Schulkinder als Fußsoldaten
Der lange Marsch zum Frieden
von Corinna Hauswedell
Herbstanfang, Schulbeginn – Zeit zum Aufbruch aus der Sommerpause, um Neues zu erleben und zu lernen. Für einige nordirische Kinder wurde die erste Septemberwoche zum Horrortrip. Ihr Schulweg geriet zu einer bitteren Lektion des Hasses, als sie unter wüsten Beschimpfungen, Steinwürfen, und Nagelbomben ihrer protestantischen Nachbarn durch ein Spalier hochgerüsteter Polizei und Soldaten und im Schutz ihrer Eltern zu der katholischen Grundschule in Ardoyne gehen mussten.
Die entsetzten Gesichter der drei- bis sechsjährigen Mädchen aus Nord-Belfast, viele zum ersten Mal auf dem Weg zur Schule, sind um die Welt gegangen. Sie berühren uns – auf andere Weise als die Meldungen über die Selbstmordattentäter in Jerusalem oder die Straßenkämpfe in anderen Kriegs- und Krisenregionen der Welt. Der Kontrast zwischen der »Unschuld« der Opfer und der unverzeihlichen Gewaltbereitschaft der Täter erscheint besonders groß. Aber es gibt keine einfache Moral von der Geschicht’. Zerrbilder eines uralten und zugleich heutigen Konfliktes werden hier sichtbar – in einer europäischen Region, in der politische Akteure aller Kaliber seit Jahren an der Umsetzung eines viel versprechenden Friedensabkommens arbeiten.
„Wir wollen keine Bürger zweiter Klasse mehr sein, unsere Kinder sollen durch den Haupteingang in ihre Schule gehen können,“ erklärt eine Mutter das Anliegen der katholischen Eltern von Ardoyne.
„Wir fühlen uns wie im Belagerungszustand,“ sagt Mark Coulter, der Sprecher der Protestanten, „wie weggehauen, Stück um Stück“. „Man kann schöne neue Häuser bauen, aber das wird die Kugeln nicht stoppen; wir müssen eine neue Mauer quer durch die Ardoyne Road errichten“, fügt Anne Bill vom loyalistischen Bürgerkomitee hinzu.
Die Wurzeln von Hass und Gewalt in dem Arbeiterghetto mit seinen schlechten Wohnverhältnissen, wenigen Jobs und geringen Aufstiegschancen liegen tief. Ardoyne war einer der ersten Siedepunkte der »Troubles«, in den späten 60er Jahren wurde hier die IRA wiedergegründet. Mehr und mehr Katholiken zogen in das vorwiegend protestantische Viertel. Nord-Belfast hat mehr als ein Fünftel aller Toten des Bürgerkrieges zu Grabe getragen. Weniger separat als in vielen anderen Teilen der Stadt und der Provinz leben Katholiken und Protestanten hier wie auf einem Flickenteppich zusammen, oft nur durch eine Straße, durch Gitter oder Mauern – so genannte »peace walls« – getrennt. Territorien werden mit Wandbildern, Flaggen und Pflastersteinen markiert und von den paramilitärischen Gruppen »verteidigt«. Man geht nicht in die Geschäfte, die Post, die Bücherei auf der anderen Seite. Angst ist ein ständiger Begleiter. Aber derartige Gewaltausbrüche gegen Kinder hatte es bisher nicht gegeben. Im Frühjahr sind neue protestantische Familien eingezogen; sie gehören der größten loyalistischen paramilitärischen Organisation UDA an und wurden im vergangenen Jahr im Zuge einer innerloyalistischen Fehde, einem Bandenkrieg um Drogen und Gebietsansprüche, von der protestantischen Lower Shankill Road vertrieben. Ihnen schreiben viele Katholiken die jüngste Eskalation der Gewalt zu.
Ardoyne ist nicht Nordirland, aber es ist auch kein untypischer Ort des »sectarianism«, der tiefen konfessionell-politischen Spaltung, die die nordirische Gesellschaft durchzieht. Integrierte Schulen, die von insgesamt nur etwa 3% der nordirischen Kinder besucht werden, gibt es hier nicht. Die allgemeinen Veränderungen, die der Friedensprozess in den 90er Jahren und das »Good Friday Agreement« von 1998 gebracht haben oder noch versprechen, werden in Ardoyne durch besonders parteiliche Brillen gesehen. Wandel ist hier entweder schwer wahrnehmbar oder nicht gewollt. Ein gewachsenes Selbstbewusstein der Katholiken, die nach jahrzehntelanger Diskriminierung u.a. einen besseren Zugang zu Ausbildung und Wohnungen erhalten, kontrastiert mit dem Gefühl vieler protestantischer Arbeiterfamilien, die Verlierer des Friedensprozesses zu sein.
Vom Versagen der Politik ist jetzt die Rede. Das Vakuum, das seit dem Sommer durch das Einfrieren der nordirischen Regierungsinstitutionen entstanden ist, so der irische Premier Bertie Ahern, sei Schuld am Aufflammen der Gewalt auf den Straßen. George Mitchell, der ehemalige US-Senator und Vermittler im nordirischen Friedensprozess, hat nach Ardoyne einen dringenden Appell für »political leadership« gestartet. Auch nach über einem Jahr gemeinsamer Regierungstätigkeit in Belfast tun sich die Führer der nordirischen Parteien sehr schwer, ihren Anhängern die positiven Perspektiven des politischen Kompromisses aus dem Friedensabkommen zu vermitteln. Das Vertrauen der Konfliktparteien reicht nicht aus, um die Umsetzung der drängenden sicherheitspolitischen Reformen in Angriff zu nehmen.
Anfang Juli war der Erste Minister der Belfaster Koalition David Trimble, Vorsitzender der größten nordirischen protestantischen Partei UUP, zurückgetreten, weil die IRA nicht mit der Abrüstung ihrer Waffen (decommissioning) begann; die britische und irische Regierung sind seither intensiv um eine Lösung der nach den Wahlen im Juni akut gewordenen Krise bemüht. Den nordirischen Parteien wurde im August ein neues Vorschlagspaket zur Umsetzung der vier Hauptstreitpunkte des »Good Friday Agreement« vorgelegt: die Polizeireform, die Reduzierung der britischen Streitkräfte, die Stabilität der Regierungsinstitutionen und die Abrüstung der paramilitärischen Waffen. Die IRA hatte zwar ihre verbale Bereitschaft erneuert, ihre Waffen überprüfbar und vollständig aus dem Verkehr zu ziehen; die Methoden und der konkrete Zeitplan jedoch sollten mit der dafür im Abkommen vorgesehenen internationalen Abrüstungskommission IICD geklärt werden. Zuwenig für den Unionistenführer, der sich in seiner Partei gegen eine Fast-Mehrheit von Abkommensgegnern behaupten muss. Trimbles Zurückweisung führte dazu, dass die IRA ihr Angebot prompt zurückzog. Die Entdeckung der Connection dreier IRA-Mitglieder zur kolumbianischen FARC wirkte in der Folge nicht eben vertrauensbildend. Ein kurzer Lichtblick, die lang erwartete Zustimmung der gemäßigten katholischen SDLP zur Polizeireform, wurde schnell überschattet durch die Ablehnung seitens der beiden Hauptkontrahenten, Sinn Fein und UUP.
Der britische Nordirlandminister John Reid, angesichts des Dramas in Nord-Belfast jetzt um einen Dialog an der Basis bemüht, sieht sich, falls der »Nichtdialog« zu einer Ablehnung der Paketlösung führt, vor der schwierigen Entscheidung, Ende September entweder Neuwahlen auszuschreiben oder die von allen ungeliebte jahrzehntelange Direktherrschaft aus London wieder einzuführen.
Nach den Gewaltausbrüchen in Ardyone treten die Schwächen des nordirischen Friedensprozesses offener zu Tage: Ohne ein »decommissioning of mindsets«, die »Entwaffnung in den Köpfen und Herzen«, wird es mittelfristig weder eine Abrüstung der Waffen, noch eine allgemeinere Entmilitarisierung des Konfliktes und neue zivile Sicherheit für alle Bürger geben. Die vielen Krisen in der Umsetzung des Abkommens verweisen auf einen doppelten Konstruktionsmangel: Während vornehmlich »oben« in Regierungen und Parteien an den vornehmlich politischen und militärischen Seiten des Prozesses gearbeitet wurde, traten die Überwindung der gesellschaftlichen Spaltung an der Basis und die Mobilisierung der zunächst vorhandenen zivilgesellschaftlichen Potenzen immer mehr in den Hintergrund. Solange politische Anleitungen und Mechanismen für Vertrauensbildung und Versöhnung – »oben« und »unten« – weit gehend fehlen, droht eine Zementierung des »sectarianism«, wird der Wunsch nach Einmauerung in zerbrochenen Identitäten den Willen zur Veränderung überwiegen.
Die (Wieder-)Aneignung des Friedensprozesses durch die nordirische Zivilgesellschaft ist überfällig. Kirchenleute haben in Ardoyne erste Zeichen für einen neuen Dialog zwischen den Fronten gesetzt. Die in Nordirland relativ kleine politische Mitte gemäßigter Protestanten und Katholiken muss mehr Verantwortung für die Absage an Gewalt, soziale Integration und den Aufbau überkonfessioneller Identitäten für beide nordirischen Kulturen übernehmen. Die politischen Führungen von UUP, SDLP und Sinn Fein, der inzwischen stärksten katholischen Partei, müssen sich der Verantwortung für die »weichen« und »harten« Seiten des Friedensprozesses in gleicher Weise stellen. Ein Nebeneinander ohne Angst, wo noch kein Miteinander möglich ist, erfordert gemeinsame Initiativen zur Aufarbeitung des Leidens der letzten Jahrzehnte, integrierte Lern- und Bildungsangebote und den überfälligen Beginn der Zusammenarbeit an einem neuen Verständnis von Sicherheit. Das bedeutet auch aktive Mitwirkung an einer Polizeistruktur, die beide Seiten in Zukunft in gleicher Weise repräsentieren und schützen soll. Und es erfordert neue Signale für ein »farewell to arms«, den Abschied von den Waffen.
Die Polizisten in Ardoyne haben einen schwierigen Einsatz erfolgreich gemeistert. Das verdient Anerkennung von katholisch-republikanischer wie protestantisch-loyalistischer Seite. Billy Hutchinson, der Führer der kleinen protestantischen PUP hat mit der Verurteilung der Gewalt und seinem Bekenntnis der Scham „ein Loyalist zu sein“ ein Beispiel für die Absage an den »hard-liner-sectarianism« gegeben.
Der lange Weg zum Frieden, nicht nur in Nordirland, braucht eine sensible neue Generation, die offen wird für die Sorgen und Interessen der Nachbarn auf der anderen Straßenseite – keine Mauern, keine Bomben, keine Kinder als Fußsoldaten.
Dr. Corinna Hauswedell ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bonner Konversionsinstitut (BICC) und begleitet in einem Forschungsprojekt den »Nordirischen Friedensprozess«.