»Shrinking Space«
Einschränkungen der Arbeit in und an Konflikten
von Christine Meissler
Stellen Sie sich vor, das Konto ihrer Einrichtung wird gesperrt und Sie können Ihren Angestellten keinen Lohn mehr zahlen. Die bisherige Genehmigung für ihren Verein wird Ihnen entzogen oder die jährlich erforderliche Verlängerung verweigert. Sie und ihre Familie werden bedroht, Ihr Büro und die dort Mitarbeitenden werden überfallen und ausgeraubt, Ihre Website gesperrt. Sie werden ohne erkennbaren Grund verhaftet und ohne Anklage monatelang festgehalten. Was für uns wie ein Alptraum klingt, ist für immer mehr Nichtregierungsorganisationen seit Jahren Realität.
Repression und Einschränkungen zivilgesellschaftlichen Handelns werden in immer mehr Ländern sichtbar, eindrücklich belegt im jährlich erscheinenden »Atlas der Zivilgesellschaft« anhand von Daten, die CIVICUS, die World Alliance for Citizen Participation, zusammentrug: Zwei Milliarden Menschen leben derzeit in Staaten, in denen zivilgesellschaftliches bzw. bürgerschaftliches Engagement durch staatliche Gewalt vollständig unterbunden wird. Nur vier Prozent der Menschen weltweit genießen uneingeschränkte Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit und können ihre Anliegen frei äußern, an Demonstrationen teilnehmen oder eine zivilgesellschaftliche Organisation gründen. CIVICUS teilt die Staaten in fünf Gruppen ein: Länder, in denen der Raum für zivilgesellschaftliches Handeln »offen« ist (45 Staaten, vier Prozent der Weltbevölkerung), »beeinträchtigt« (40 Staaten, 14 Prozent der Weltbevölkerung), »beschränkt« (53 Staaten, 36 Prozent der Weltbevölkerung), »unterdrückt« (35 Staaten, 19 Prozent der Weltbevölkerung) oder »geschlossen« (23 Staaten, 27 Prozent der Weltbevölkerung) (Brot für die Welt 2019).
Einschränkungen erfolgen in vielen Ländern sehr systematisch durch die jeweilige Regierung. Repressive Gesetzgebung und Regulierungen beschränken die Mittel, die Nichtregierungsorganisationen aus dem Ausland empfangen dürfen. Partnerorganisationen von »Brot für die Welt« berichten von Bürokratisierung, Überregulierung und willkürlicher oder missbräuchlicher Auslegung von Verordnungen. Registrierungen werden suspendiert, entzogen oder verweigert. Die Finanzierung aus dem Ausland durch Organisationen wie »Brot für die Welt« wird verzögert oder ganz blockiert. Oft werden zusätzliche Steuern erhoben. Antiterrorismus-, Internet-, und Mediengesetze, aber auch das Strafrecht, beschneiden direkt und indirekt die bürgerlichen und politischen Menschenrechte. Repressive Änderungen des Versammlungs- und Demonstrationsrechts schränken soziale Bewegungen ein.
Gerade in Konfliktgebieten und fragilen Staaten gehen Repression und Einschüchterung auch von nicht-staatlichen Akteuren oder von para-staatlichen Gruppen, die vom Staat geduldet werden, aus. Gezielte Schmierkampagnen in sozialen Medien werden angefacht und verstärkt. Aber auch Printmedien, Radio und Fernsehen bereiten den Weg für Hetze und Hassreden, zeichnen Feindbilder und senken so mitunter die Schwelle zur tätlichen Gewalt, von der meist benachteiligte Minderheiten und Menschenrechtsverteidiger*innen besonders betroffen sind. Sie werden bedroht, verhaftet und ermordet.
Auch in Europa kommt der Trend zum »Shrinking Space«, zum enger werdenden Handlungsspielraum der Zivilgesellschaft, immer mehr an. Gerade im letzten Jahr zeigten sich auch in Ländern der Europäischen Union und sogar in Deutschland Parallelen und Bezüge zur Situation unserer Partnerorganisationen, die unter »Shrinking Space« leiden. Vor allem in Ungarn, Österreich und Italien hat sich die Lage der Zivilgesellschaft verschlechtert. Besonders das Engagement für Flüchtlinge wird nun auch in der EU einschränkt, kriminalisiert und stigmatisiert. Beleidigende Rhetorik gegen Frauen, Menschen mit Behinderung, Flüchtlinge und Juden spaltet auch unsere Gesellschaft. Wenn beispielsweise das bürgerschaftliche Engagement für Flüchtlinge von Politiker*innen mit Begriffen wie „Anti-Abschiebe-Industrie“ verunglimpft wird, wenn das Recht auf Asyl angegriffen und die Arbeit der zivilen Seenotretter*innen massiv eingeschränkt wird und wenn Vereine, die sich politisch engagieren, ihre Gemeinnützigkeit verlieren und ihre Existenz damit gefährdet wird, dann erinnert das an beginnende Schmähkampagnen gegen Partnerorganisationen im Globalen Süden.
Was ist Zivilgesellschaft?
Als Zivilgesellschaft wird jedes soziale Handeln verstanden, das jenseits von Staat, Wirtschaft und Privatem liegt. Es ist der öffentliche politische Raum, in dem Vereine, Initiativen und gemeinnützige Organisationen aktiv sind. Sie können eine formelle Struktur haben, wie Nichtregierungsorganisationen oder Stiftungen. Sie können aber auch informell konstituiert sein, wie viele soziale Bewegungen. Die Zivilgesellschaft operiert zwar jenseits des Staates, doch kann sie nur existieren, wenn individuelle und kollektive Freiheiten gewahrt sind.
Zivilgesellschaftliche Organisationen können viele konstruktive Rollen in einer Gesellschaft spielen. Demokratische Staaten sind in Bezug auf eine lebendige Demokratie und den Interessensausgleich zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Kräften auf das Engagement zivilgesellschaftlicher Akteure angewiesen. Sie schaffen Räume für Engagement, Zusammenarbeit und Beteiligung, ermöglichen Dialog und Austausch in der Gesellschaft, klären auf und informieren, haben einen Bildungsauftrag, engagieren sich in der Kinder- und Jugendarbeit oder bieten soziale Dienstleistungen an. Zivilgesellschaftliche Akteure setzen häufig soziale, umweltpolitische und menschenrechtliche Agenden in Gang.
Gerade da, wo Staaten ihre Verantwortung für soziale Belange nicht angemessen wahrnehmen und wo systematische Korruption herrscht, kommt der Zivilgesellschaft eine zentrale Kontrollfunktion zu. Zivilgesellschaftliche Akteure und Organisationen dokumentieren Menschenrechtsverletzungen, klagen Transparenz und Rechenschaftspflichten ein und bringen Reformen voran. Ihre unabhängigen Analysen sind häufig nicht nur an die eigene Regierung gerichtet, sondern auch an Gremien der Vereinten Nationen. »Schattenberichte« helfen z.B. einen authentischeren Eindruck von der Situation eines Landes zu gewinnen und Prozesse voranzubringen. Besonders in Ländern des Globalen Südens stellen zivilgesellschaftliche Akteure für Menschen, die benachteiligt sind – Frauen, Kinder, Indigene, sexuelle oder religiöse Minderheiten, Menschen mit Behinderungen und Migrant*innen – ein wichtiges Sprachrohr und einen Schutzfaktor dar. Hierzu brauchen sie staatlich garantierte Rahmenbedingungen, wie Versammlungs-, Vereinigungs- und Meinungsfreiheit, aber auch Partizipationsmöglichkeiten, wie die Anhörung in Gesetzesverfahren, die Beteiligung von Bürgerinitiativen an Planungsverfahren oder weitgehende Rechte zur Informationsfreiheit.
Was sind die Gründe für »Shrinking Space«?
Von Repression sind in besonderem Maße die Gruppen betroffen, die sich kritisch gegen ungerechte Strukturen, Korruption, den uneingeschränkten Machtausbau und die Selbstbereicherung der Machtinhaber engagieren. Wo Regierungen den Verlust politischer und wirtschaftlicher Macht durch Oppositionsbewegungen befürchten, gehen sie besonders hart gegen die Zivilgesellschaft vor.
Proteste und die Einleitung rechtlicher Schritte durch Nichtregierungsorganisationen gegen Menschenrechtsverletzungen und Umweltverschmutzung – zum Beispiel im Zusammenhang mit großflächigem »Landgrabbing« und Projekten im Energiesektor, an denen auch europäische Unternehmen mitverdienen – werden in Zeiten der ökonomischen Aufholjagd von Schwellenländern als Störung wahrgenommen. Der Wettlauf um begehrte Bodenschätze und fossile Energievorräte verschärft die Lage. Der Verletzung der nationalen Gesetze sowie von Umwelt- und Sozialstandards durch Investoren und Unternehmen folgt die Kriminalisierung oder Diffamierung von Aktivist*innen, die sich gegen die Verstöße engagieren.
Auch der politische Machterhalt spielt eine wichtige Rolle. So beobachten zivilgesellschaftliche Gruppen in autokratischen Systemen, vor allem vor und nach Wahlen, eine Zunahme von Repressionen und systematischen Einschränkungen in Form neuer oder geänderter Gesetze. Beispiele hierfür sind die Reaktionen auf den »Arabischen Frühling« oder auf die Großdemonstrationen gegen Wahlbetrug in Äthiopien 2005 und Russland 2011.
Behinderungen der Arbeit in und mit Konflikten
Die Einschränkungen treffen nicht nur zivilgesellschaftliche Organisationen und ihre Zielgruppen. Sie schaden massiv der sozialen und nachhaltigen Entwicklung in einem Land und somit der gesamten Bevölkerung.
Die Rolle einer Zivilgesellschaft, die sich an Werten wie Menschenwürde, Minderheitenschutz und Rechtsstaatlichkeit orientiert, für Friedensentwicklung ist unumstritten. Sie wirkt deeskalierend, beugt Gewaltausbrüchen vor und initiiert Versöhnungsprozesse. In Transformationsprozessen, zerfallender Staatlichkeit oder Konfliktsituationen kann sie dazu beitragen, gesellschaftliche Strukturen aufrechtzuerhalten. Wo bewaffnete Akteure das Sagen haben und eine Kultur der Straflosigkeit herrscht, ist es für Aktivist*innen besonders gefährlich, unabhängig zu handeln: 312 Morde in 27 Ländern zählte die Organisation »Frontline Defenders« allein im Jahr 2017. Zwei Drittel der getöteten Aktivist*innen verteidigten die Rechte von Land, Umwelt und indigenen Völkern, fast ausschließlich in Konflikten um Megaprojekte, etwa der Bergbau-, Energie- oder Agrarindustrie. Nur in zwölf Prozent der erfassten Fälle wurden Verdächtige verhaftet (Frontline Defenders 2018).
Auch von den so genannten Antiterrormaßnahmen sind zivilgesellschaftliche Akteure betroffen, die in Konfliktgebieten arbeiten. Dazu trägt ein US-amerikanisches Gesetz bei: Unabhängig von ihrer Nationalität droht Personen in den USA bis zu 15 Jahren Haftstrafe, wenn sie einer Organisation, die als »ausländische Terrororganisation« gelistet ist, »materielle Unterstützung« gewähren. Dieses Gesetz beeinflusste weltweit die nationalen Gesetzgebungen und führte auf der ganzen Welt zu Beschränkungen der humanitären, Friedens- und Menschenrechtsorganisationen. Zu den strafbaren Handlungen zählen explizit nicht nur das Bereitstellen von finanziellen Mitteln oder Eigentum, sondern auch Beratung und Schulungen sowie die Möglichkeit, Treffen zu organisieren oder als Mediator zu fungieren. Damit werden Schwerpunkte der Zivilen Konfliktbearbeitung vor Ort kriminalisiert.
Auch humanitäre Hilfsorganisationen stellen derartige Kontaktverbote vor enorme Herausforderungen. Um Zugang zu einer im Konfliktgebiet notleidenden Bevölkerung zu erhalten, müssen sie mit den unterschiedlichen am Konflikt beteiligten Akteuren verhandeln. Außerdem ist es meist unmöglich zu garantieren, dass prinzipiell kein noch so kleiner Anteil der Hilfe Extremisten erreicht. Den Preis dafür zahlen unzählige Menschen in Not mit ihrem Leben. Es wird z.B. angenommen, dass die Beschränkung durch Antiterrorismusgesetze in den USA und Großbritannien dazu beigetragen hat, dass Menschen während der großen Hungersnot in von der islamistischen Miliz al-Shabaab kontrollierten Regionen in Somalia 2011 nicht versorgt werden konnten. Die Hungersnot führte damals zum Tod von 250.000 Menschen (Burke 2017).
Geber fördern immer weniger Projekte in Gebieten, die von Gruppen kontrolliert werden, die als Terroristen gelistet sind. Organisationen, die in solchen Regionen arbeiten, haben damit immer weniger Zugang zu finanzieller Förderung. Hinzu kommt die Verweigerung von Finanzdienstleistungen für zivilgesellschaftliche Organisationen im Zuge des so genannten »Derisking«: Wegen möglicher hoher Strafen wenden Banken die Regel, ihre Kunden auf Verbindungen zu Terrorismus zu untersuchen, sehr rigide an, lehnen die Bearbeitung »verdächtiger« grenzüberschreitender Überweisungen ab oder weisen einzelne zivilgesellschaftliche Organisationen als Kunden ganz ab. Dieser Mangel an Finanzierungsmöglichkeiten wirkt sich vor allem auf die Nachhaltigkeit zivilgesellschaftlicher Friedensförderung aus (Duke Law und WPP 2017, S. 46 f). Frauenbasisorganisationen sind davon besonders oft betroffen. In einer Umfrage unter Frauenorganisationen, die in Konflikt- oder Postkonfliktgebieten arbeiten, gaben 90 Prozent an, dass Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung negative Auswirkungen auf ihre Friedensarbeit, die Rechte der Frauen und die Gleichstellung der Geschlechter im Allgemeinen haben (Duke Law und WPP 2017, S. 15).
»Do no harm«-Prüfung als erster Schritt
Diese wohl nicht intendierten Auswirkungen haben eine tragische Ironie: Eine Beteiligung an Friedens-, Wiederaufbau- oder Versöhnungsprozessen, die zur Verhinderung von Extremismus und Gewalteskalation beitragen kann, wird nahezu unmöglich gemacht.
Es bedarf einer Überprüfung, wie sich Antiterrorgesetze, die Reduktion von finanzieller Förderung und die Verweigerung von Finanzdienstleistungen auf zivilgesellschaftliches Engagement auswirken und was die Folgen für Frieden und Entwicklung sind. Erforderlich sind sorgfältige Risikoanalysen und Prüfverfahren und eine klare Orientierung am »Do no harm«-Prinzip. Darüber hinaus müssen Geber dafür sorgen, dass ihre eigenen Verfahren zur Rechenschaftslegung so ausgestaltet werden, dass sie Partner nicht in Gefahr bringen. Und sie müssen alle erdenklichen Spielräume in ihren Regelwerken ausnutzen, um sicherzustellen, dass zivilgesellschaftliche Initiativen die dringend benötigten Finanzmittel auch erhalten.
Literatur
Brot für die Welt (2019): Atlas der Zivilgesellschaft 2019 – Report zur weltweiten Lage. Berlin.
Brot für die Welt (2017): The impact of international counter-terrorism on civil society organizations – Understanding the role of the Financial Action Task Force. Berlin.
CIVICUS (2018): People Power under Attack – A Global Analysis of Threats to Fundamental Freedoms. Johannesburg, South Africa.
Duke Law International Human Rights Clinic; Women Peacemakers Program (2017): Tightening the Purse Strings – What Countering Terrorism Financing Costs Gender Equality and Security. Durham, North Carolina/USA.
Frontline Defenders (2018): Annual Report on Human Rights Defenders at Risk in 2017. Blackrock, Ireland.
Burke, J. (2017): Anti-terrorism laws have ‘chilling effect’ on vital aid deliveries to Somalia. Guardian, 26. April 2017.
Müller, K.; Schwarz, C. (2018): Fanning the Flames of Hate – Social Media and Hate Crime. Veröffentlicht am 30. November 2018; ssrn.com/abstract=3082972.
Zentrum für zivilgesellschaftliche Entwicklung (ZZE) (2011): Dimensionen von Zivilgesellschaft, 2011, zze-freiburg.de/themen/zivilgesellschaft.
Christine Meissler ist seit 2013 als Referentin für den Schutz der Zivilgesellschaft bei »Brot für die Welt«. Zuvor beschäftigte sie sich von 2007 bis 2013 als Referentin und Projektleiterin bei FriEnt und InWEnt vor allem mit Friedensentwicklung. Als Mitarbeiterin und Delegierte des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz war sie von 2003 bis 2006 in Genf, Manila und Addis Abeba tätig. Sie ist Diplom-Politologin und hat einen Master in International Human Rights Law.