass die Uhr für die nukleare Zukunft langsam abläuft, wenn nun bald alte Kernkraftwerke weltweit abgeschaltet werden, der Bau neuer Anlagen aber keine Unterstützung findet.

Anstatt also das allmähliche Verschwinden der Atomenergie abzuwarten, sollte die internationale Gemeinschaft aus der Not lieber eine Tugend machen. Wir brauchen umfassende Pläne, wie wir unsere Abhängigkeit vom Atomstrom reduzieren, wie wir in Stromeinsparung, Energieeffizienz und erneuerbare Energien investieren und wie wir unser Sozialleben und die Wirtschaft sicherer und ökologisch nachhaltig gestalten können.

Anmerkungen

1) Spencer R. Weart: Nuclear Fear: A History Of Images, Harvard University Press, 1988, S. 6.

2) Paul Boyer: By The Bomb’s Early Light: American Thought And Culture At The Dawn Of The Atomic Age, University of North Carolina Press, 1985, S. 111-113.

3) Arjun Makhijani und Scott Saleska: The Nuclear Power Deception: U.S. Nuclear Mythology From Electricity ‘Too Cheap To Meter’ To ‘Inherently Safe’ Reactors, Apex Press, 1999, S. xix.

4) J. Robert Oppenheimer: Failure to Achieve International Control of Atomic Energy, in: Morton Grodzins and Eugene Rabinowitch (Hrsg.), The Atomic Age, Simon and Schuster, 1963, S. 55.

5) Die Produktionsmenge von Urananreicherungsanlagen wird in Kilogramm oder Tonnen »Urantrennarbeit« (kg bzw. t SWU, Separation Work Unit) ausgedrückt.

6) Kenneth Bergeron: Nuclear Weapons: The Death of No Dual-use, in: Bulletin of the Atomic Scientists, Januar/February 2004, S. 15-17, www.thebulletin.org/ article.php?art_ofn=jf04bergeron.

7) Als signifikante Menge gelten die für den Bau einer Atomwaffe ausreichende Menge Plutonium (8 kg) bzw. hochangereichertes Uran (25 kg).

8) Massachussetts Institute of Technology: The Future of Nuclear Power: An Interdisciplinary MIT Study, 2003, http://web.mit.edu/nuclearpower. Würde die Vervierfachung der Atomenergie erst etwa 2100 erreicht, käme die Atomenergie dann etwa auf den selben Prozentanteil wie heute, sofern der Energieverbrauch wie prognostiziert ansteigt.

9) Die MIT-Studie verteilte die Kapazitäten auf der Basis von „verschiedenen länderspezifischen Faktoren“ auf die einzelnen Länder, „so z.B. anhand von bereits vorhandener Atomenergie, Urbanisierung, wirtschaftlicher Entwicklungsstufe und dem Rohstoffaufkommen.“ MIT-Studie, op.cit., S. 111.

10) Die weltweite Verteilung der Anreicherungskapazitäten in Abbildung 1 basiert auf der Annahme, dass nur solche Länder Anlagen zur Urananreicherung betreiben werden, die selbst über einen Reaktorpark von mindestens 10 GW(e) verfügen. Zudem würden die wichtigsten Uranexporteure (Australien, Kanada und Süd Afrika) Urananreicherungsanlagen betreiben. Ohne die Länder Westeuropas einzeln zu zählen, würden so 16 Länder über diese sensitive Technologie verfügen. Alle übrigen Länder wären reine »Reaktor-Staaten«.

11) International Energy Agency: CO2 from Fuel Combustion – Fact Sheet, 2005; www.iea.org/textbase/papers/2005/co2_fact.pdf.

12) He Youguo: China's Coal Demand Outlook for 2020 and Analysis of Coal Supply Capacity,International Energy Agency; www.iea.org/Textbase/work/2003/beijing/4Youg.pdf.

13) Robert H. Williams: Advanced Energy Supply Technologies, in: UNDP, World Energy Assessment: Energy and the Challenge of Sustainability, 2000, S. 274-329.

14) UK Sustainable Development Commission:The Role of Nuclear Power in a Low Carbon Economy,2006; www.sd-commission.org.uk/pages/060306.html.

15) Ibid.

16) LTI-Research Group (Hrsg.): Long-Term Integration of Renewable Energy Sources into the European Energy System, Physica-Verlag, 1998.

17) Op.cit., S. 76.

18) John Byrne und Steven Hoffman: The Ideology of Progress and the Globalization of Nuclear Power, in: John Byrne and Steven Hoffman (Hrsg.): Governing The Atom: The politics of risk, New Brunswick: Transaction Publishers, 1996, S.12.

19) IAEA: Global Public Opinion on Nuclear Issues and the IAEA – Final Report from 18 Countries, 2006; www.iaea.org/Publications/Reports /gponi_report2005.pdf.

Zia Mian und Alexander Glaser sind Physiker und Mitarbeiter des Program on Science and Global Security der Universität Princeton. Beide sind zudem Mitglieder des International Panel on Fissile Materials (IPFM) und im International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP), das an der TU Darmstadt angesiedelt ist. Übersetzt von Regina Hagen

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2006/3 Konfliktherd Energie, Seite