W&F 2000/3

Schritt für Schritt und immer schneller

Die Militarisierung der europäischen Integration

von Volker Böge

Anfang März 2000, also knapp ein Jahr nach Beginn des NATO-Krieges gegen Jugoslawien, haben neue – dezidiert militärpolitische – Gremien der Europäischen Union ihre Arbeit aufgenommen, darunter ein »Politisches und sicherheitspolitisches Interims-Komitee« und ein »Interimsgremium militärischer Delegierter«. Das Wörtchen »interim« in den Benennungen dieser Institutionen verweist auf ihren zwischenzeitlichen, provisorischen, ihren Übergangscharakter. Frage: Übergang wohin? Antwort: Zu einer Militärgroßmacht EU. Bei der Etablierung dieser Gremien handelt es sich lediglich um den jüngsten Schritt einer Entwicklung, die im offiziellen Jargon mit der Formel »Stärkung der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik« belegt wird.

Entsprechende Bestrebungen haben seit dem Krieg der NATO gegen Jugoslawien eine neue Dynamik gewonnen. Haben doch »die Europäer« – also die Regierungen der wichtigsten in der EU zusammengeschlossenen Staaten – ihre ganz eigenen »Lehren« aus Verlauf und Ausgang des Krieges gezogen. Dieser Krieg war auch eine Veranstaltung, mit der die USA den EuropäerInnen drastisch ihre militärische Überlegenheit vor Augen geführt und deutlich gemacht haben, dass in der westeuropäisch-nordamerikanischen Konkurrenz jedenfalls auf dem Felde von Rüstung, Militärtechnologie und militärischen Apparaten die EU-Staaten weit abgeschlagen sind.

Der Krieg als Vater
der EU-Militarisierung

Die Haupt»last« des Krieges haben eindeutig die USA getragen; letztlich wären sie durchaus in der Lage gewesen, die Operation militärisch im Alleingang durchzuziehen. Demgegenüber hätten die EU-EuropäerInnen den Krieg allein, ohne die USA, niemals führen können. Diese Verteilung der Gewichte hatte selbstverständlich auch Auswirkungen auf die Entscheidungsbildung auf politischem, strategischem und taktischem Gebiet – bis in die Zielauswahl hinein. Und so beklagten sich die EuropäerInnen denn auch über ihre relative Einflusslosigkeit hinsichtlich des konkreten Ablaufs der militärischen Aktionen.

Die Schlussfolgerung, die aus dieser Konstellation gezogen wurde, war: Um sich aus der Abhängigkeit von den USA – wenigstens ein Stück weit – zu lösen, müssten die EuropäerInnen ihre militärischen Anstrengungen verstärken, müsse namentlich die EU eine eigene sicherheits- und militärpolitische Kompetenz entwickeln.1 Nur so könne man sich in Zukunft gegenüber den USA mehr Gehör verschaffen. Der eigenen Öffentlichkeit wurde und wird diese Argumentation – insbesondere von der rot-grünen Bundesregierung – »friedenspolitisch« verbrämt und mit populärem anti-amerikanischen Unterton verkauft: In den USA herrsche ja bekanntlich eine militärische »Hau-drauf«-Mentalität vor, die sich aus der Arroganz der – militärischen – Macht speise; demgegenüber seien »wir Europäer« (und vor allem »wir Deutschen«) sehr viel zurückhaltender, stärker auf zivile Konfliktregelung orientiert und militärischem Draufschlagen eher abhold. Um dieser zivilisierteren europäischen Attitüde künftig mehr Gewicht zu verleihen, müssten »wir« allerdings auch gewisse Anstrengungen unternehmen, um uns militärisch von den USA unabhängig(er) zu machen.2

Neu ist dabei nicht so sehr die Absicht, sondern der frische Schwung, mit dem seit dem Krieg gegen Jugoslawien an die praktische Umsetzung herangegangen wird. Schon im Vertrag von Maastricht und noch prononcierter im Amsterdamer Vertrag ist die Rede davon, dass die EU eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik entwickeln müsse, die schließlich auch die Verteidigungspolitik umfassen und letztlich in die gemeinsame Verteidigung münden solle. Damit war zwar ein Ziel proklamiert; über den Weg dorthin und die Dauer, bis das Ziel erreicht sein würde, war allerdings noch nichts gesagt. Vielmehr herrschten hierüber Unklarheit und offensichtlich auch erhebliche Differenzen. Das hat sich seit dem Krieg geändert. Man ist in der EU stärker zusammengerückt und drückt aufs Tempo. Deutlich wird das etwa an einer britisch-französischen Annäherung in Fragen europäischer Militärpolitik, die in der jüngsten Vergangenheit sogar zu einigen gemeinsamen britisch-französischen Initiativen geführt hat.3 Das ist insofern bemerkenswert, als bisher Briten und Franzosen innerhalb der EU die am weitesten auseinander liegenden Vorstellungen über die europäische Militärpolitik hatten. Die Briten waren und sind traditionell stark transatlantisch und NATO-orientiert, pflegen ihre »special relationship« mit den USA und wollten eine Europäisierung von Sicherheits- und Militärpolitik nur in Unterordnung unter die NATO – und damit die US-Führung – zulassen. Die Franzosen hingegen strebten und streben in gaullistischer Tradition eine (weitestgehend) von den USA unabhängige eigenständige Militärgroßmacht Europa an.

Ein deutscher Masterplan

Diese Differenzen sind auch heute keineswegs vollends ausgeräumt, doch scheint man sich auf eine Kompromisslinie zu zu bewegen, die es erlaubt, einerseits durchaus schon einige Entscheidungen festzuklopfen und zugleich andererseits künftige Optionen offenzuhalten. Dass dies möglich wird – daran hat die rot-grüne Bundesregierung maßgeblichen Anteil; und sie – allen voran Außenminister Josef Fischer – ist auch noch stolz darauf, dass so der Militarisierung der EU ein neuer Schub gegeben wurde. Denn entgegen allen Beteuerungen insbesondere grüner Programme, man sehe Vorzug und Stärke der EU gerade darin, dass sie »Zivilmacht« sei, wurde von deutscher Seite während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 1999 ein ausgefeilter Plan erarbeitet und vorgelegt, der eine ganze Palette handfester Maßnahmen zur »Stärkung der gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik«4 vorsah. Damit wird das »Zivilmacht«-Image, welches schon immer wenig mit der Realität zu tun hatte – schließlich gehören die Schlüssel-Staaten der EU zu den am höchsten gerüsteten und militärisch mächtigsten der Welt und die EWG/EU war auch bereits zu Zeiten der Ost-West-Blockkonfrontation ein zentraler Bestandteil des westlichen Systems – endgültig ad acta gelegt.

Die rot-grüne Bundesregierung ließ sich bei ihrem Plan zur Militarisierung der EU von dem Gedanken leiten, dass sich die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EU „auf glaubwürdige operative Fähigkeiten stützen können (müsse), wenn die Europäische Union in der Lage sein soll, auf der internationalen Bühne uneingeschränkt mitzuspielen.“ Wenn man „uneingeschränkt mitspielen“ wolle, brauche man das entsprechende »Spielzeug«, sprich „autonome Handlungsfähigkeiten, die sich auf glaubwürdige militärische Fähigkeiten und geeignete Beschlussfassungsgremien stützen“. Man benötige mithin so aparte Strukturen und Gremien wie einen EU-Militärstab einschließlich eines Lagezentrums, ein Satellitenzentrum, einen EU-Militärausschuss, ein ständiges Gremium in Brüssel (politischer und sicherheitspolitischer Ausschuss) bestehend aus VertreterInnen mit politischer/militärischer Expertise sowie regelmäßige Treffen der Verteidigungsminister.

Das alles sei erforderlich, damit die EU in die Lage versetzt werde, die so genannten Petersberg-Aufgaben erfüllen zu können. Auf dem Petersberg bei Bonn hatte sich die WEU (Westeuropäische Union) anläßlich ihrer Außen- und Verteidigungsministertagung am 19. Juni 1992 bereits zuständig erklärt für „humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, friedenserhaltende Aufgaben sowie Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung, einschließlich friedenschaffender Maßnahmen“ – also Militärinterventionen. Diese Petersberg-Aufgaben machte sich die EU mit dem Amsterdamer Vertrag zu eigen.

Nun geht es folglich darum, die militärischen Fähigkeiten der EU so zu entwickeln, dass sie „auch für Krisenbewältigungsoperationen geeignet sind“. Deswegen müssen die Streitkräfte der Zukunft folgende »Haupteigenschaften« haben: „Dislozierungsfähigkeit, Durchhaltefähigkeit, Interoperabilität, Flexibilität und Mobilität“. Das heißt, man orientiert sich auf eine eindeutig offensiv- und interventionsfähige Auslegung der eigenen militärischen Mittel. Es geht nicht um Verteidigung der Territorien der EU-Mitgliedstaaten, sondern um die Fähigkeit zur Militärintervention fern der Heimat.

Hierfür wiederum wurden im Plan der deutschen Ratspräsidentschaft zwei Varianten in Betracht gezogen, nämlich „EU-geführte Operationen unter Rückgriff auf Mittel und Fähigkeiten der NATO“ oder „EU-geführte Operationen ohne Rückgriff auf Mittel und Fähigkeiten der NATO“. Variante Nummer eins entfernt sich nicht allzu weit vom Status quo. In den letzten Jahren haben sich US-AmerikanerInnen und EU-EuropäerInnen in zähem Ringen darauf geeinigt, den europäischen Staaten die Möglichkeit zu eigenständigen militärischen Interventionen ohne Beteiligung der USA zu verschaffen – allerdings nur unter Rückgriff auf Strukturen und Potenziale der NATO und bei Zustimmung der NATO, womit sich die USA Einfluss und Kontrolle sicherten. Das 1998 von der NATO in Berlin verabschiedete Konzept der Combined Joint Task Forces (CJTF) setzt diese Einigung operativ um: NATO-Hauptquartiere können von Fall zu Fall für je spezifische NATO- oder EU/WEU-geführte Operationen herangezogen werden. Die Formel, die hierfür gefunden wurde, war: trennbar, jedoch nicht getrennt. Das heißt, einheitliche (nicht getrennte) militärische Strukturen und Potenziale können von Fall zu Fall getrennt zum Einsatz gebracht werden, je nachdem, ob es sich um eine NATO-Operation unter Beteiligung der USA oder um eine europäische Aktion ohne Beteiligung der USA handelt. Auf diese Weise sollten Duplizierungen militärischer Anstrengungen vermieden werden. Den USA war diese Regelung recht, weil so zum einen keine Parallelstruktur neben der (und letztlich in Konkurrenz zur) NATO aufgebaut wurde, die NATO also die einzige militärisch handlungsfähige Instanz blieb und damit die USA aufgrund ihrer Vormachtstellung in der NATO die Kontrolle behielten, und weil so zum anderen tatsächlich eine gewisse Entlastung der USA erreicht werden konnte: Sie konnten die EuropäerInnen allein aktiv werden lassen, wenn US-amerikanische Interessen ein Mitmachen nicht geboten erscheinen ließen. Den EuropäerInnen war diese Regelung fürs Erste auch recht, weil sie die Möglichkeit bekamen, gegebenenfalls allein aktiv zu werden, auch wenn die USA nicht mittun wollten, und dabei auf NATO-Strukturen zurückzugreifen, also Kosten zu sparen, weil man nicht in den Aufbau von Parallelstrukturen investieren musste. Es blieb das Dilemma, dass man letztlich weiterhin von den USA abhängig war.

Weitaus brisanter war daher die Variante Nummer zwei des deutschen Plans: EU-geführte Operationen ohne Rückgriff auf Mittel und Fähigkeiten der NATO. Sie nämlich verließ den Boden des mühsam ausgehandelten transatlantischen Kompromisses. Ginge es hier letztlich doch darum, eigenständige, von der NATO und damit den USA unabhängige militärische Interventionskapazitäten zu schaffen. Ob das tatsächlich realisierbar ist und von allen EU-Mitgliedern im Konsens angestrebt werden wird, war bei Vorlage des Plans im ersten Halbjahr 1999 noch offen – und ist es auch gegenwärtig noch. Die entsprechende Entwicklung steht ganz am Anfang. Vorerst hat man sich im EU-Kontext auf Maßnahmen verständigt, die sowohl immer noch in den Rahmen der Variante eins einpassbar sind als auch auf die Variante zwei hinführen können. Diese Doppelwertigkeit und Doppeldeutigkeit ist politisch gewollt; zum einen, um Konsens über die entsprechenden Schritte zu erhalten, zum anderen, um – wie bereits angesprochen – Optionen für die Zukunft offen zu halten.

Von der schrittweisen zur beschleunigten Militarisierung der EU

Vor diesem Hintergrund muss man die Beschlüsse interpretieren, die auf der Basis der oben ausführlich zitierten deutschen Vorlage5 auf dem Kölner EU-Gipfel am 3. und 4. Juni 1999 zur GASP getroffen wurden, die dann auf dem Dezember-Gipfel in Helsinki fortgeschrieben und konkretisiert wurden und die schließlich im Frühjahr 2000 zur Etablierung der oben genannten Interimsgremien geführt haben. In der Kölner Gipfelerklärung »Zur Stärkung der gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik«6 heißt es: „Wir sind davon überzeugt, dass der Rat bei der Verfolgung der Ziele unserer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und der schrittweisen Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik die Möglichkeit haben sollte, Beschlüsse über die gesamte Palette der im Vertrag über die Europäische Union definierten Aufgaben der Konfliktverhütung und der Krisenbewältigung, der sogenannten »Petersberg-Aufgaben«, zu fassen. Im Hinblick darauf muss die Union die Fähigkeit zu autonomem Handeln, gestützt auf glaubwürdige militärische Fähigkeiten, sowie die Mittel und die Bereitschaft besitzen, deren Einsatz zu beschließen, um – unbeschadet von Maßnahmen der NATO – auf internationale Krisensituationen zu reagieren.“ Entsprechend verpflichtete man sich auf „den Ausbau von wirksameren europäischen militärischen Fähigkeiten (…) und insbesondere die Stärkung unserer Fähigkeiten in den Bereichen strategische Aufklärung, strategischer Transport sowie Streitkräfteführung“ – also just jenen Bereichen, die für erfolgreiche Militärinterventionen fern der Heimat besonders wichtig sind und in denen Europa bisher den USA weit hinterher hinkt.

Konkret wurde in Köln beschlossen, das Amt eines Hohen Repräsentanten der EU für die GASP zu schaffen (»Mister GASP«) und diesem ein effektives Lage- und Krisenzentrum an die Hand zu geben. Von hoher symbolischer Bedeutung war, dass zum ersten »Mister GASP« ausgerechnet der damalige NATO-Generalsekretär Javier Solana bestellt wurde. Er trat sein neues Amt im Oktober 1999 an. Im November wurde er zudem Generalsekretär der WEU – auch dies ein bedeutendes Zeichen, verweist es doch auf die enge Anbindung dieses alten, aber stets im Schatten der NATO dahin kümmernden, westeuropäischen Militärbündnisses an die EU. In der Tat wurde in Köln auch das Ziel formuliert, bis Ende des Jahres 2000 die WEU in die EU zu integrieren. Damit würde die EU vollends eine militärische Komponente erhalten, und der Dauerdisput um die Rolle der WEU – ist sie nun eher europäischer Pfeiler der NATO oder eher militärischer Arm der EU ? – wäre zu Gunsten der zweiten Option entschieden.

Mit der Integration der Aufgaben, Kompetenzen und Strukturen der WEU in die EU wäre für die EuropäerInnen zudem das Problem gelöst, welches sich bisher daraus ergab. Dass der WEU vertragsgemäß der Aufbau einer eigenständigen militärischen Struktur zusätzlich zu jener der NATO nicht gestattet war; das gilt für die EU nicht, sie hat mithin in dieser Hinsicht sehr viel größeren Handlungsspielraum.7

Der EU-Gipfel in Helsinki am 10./11. Dezember 1999 brachte weitere wichtige Schritte: Beschlossen wurde, die EU „in die Lage (zu) versetzen, autonom Beschlüsse zu fassen und in Fällen, in denen die NATO als Ganzes nicht einbezogen ist, als Reaktion auf internationale Krisen EU-geführte militärische Operationen einzuleiten und durchzuführen“.8

Bis zum Jahre 2003 sollen dafür die Voraussetzungen geschaffen werden. Dann sollen 50 bis 60.000 Soldaten (etwa 15 Brigaden) sowie Luft- und Seestreitkräfte und die entsprechenden Kommandostrukturen für Krisenreaktionseinsätze der EU bereit stehen (wohlgemerkt: explizit für Einsätze außerhalb der EU; mit Verteidigungsanstrengungen hat das Ganze mithin nichts zu tun). Innerhalb von 60 Tagen sollen diese Kräfte einsatzbereit und auf einen fernen Krisen- und Kriegsschauplatz verlegbar sein; sie sollen eine Durchhaltefähigkeit von mindestens einem Jahr im Einsatz fern der Heimat haben. Stellt man in Rechnung, dass diese Kräfte regelmäßige Ablösungen brauchen, kommt man auf rund 180.000 Soldaten für diese EU-Interventionsstreitmacht. Freilich ist nicht die Aufstellung neuer Verbände beabsichtigt, sondern bereits der NATO assignierte Kräfte erhalten einen zweiten Auftrag.

Ferner einigte man sich in Helsinki – auch hierin dem deutschen Vorschlag im Wesentlichen folgend – darauf, dass zur institutionellen Absicherung künftiger militärischer Aktivitäten der EU ein ständiges sicherheitspolitisches Komitee auf Botschafterebene sowie ein Militärausschuss und ein militärischer Arbeitsstab etabliert werden.9

Die eingangs erwähnten Interimsgremien, deren Einrichtung die EU-Außenminister bei einem Treffen in Brüssel am 14. Februar 2000 beschlossen und die sich bereits Anfang März 2000 konstituierten, sind Vorläufer dieser Organe, die im Jahre 2001 ihre Arbeit aufnehmen sollen.10 Das »Politische und sicherheitspolitische Interims-Komitee« setzt sich aus VertreterInnen der Politischen DirektorInnen der Mitgliedsstaaten zusammen, es tagt wöchentlich und soll Empfehlungen für die Fortentwicklung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik erarbeiten. Das Interimsgremium militärischer Delegierter (Vorläufer des in Helsinki beschlossenen Militärausschusses) besteht aus Abgesandten der nationalen Generalstabschefs, trifft sich zweimal jährlich und berät als höchstes militärisches EU-Gremium das »Politische und sicherheitspolitische Interims-Komitee« und den »Mister GASP«. Zudem fanden sich auch bereits militärische Experten im EU-Ratssekretariat ein, die später den in Helsinki ebenfalls beschlossenen Militärstab bzw. einen EU-Generalsstab bilden sollen. Sie basteln schon mal an möglichen Einsatzszenarien für die EU-Streitmacht der Zukunft.11

Beim nächsten EU-Gipfel Ende 2000 in Nizza soll die Integration der WEU in die EU vollzogen und die militärpolitische Dimension der EU vertraglich fixiert werden. Dann soll auch geklärt werden, wie stark der personelle Beitrag der einzelnen Mitgliedsstaaten zur EU-Interventionsstreitmacht ausfallen kann. Deutschland will mit zwei bis drei Brigaden dabei sein. Das rot-grüne Projekt der Umstrukturierung der Bundeswehr zu einer kleineren, aber effizienteren und interventionsfähigeren Streitmacht ist auch und gerade aus dem Bestreben zu erklären, die deutsche Führungsrolle in der EU – und das heißt künftig eben auch in der Militärmacht EU – auszubauen und zu stärken. Folglich sollen die Krisenreaktionskräfte der Bundeswehr aufgestockt, weitreichende Transportkapazitäten geschaffen und die Logistik für länger dauernde heimatferne Expeditionen ausgelegt werden. Die Führungsstruktur der Bundeswehr wird durch die Aufstellung eines Einsatzführungskommandos als strategischem Hauptquartier und eines operativen Führungsstabes dementsprechend modernisiert.12

Hindernisse und Friktionen

Unklar ist allerdings noch, wer das bezahlen soll. Der Aufbau von weit reichenden Transportkapazitäten und der Logistik für längere Zeit heimatfern eingesetzte Expeditionskorps, die Schaffung von satellitengestützten Aufklärungs- und Kommunikationssystemen, die Entwicklung von hochmodernen (Langstrecken-)Präzisionswaffen usw. erfordern Unsummen. In Köln wurden zwar die Notwendigkeit einer „Stärkung der industriellen und technologischen Verteidigungsbasis“ und „die Umstrukturierung der europäischen Verteidigungsindustrien“ zwecks „engere(r) und effizientere(r) Zusammenarbeit der Rüstungsunternehmen“ angemahnt und gerade in jüngster Zeit hat es bedeutende Fusionen bei den europäischen Rüstungskonzernen gegeben; doch ob das angesichts knapper finanzieller Mittel reicht, um tatsächlich im Spurt den rüstungsindustriellen und militärtechnologischen Vorsprung der USA einzuholen, ist sehr fraglich. Jedenfalls „schwiegen sich die meisten europäischen Verteidigungsminister am 28. Februar 2000 bei einem informellen Treffen in Sintra nahe der portugiesischen Hauptstadt Lissabon (über die mögliche Finanzierung der Umsetzung der Pläne für die Eingreiftruppe – V.B.) aus. (…) zur Realisierbarkeit eines französischen Vorschlages, nach dem alle Mitgliedsländer 0,7% ihres Bruttoinlandproduktes für militärische Investitionen aufwenden sollen“ mochte sich auch kein EU-Partner äußern.13

Aber nicht allein am schnöden Mammon können sich die hochfliegenden Pläne brechen. Auch der einzig verbliebenen militärischen Supermacht auf dieser Welt passt die ganze Richtung offensichtlich immer weniger.14 Zwar mahnen die USA seit Jahren, ja, seit Jahrzehnten an, dass die EuropäerInnen im Rahmen einer „gerechteren Arbeits- und Lastenteilung“ unter den transatlantischen Bündnispartnern mehr Arbeit und Lasten übernehmen. Gerade beim Krieg gegen Jugoslawien hatte sich einmal mehr gezeigt, dass die europäischen Streitkräfte technologisch so weit hinter den US-amerikanischen zurück waren, dass eine gemeinsame Operationsführung darunter litt. Für die US-Seite war das Anlass zu fordern, die EuropäerInnen mögen sich doch bitte mehr anstrengen. US-Verteidigungsminister Cohen postulierte auf der diesjährigen Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik: „Die europäischen Staaten müssen ihre Streitkräfte verbessern. Sie müssen mehr (finanzielle) Ressourcen bereitstellen und Reformen beschleunigen“.15 Aber selbstverständlich sollten diese Anstrengungen und die Übernahme von mehr Arbeit und Lasten unter US-Führung und Kontrolle erfolgen. Eine tatsächliche rüstungsindustrielle, militärpolitische und militärische Eigenständigkeit der westeuropäischen Staaten ist nicht im Sinne der USA. Um das zu verhindern, wollten und wollen sie das Primat der von ihnen geführten NATO sicherstellen.

Gegenwärtig aber droht sich in den Augen maßgeblicher US-Außen- und SicherheitspolitikerInnen eine Dynamik zu entfalten, die den USA entgleiten könnte. Der US-amerikanische Vize-Außenminister Strobe Talbott äußerte die Befürchtung, dass die europäische Verteidigungsidentität „erst in der NATO entsteht, dann aus der NATO herauswächst und schließlich sich von der NATO wegbewegt“16 – mit den Folgen von Duplizierung militärischer Anstrengungen und militärpolitischer Konkurrenz EU-USA. Seine Chefin Madeleine Albright warnt vor den drei d's,

  • dem »decoupling«, also der Loslösung EU-Europas von den USA;
  • der »duplication«, d.h. der Verdopplung von Strukturen und Kapazitäten (NATO plus EU-Militärorganisation) und schließlich
  • der »discrimination«, der Diskriminierung (soll heißen: Ausschluss von militärpolitischen Beratungen, Entscheidungen und Maßnahmen) jener NATO-Mitglieder, die nicht Mitglied der EU sind (womit sich die USA auch zum Anwalt insbesondere des geostrategisch wichtigen NATO-Staates Türkei macht).

Um diesen Gefahren zu begegnen, fordern die USA die eindeutige formale Festlegung einer Vorrangstellung der NATO gegenüber der EU bei der »Krisenbewältigung«. Einige EU-Mitglieder – allen voran Deutschland und Großbritannien – versuchen, die USA zu beschwichtigen, indem sie formelle Strukturen des Dialogs, der Konsultation und Koordinierung NATO-EU anbieten und auch bereit scheinen, eine offizielle Festschreibung einer Art Erstentscheidungsrechtes der NATO darüber, wer denn nun intervenieren darf (die NATO selber oder die EU), zu akzeptieren. Das allerdings behagt der französischen Regierung nicht, die keinerlei Einschränkungen des Rechtes der EU zu Militärinterventionen hinnehmen will. Mit anderen Worten: „Der Wettbewerb geht um die Frage, wer in Europa die Ultimaten stellt, wer die Exempel statuiert und wer den Finger am Abzug hält“.17 Noch haben die USA angesichts ihrer klaren militärischen Übermacht und ihres großen militärtechnologischen Vorsprungs in diesem Wettbewerb die Nase vorn; einer tatsächlich eigenständigen und eigenständig interventionsfähigen europäischen Militärmacht sind nach wie vor enge Grenzen gezogen. Doch auch wenn die militärische und militärpolitische Hegemonie der USA auf absehbare Zeit unanfechtbar bleibt, so wird doch andererseits die Militarisierung der europäischen Integration von herrschender Politik in den bedeutendsten EU-Staaten unbestreitbar forciert. Das Resultat: Dem für Konfliktbearbeitung untauglichen Mittel NATO wird ein weiteres untaugliches Mittel EU-Streitmacht beigesellt.

Ob und wie die innereuropäischen und transatlantischen Widersprüche sich entwickeln, ob und wie sie von herrschender Politik eingehegt und kleingearbeitet werden können oder ob und wie sie sich verschärfen, ist gegenwärtig noch nicht auszumachen. Gewisslich aber ist für antimilitaristische Politik nichts zu gewinnen, indem man sich auf die eine oder andere Seite schlägt. Positionen, die in den USA den Garanten zur Abwehr europäisch-deutscher Großmachtambitionen sehen, sind friedenspolitisch ebenso verfehlt wie Positionen, die in europäischer sicherheits- und militärpolitischer Eigenständigkeit die Chance zur Zurückdrängung der maßgeblich auf militärische Macht gestützten US-Hegemonie sehen. Friedenspolitisch ist die Wahl zwischen NATO und EU-Streitmacht eine solche zwischen Scylla und Charybdis.

Anmerkungen

1) Vgl. etwa die offizielle Position der Bundesregierung: „Der Konflikt im Kosovo hat der EU dramatisch vor Augen geführt, wie dringend und unverzichtbar die Stärkung der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik für Europa ist. Nur wenn es der EU gelingt, auch auf diesem Gebiet ihre Kräfte zu bündeln und eigenständig handlungsfähig zu werden, wird Europa seine Werte und Interessen in vollem Umfang zur Geltung bringen können.“ (http://www.auswaertiges-amt.de/4_europa/7/4-7-2g.htm).

2) „Ohne die überlegene Waffentechnologie der USA hätte der Luftkrieg gegen Belgrad nicht geführt werden können. Dagegen sollen nun ebenbürtige Einsatzmittel in europäischer Hand Abhilfe schaffen. »Wir müssen es selbst können, damit die Amerikaner es nicht ohne unser Wollen tun«, ließ Bundeskanzler Schröder in einem »Spiegel«-Interview besorgt verlauten“ (Mutz, Reinhard: Europa unter falscher Flagge, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 45. Jg., 2000, H. 2, S. 140-144, hier: S. 143). Vgl. auch Joffe, Josef: Ein Wunderwerk der Kontinuität. Parameter rot-grüner Außenpolitik, in: ebd., 44. Jg., 1999, H. 11, S. 1324-1335, hier: S. 1330.

3) Man kann die französisch-britische Erklärung von St. Malo vom 4. Dezember 1998, in dem die beiden Länder neue Initiativen zur Stärkung der europäischen militärischen Fähigkeiten im EU-Rahmen ankündigten, als Auftakt der gegenwärtig ablaufenden beschleunigten Militarisierung der EU sehen.

4) Siehe Bericht des Vorsitzes über die Stärkung der gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Bulletin, Nr. 49, 16. August 1999, S. 533-535. Die folgenden Zitate im Text aus ebd.

5) Die Bundesregierung sah mit der Billigung ihres Plans und den Beschlüssen des Kölner Gipfels „die wesentlichen Ziele“ ihrer Ratspräsidentschaft als „erreicht“ an, s. dazu Sommer, Peter-Michael: Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Ergebnisse der deutschen Doppelpräsidentschaft in EU und WEU, in: Europäische Sicherheit, H.12, 1999, S. 14-18, hier: S. 16.

6) Siehe Bulletin Nr. 49, a.a.O., S. 532f. Die folgenden Zitate im Text aus ebd.

7) Auf der anderen Seite enthält der WEU-Vertrag anders als der die NATO konstituierende Nordatlantikvertrag keine Beschränkung des geographischen Zuständigkeitsbereichs; die WEU und damit auch die EU haben mithin im Gegensatz zur NATO kein »out-of-area«-Problem.

8) Zitiert nach Streitkräfte und Strategien, 18.12.1999, Sendemanuskript, S. 7f.

9) Nicht mehr als eine Fußnote wert ist die Feststellung, dass in Helsinki auch Lippenbekenntnisse zur Stärkung und Verbesserung der zivilen Krisenpräventions- und -bewältigungsmechanismen der EU abgegeben wurden. Da geht es um Studien, Datenbanken, Bestandsaufnahmen. Das alles steht in überhaupt keinem Verhältnis zur Energie und zum Aufwand, mit dem die Implementierung der militärischen Maßnahmen betrieben wird.

10) Die Etablierung der Interimsstrukturen wurde notwendig, weil für die Umsetzung der Beschlüsse von Helsinki Änderungen des EU-Vertrags erforderlich sind.

11) Ebenfalls lediglich fußnotenmäßig sei festgehalten, dass selbstverständlich an eine demokratisch-parlamentarische Kontrolle aller dieser Militarisierungsschritte nicht gedacht ist; das Europäische Parlament spielt in diesem ganzen Prozess keine Rolle.

12) Vgl. dazu Scharping, Rudolf: Fähig zum Handeln. Wie Europa in der Sicherheitspolitik zum gleichberechtigten Partner Amerikas werden kann, in: Die ZEIT, Nr. 14, 30. März 2000,
S. 5.

13) Europa, quo vadis?, in: ami, 30. Jg., H. 3. März 2000, S. 11-15, hier: S. 13.

14) Noch eine Fußnote der Geschichte: Auch innerhalb der EU gibt es Bedenken und Reserven gegenüber der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, vor allem von Seiten der neutralen Staaten unter den EU-Mitgliedern.

15) Zitiert nach Handelsblatt, 7.2.2000, S. 12.

16) Zitiert nach Streitkräfte und Strategien, a.a.O., S. 8.

17) Mutz, a.a.O., S. 143. – Im Neuen Strategischen Konzept der NATO vom Frühjahr 1999 ist noch festgelegt, dass die EU nur und erst dann militärisch aktiv werden darf, wenn der NATO-Rat zuvor entschieden hat, dass sich die NATO nicht engagieren will. Doch stellt dieses Neue Strategische Konzept der NATO in der Tat nicht mehr als „einen situationsbedingten Kompromiss dar. (…) es beseitigt nicht die Spannungen zwischen der amerikanischen Dominanz und dem insbesondere von Frankreich artikulierten europäischen Wunsch nach Eigenverantwortung und Gleichberechtigung“ (Dembinski, Matthias: Von der kollektiven Verteidigung in Europa zur weltweiten Intervention?, HSFK-Standpunkte Nr. 3/ Juli 1999, S. 9).

Dr. Volker Böge ist im Vorstand des Komitees für Grundrechte und Demokratie

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2000/3 Europa kommt, Seite