W&F 1986/1

Schützt das Grundgesetz die Rüstungsforschung?

von Gernot Böhme

Die Frage, ob Wissenschaft Wissenschaft für die Öffentlichkeit ist, ob sie dem Gemeinwohl dient, spitzt sich zu, wenn man sie für den Bereich Rüstungsforschung stellt. Das Baconsche Programm einer Verbesserung des menschlichen Lebens und der Gemeinschaft durch Wissenschaft und Technik, schloß ursprünglich ausdrücklich die Rüstung mit ein. Aber auch schon damals, d.h. im 17. Jahrhundert war diese Perspektive ein Widerspruch zum Konzept der „öffentlichen“ Wissenschaft. Als öffentliche Wissenschaft im Sinne von veröffentlichter oder zu veröffentlichender Wissenschaft war die neuzeitliche Wissenschaft als internationale bzw. universale entworfen worden. Als Mittel zur Verbesserung der Möglichkeiten der Kriegsführung oder auch der Verteidigung konnte sie nur als partikular verstanden werden: nützlich ist die Verbesserung einer Kriegstechnik nur dann, wenn sie nur die eigene Nation, nicht der Gegner besitzt - d.h. also, daß Kriegsforschung in jedem Fall im Konflikt zum universellen Charakter von Wissenschaft steht: Partikularisierung von Wissen, sprich Geheimhaltung ist unvermeidlich.

Dieser schon seit dem 17. Jahrhundert bestehende Widerspruch zwischen der neuzeitlichen Wissenschaft und ihrer militärischen Orientierung hat sich in unserem Jahrhundert ins Unerträgliche gesteigert. Die Gründe dafür liegen in der Verwissenschaftlichung des Krieges allgemein und der Entwicklung der Kernwaffen im besonderen.1 Bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts war der Krieg ein mit Kraft und Geist geführtes Handwerk. In unserem Jahrhundert hat sich die Verwissenschaftlichung des Krieges vollzogen, was zu einer weitgehenden Entwertung der klassischen Tugenden und Kompetenzen, die zum Kriege nötig waren, geführt hat. Auch heute noch spielt die Kraft, vor allem im Sinne von ökonomischer Leistungsfähigkeit eine große Rolle, aber die Kriegsführung selbst - oder auch die Verteidigung - ist eine Sache, die nicht mehr handwerklich, sondern auf wissenschaftlich-technischem Niveau und mit den Mitteln von Wissenschaft und Technik sich vollzieht. Und der Stand von Wissenschaft und Technik bestimmt die Mittel des Krieges selbst. Deshalb ist die Front, an der militärische Überlegenheit angestrebt wird, und vielleicht - vorübergehend - auch erzielt werden kann, die Front wissenschaftlich-technischer Entwicklung. Vorübergehend - denn auf Dauer wird jede Leistungssteigerung wissenschaftlich-technischer Kriegsführung vom Gegner übernommen oder durch eine entsprechende kompensiert. Die Verwissenschaftlichung des Krieges hat dazu geführt, daß prinzipiell auch die Kriegsmittel mit der Wissenschaft universalisiert wurden. Daraus folgt, daß jeder wissenschaftlich-technische Fortschritt, der militärisch relevant ist, sich über kurz oder lang gegen das eigene Lager richtet.

Zu derselben Konsequenz hat die Entwicklung von Kernwaffen geführt. Diese Waffen, die schon als einzelne in ihrer Wirkung schwer begrenzbar sind, haben zu einer Strategie gezwungen, die die Differenz von „den Freunden nützlich“ und „den Feinden schaden“, obsolet gemacht hat. (Nun gibt es Leute - um das in Klammem zu sagen die dieses Resultat als ein positives Resultat der Wissenschaft für den Krieg ansehen: gerade ihm hätten wir in Europa und die Supermächte in ihrer direkten Beziehung 40 Jahre Frieden zu verdanken!)

In jedem Falle aber folgt, daß eine weitere Entwicklung der wissenschaftlich-technischen Mittel für militärische Zwecke nicht im öffentlichen Interesse liegen kann. Sie würde universal das Vernichtungspotential steigern und das globale Gleichgewicht gefährden. Die Einsicht in diese Situation müßte zu einer Abrüstungspolitik führen die nicht auf technische Entwicklungen sich stützt.

Bevor ich nun von diesen allgemeinen Betrachtungen der Beziehung von öffentlicher Wissenschaft und Krieg zu solchen übergehe, die die Rahmenbedingungen dieser Diskussion in der Bundesrepublik betreffen, möchte ich kurz an einen Vorgang erinnern, der ein Licht auf diese Rahmenbedingungen geworfen hat.2 Der Senat der Fachhochschule Hamburg hatte am 15.12.83 bzw. am 26.01.84 einen Beschluß gefaßt, in dem es hieß: „Die Fachhochschule lehnt die Zusammenarbeit mit Firmen und Institutionen ab, deren militärische Zweckbindung erkennbar ist und führt keine Untersuchung durch und übernimmt keine Aufträge, die offensichtlich militärischen Zwecken dienen. Alle neuen Mitglieder sind auf diesen Beschluß hinzuweisen.“ Die Mitglieder des Senats der FH mögen sich von solchen Überzeugungen haben leiten lassen, wie ich sie soeben vorgetragen habe, nämlich daß jede weitere Steigerung der wissenschaftlich-technischen Fähigkeiten im militärischen Bereich dysfunktional ist. Oder sie mögen erkannt haben daß die Gemeinschaft der Wissenschaftler und Techniker selbst eine der stärksten Triebkräfte des Wettrüstens darstellt, so daß sie zu der Auffassung gekommen sein mögen, daß das weltweit geforderte Abrüsten im wissenschaftlich-technischen Sektor zu beginnen habe. Ihre Motive jedenfalls waren offenbar, die Sache von Frieden und Abrüstung zu fördern. Für unsere Fragestellung entscheidend ist, daß dieser Beschluß vom Hamburger Wissenschaftssenator unter Berufung auf das Grundgesetz aufgehoben wurde. Diese Tatsache wirkte und wirkt auf das unmittelbare Rechtsempfinden schockierend und paradox. Um das Paradox einmal auf eine kurze Formel zu bringen, könnte man vielleicht sagen: "Dienen sonst die Waffen dem Grundgesetz, so scheint hier plötzlich das GG den Waffen zu dienen." Diese erste und sicherlich zu grobe Artikulierung der Verletzung des Rechtsgefühls, die in diesem Vorgang für viele von uns geschehen ist, benennt jedenfalls eine Rangordnung, die man gemeinhin unterstellt: nämlich daß das Grundgesetz dem Militärwesen und allem, was dazugehört, im Rang der Werte vorgeht. Und ferner, daß das Militär ein bloßes Mittel ist, das Grundgesetz aber nicht als bloßes Mittel verstanden werden darf.

Um in die Analyse einzutreten, möchte ich zunächst eine Passage aus der Begründung des Wissenschaftssenators vorlesen: „Der Beschluß des Fachhochschulsenats verstößt gegen Artikel 5 Absatz 3 des Grundgesetz. Denn das Grundgesetz der Freiheit der Forschung und Lehre garantiert den einzelnen forschenden und lehrenden Mitgliedern der Fachhochschule auch die Beteiligung an Projekten und Untersuchungen mit militärischen Zwecken oder Zweckbindungen (...)“

Danach ist unsere Frage „Schützt das Grundgesetz die Rüstungsforschung?“ also eindeutig mit ja zu beantworten. Das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit schützt die Rüstungsforschung, jede Art von Rüstungsforschung. Ja, schützt denn, wird man sogleich fragen, das Grundgesetz jede Art von Forschung? Ja, im Prinzip ja. Den hier auf einen einstürzenden Fragen nach Massenvernichtungsmitteln, chemischen und bakteriologischen Waffen, Experimenten mit gekeimten menschlichen Zellen usw. wird man zunächst nur entgegenhalten können, daß die einzige explizite Einschränkung des Grundgesetzes der Wissenschaftsfreiheit sich auf eine gegen das Grundgesetz selbst gerichtete Lehre bezieht. Weitere inhaltliche Einschränkungen sind offenbar im parlamentarischen Rat nicht diskutiert werden.3 Auch in den Kommentaren tauchen entsprechende Überlegungen in der Regel nicht auf.4

Der Artikel 5 Abs. 3 des GG lautet „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung Dieser Abschnitt ist ein Abschnitt zum Recht der freien Meinungsäußerung. Diese Tatsache ist zunächst einmal ernstzunehmen - auch im Hinblick auf die Frage, ob die Benutzung dieses Artikels, um damit die Selbstbeschränkung einer wissenschaftlichen Institution zu verhindern, nicht seiner Intention völlig quer liegt. Die Wissenschaftsfreiheit gehört also zum Komplex der Redefreiheit. Diese ist ein zentraler bürgerlich-liberaler Wert und sicherlich für eine republikanische oder demokratische Verfassung konstitutiv. Denn die Herstellung von Öffentlichkeit, öffentlicher Meinung, volonte general setzt ja eben voraus, daß jeder Bürger sich frei äußern kann.

Mit der Idee bürgerlicher Öffentlichkeit ist auch noch die Freiheit der Kritik unmittelbar zu verbinden. Denn Kritik, und zwar öffentliche, muß möglich sein, wenn eine demokratische Fortentwicklung der bestehenden Verhältnisse und Gesetze möglich sein soll. Das wäre also die Freiheit der Feder, die Kant bekanntlich in seiner Schrift „Was heißt Aufklärung?“ noch über die allgemeine Redefreiheit stellte. Wissenschaft als Kritik wäre damit der Idee der bürgerlich liberalen Demokratie unmittelbar verbunden. Diese Tatsache sei zunächst einmal festgehalten - bevor ich hinzufüge, daß Wissenschaft nicht nur dies ist.

Wir müssen uns klarmachen, daß sich das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit aus den Ideen der Paulskirche 1849, und weiter zurück aus dem Geist der Aufklärung herleitet. In dieser Periode aber war die soziale Funktion der Wissenschaft vornehmlich ihre Weltbildfunktion, genauer ihre aufklärerische Funktion. In dieser Funktion galt den Vätern der Paulskirche die Wissenschaft als ein höchstes Gut. An Wissenschaft als Produktivkraft haben sie dabei nicht gedacht. Wissenschaft ist nicht nur Kritik, sondern Forschung. Wenn wir bedenken, daß wir es nicht mit Wissenschaft überhaupt zu tun haben, sondern mit dem Typ „neuzeitliche Wissenschaft“, dann müssen wir hinzufügen: Wissenschaft ist die Produktion von Wissen über Gegenstände zum Zwecke der Beherrschung dieser Gegenstände. Es ist sehr fraglich, ob die Abgeordneten der Paulskirche, ob die Verfasser der Reichsverfassung, ob die Mitglieder der Parlamentarischen Versammlung im Sinne hatten, Forschung in diesem Sinne, zu diesem Zweck und über beliebige Gegenstände zu schützen. Faktisch geschieht das aber durch Art. 5 Abs. 3 GG, ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts spricht sogar von der „absoluten Wissenschaftsfreiheit“.5

Ob Wissenschaftsfreiheit absolut sein darf, kann heute angesichts einer Wissenschaft, die Zerstörungswissen produziert und die Möglichkeiten zur Manipulation des Wesens Mensch entwickelt, bezweifelt werden. Als Bestandteil der Forderung nach Meinungs- und Redefreiheit wäre eine solche Freiheit jedenfalls nicht anzusehen, hätte also im Art. 5 des GG nicht ihren Ort. In den Kommentaren wird allerdings auch häufig versucht, in der Wissenschaftsfreiheit einen von der Idee der bürgerlichen Öffentlichkeit unabhängigen Wert zu sehen. Dieser Wert ist die Wahrheit.6 Wissenschaft wird dann verstanden als Wahrheitssuche. Nun ist aber - zu Recht oder zu Unrecht - in der herrschenden Wissenschaftstheorie, nämlich Poppers, von Popper selbst bis zu Laudan 7 die Bedeutung der Wahrheit in der Wissenschaft immer weiter herabgespielt worden. Auch in der Praxis dürfte Wissenschaft heute im allgemeinen nicht als Wahrheitssuche betrieben werden, sondern als Problemlösungsstrategie. Wissenschaft als Strategie zur Lösung von Problemen beliebiger Art - wenn sie das ist, wäre über zulässige und nicht zulässige, über legitime oder nicht legitime Lösungsstrategien zu reden.

Das führt uns zu der Frage, ob denn nicht irgendwelche inhaltlichen Einschränkungen der Wissenschaftsfreiheit denkbar sind. Solche sind - zwar nicht im Zusammenhang mit Kriegsforschung, was uns hier primär interessiert, wohl aber im Zusammenhang mit Humangenetik bzw. Gentechnologie diskutiert worden. Das Ergebnis dieser Diskussionen kann man wohl wie folgt zusammenfassen: Eine Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit durch spezielle Gesetze - also ein irgendwie geartetes „Verbot“ von Genforschung - ist nicht denkbar. Denn es stünde dann ja in Widerspruch zum Grundgesetz. Besondere Gesetze zur Wissenschaftsfreiheit könnten nur Konkretisierungen des Grundgesetzes sein.8

Eine andere Möglichkeit besteht aber, wenn man eine Grundrechtskollision feststellt. In eine solche Grundrechtskollision kann Forschung am Menschen bzw. mit menschlichen Keimen allerdings geraten, nämlich dann, wenn sie Art. 1 des GG oder Art. 2 Abs. 2 verletzt. Die Würde des Menschen und die Unantastbarkeit des Lebens eines Menschen müssen unbedingt respektiert werden. Nun ist allerdings der Begriff der Menschenwürde einer breiten Auslegung fähig und insofern auch möglicherweise der durch dies Grundrecht geschützte Bereich. Aber für unseren Zusammenhang lohnt es sich, auf eine kritische Einschränkung hinzuweisen: unter der Würde des Menschen wird nämlich im GG durchweg die Würde des Einzelmenschen verstanden. Dies kommt in den Diskussionen vor allem dort zum Ausdruck, wo erwogen wird, ob menschliches Keimmaterial erst von einer bestimmten Entwicklungsstufe an den Anspruch auf Menschenwürde erheben kann. Diese Tatsache, daß die Grundrechte, wie die Menschenrechte allgemein, als Rechte des Einzelmenschen gedacht und formuliert wurden, verhindert es faktisch zu behaupten, daß die Entwicklung von Massenvernichtungsmitteln gegen die Menschenwürde verstößt - was aber sicherlich weitgehend so empfunden wird.

Wenn überhaupt über Grundrechtskollisionen, so kann man also nicht von den Grundrechten derer her argumentieren, denen durch Rüstungsforschung und ihre Folgen etwas angetan wird. Es bliebe aber die Möglichkeit, nach der Menschenwürde des Forschers selbst zu fragen. Nun mag es moralisch einleuchten, daß Kriegsforschung u. U. eine Verletzung der Menschenwürde im Forscher selbst darstellt - aber kann man vom Staat erwarten, daß er den Einzelnen gegen die Verletzung der eigenen Würde schützt? So absurd dieser Gedanke erscheint - man muß doch feststellen, daß der Begriff der Menschenwürde durchaus auch nicht bloß als zugeschriebenes Recht, sondern auch als Verpflichtung verstanden wird. So tauchen in der verfassungsrechtlichen Interpretation der Menschenwürde auch Begriffe wie selbstverantwortliches Dasein oder „Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person“ 9 auf. Eine Ächtung von Wissenschaft für den Krieg ist also durchaus denkbar, so wie es ja Ächtung des Krieges im internationalen Recht längst gibt.

Angesichts der Schwierigkeit, das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit einzuschränken, hat man sich im Falle der Humangenetik und der Forschung an menschlichen Keimen auf eine Politik geeinigt, die die Selbstbeschränkung der Wissenschaft favorisiert. Es werden Initiativen und Beschlüsse im Wissenschaftsbereich angeregt und befördert, durch die die Wissenschaftler sich in ihrer Forschung selbst Schranken auferlegen. Dann - so meint man - wird man das schwierige Problem einer Grundrechtseinschränkung vermeiden können. Dieses Vorgehen ist nun für unseren Zusammenhang höchst interessant. Denn faktisch könnte ja ein einzelner Wissenschaftler sich durch die Selbstbeschränkungsbeschlüsse seiner Zunft in seinem Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit beschnitten sehen und sich entweder schlicht nicht daran halten oder sich durch eine Grundrechtsbeschwerde gegen eventuelle Oktrois wehren. Und sagen wir es deutlich: ein Wissenschaftssenator könnte sich gegebenenfalls im Zuge der Rechtsaufsicht genötigt fühlen, einen entsprechenden Beschluß aufzuheben. Damit haben wir offenbar erneut einen Kernpunkt des Problems getroffen. Bevor ich ihn noch näher betrachte, möchte ich folgendes hinzufügen: Daß ein kollektiver Selbstbeschränkungsbeschluß im Bereich der Humangenetik vermutlich nicht aufgehoben wird, wohl aber ein kollektiver Selbstbeschränkungsbeschluß im Bereich der Rüstungsforschung, macht deutlich, daß im ersten Fall offenbar ein gesamtgesellschaftlicher Konsens vorausgesetzt werden kann, im zweiten nicht: Es handelt sich also bei einer Aufhebung eines Selbstbeschränkungsbeschlusses im Bereich der Rüstungsforschung - näher besehen - nicht so sehr um einen verwaltungsrechtlichen, sondern um einen politischen Akt.

Kehren wir zu der jetzt neuerlich aufgetretenen Grundfrage zurück: Macht das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit kollektive Selbstbeschränkungsbeschlüsse in der Wissenschaft unmöglich? Die Antwort muß eindeutig: Ja lauten. Auch diese Antwort gibt man mit dem Gefühl, daß sie eigentlich nicht der Intention des Grundgesetzes entspricht. Woran liegt es, daß das Grundgesetz der Wissenschaftsfreiheit kollektive Selbstbeschränkungsbeschlüsse in der Wissenschaft verbietet? Es liegt daran; daß dieses Grundrecht als ein Grundrecht des einzelnen, des einzelnen Wissenschaftlers gemeint ist und bis heute verstanden wird. Man sollte eigentlich nicht von Wissenschaftsfreiheit oder der Freiheit der Wissenschaft sprechen, sondern von der Freiheit des Wissenschaftlers. Diese irgendwie schockierende Formulierung trifft aber den wahren Sachverhalt. Grundrechte sind Individualrechte, Rechte des einzelnen Menschen. Und zwar sollen sie einerseits den einzelnen gegen mögliche Übergriffe des Staates schützen - das sind die sog. bürgerlichen Grundrechte oder Freiheitsrechte - oder sie sollen dem Staat gewisse Fürsorgeverpflichtungen gegenüber dem einzelnen auferlegen - das sind die sogenannten sozialen Grundrechte. Also: das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit ist ein Freiheitsrecht des einzelnen gegenüber dem Staat. Diese Tatsache könnte Zweifel daran erwecken. ob man sich von staatlicher Seite auf das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit berufen kann, wenn man einen kollektiven Selbstbeschränkungsbeschluß aufhebt. Nun mag man allerdings argumentieren, daß der Staat auch eine Verpflichtung hat, mögliche Einschränkungen der individuellen Wissenschaftsfreiheit von dritter Seite abzuwehren.10 Aber der Fall der Humangenetik macht deutlich, daß das offenbar nicht selbstverständlich ist.

Nun ist aber überhaupt fraglich, ob diese in der Tradition des Grundgesetzes liegende Auffassung von Wissenschaftsfreiheit als Freiheit des einzelnen Forschers zu erforschen, was er will, die sog. „Eigeninitiative“ überhaupt der Sache Wissenschaft angemessen ist. In der Tat bedarf die Wissenschaft einer bestimmten, schützenswürdigen Freiheit, nämlich der Freiheit der Diskussion, der Möglichkeit unbeschränkter Veröffentlichung, der Freiheit von Zensur, der Freiheit gegenüber ideologischen Oktrois. Ohne diese Freiheiten kann sie nicht leben, nicht sein, was sie ist. Die Wissenschaftsfreiheit als Freiheit des Individuums zu formulieren, entspricht wiederum einem Stand der Wissenschaftsentwicklung, wie er bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts charakteristisch war. Wissenschaft als individuelles, noch zum Teil amateurhaftes Wahrheitsstreben, der Privatdozent als Idealfigur - „Einsamkeit und Freiheit“, um Humboldt zu zitieren. In den meisten Wissenschaftsbereichen, und zwar gerade in den hier zur Debatte stehenden, nämlich den Naturwissenschaften und der technologischen Forschung, ist aber Wissenschaft längst als ein kollektives Unternehmen der Wissensproduktion anzusehen. Die „Eigeninitiative“ 11 im strengeren Sinne findet nicht statt, und auch ohne kollektive Beschlüsse muß sich der Einzelforscher dem fügen, was das institutionell organisierte Kollektiv, zu dem er gehört, erforschen will oder soll. Das fängt schon bei Diplomarbeiten an, wenn beispielsweise ein Diplomand an einem flugmechanischen Institut praktisch keine andere Arbeit machen kann, als eine, die irgendwie in den Zusammenhang eines militärischen Projektes gehört. Da also faktisch Wissenschaft in diesen Bereichen kollektiv organisierte Forschung ist, so muß man fragen, ob es dann nicht umgekehrt zur Wissenschaftsfreiheit solcher Kollektive gehören muß, sich auch gegen bestimmte Forschungen zu entscheiden. Dabei müßte dann allerdings in Kauf genommen werden, daß einzelne Mitglieder des betreffenden Kollektivs überstimmt werden könnten - ein in einer Demokratie ja nicht ungewöhnlicher Prozeß.

Fassen wir zusammen: Das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit entstammt der bürgerlich liberalen Tradition und hat seinen Ort im Kontext bürgerlich demokratischer Öffentlichkeit. Es wurde deshalb als individuelles Freiheitsrecht, als Abwehrrecht gegenüber dem Staat formuliert. Eine Unbeschränktheit des Forschungszugriffs auf beliebige Gegenstände und zu beliebigen Zwecken sollte dadurch nicht gewährleistet werden. Angesichts einer Wissenschaft als kollektiver Produktion von Wissen zum Zwecke der Beherrschung von Gegenständen erscheint die Formulierung der Wissenschaftsfreiheit als individueller Freiheit als unangemessen und für demokratische Willensbildung im Wissenschaftssektor sogar dysfunktional.

Wir befinden uns heute in einer Situation, in der ein Konsensus darüber, ob eine Fortsetzung militärischer Forschung in irgendeiner Form dem öffentlichen Interesse entspricht, nicht mehr vorausgesetzt werden kann. In dieser Situation muß es als eine mögliche politische Auffassung respektiert werden, daß der Prozeß der Abrüstung primär im Wissenschafts- und Technikbereich anzufangen hat. Da ohnehin eine Abwehrverpflichtung des Staates gegenüber einer Einschränkung der individuellen Wissenschaftsfreiheit durch dritte nicht selbstverständlich ist, scheint man nicht wohlberaten, wenn man demokratische Prozesse, die auf Abrüstung im Wissenschaftssektor gerichtet sind, verhindert.12

Anmerkungen

Zum Grundrecht der „individuellen Eigeninitiative“ siehe den in Anm. 3 zitierten Kommentar, I, 614.

Gernot Böhme ist Professor der Philosophie an der Technischen Hochschule Darmstadt. Z. Zt. Gastdozent an der Erasmus-Universität Rotterdam

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1986/1 1999: Ende der Atomwaffen?, Seite