W&F 2021/4

Sichere Fluchtwege

23. Verleihung des Göttinger Friedenspreises, Deutsches Theater Göttingen, 11. September 2021

von Regina Hagen

Geht das überhaupt – die Verleihung eines Friedenspreises am 11.9.2021, ohne dass der 20. Jahrestag von 9/11 alles überlagert? Es geht, und es passt.

Drei Preisträger*innen wurden von der Jury des Göttinger Friedenspreises bereits vor einem Jahr ausgewählt „für ihr Engagement für sichere Fluchtwege und eine gesicherte Aufnahme von Menschen, die versuchen, aus lebensbedrohlichen Gewaltsituationen […] über das Mittelmeer und andere Routen nach Deutschland und in andere europäische Staaten zu gelangen und dort Aufnahme und Schutz zu finden“. Die Preisverleihung war eigentlich im März vorgesehen, wurde pandemiebedingt aber auf September verschoben und ins Deutsche Theater verlegt, um mehr Platz für Publikum unter Abstandsregeln zu schaffen.

Die Bilder vom überhasteten Abzug des westlichen Militärs aus Afghanistan und von der schlecht (oder gar nicht) geplanten Evakuierung zehntausender Menschen über den Flugplatz von Kabul standen allen frisch vor Augen, als in Göttingen die Äbtissin M. Mechthild Thürmer aus Bayern sowie die lokale Ortsgruppe der Bewegung Seebrücke und der Marburger Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies für ihren je speziellen Einsatz für Flüchtende geehrt wurden.

Die Begrüßung des Intendanten des Deutschen Theaters, Erich Sidler, das Grußwort des Göttinger Oberbürgermeisters Rolf-Georg Köhler, das zum spannenden Referat ausgedehnte Grußwort von Prof. Dr. Sabine Hess als Vertreterin der Göttinger Universität, die Laudatio des ehemaligen Bundesinnenministers Gerhart Baum, die Preisübergabe durch den Jury-Vorsitzenden Andreas Zumach sowie die Reden der Preisträger*innen wurden rockig umrahmt vom Ensemble des Deutschen Theaters mit Musik von Rio Reiser und Gerhard Gundermann aus dem Theaterabend »Alles Lüge«.

Kirche, Kommune und couragierte Menschen

Äbtissin Mechthild Thürmer vom oberfränkischen Kloster Maria Frieden und ihre Mitschwestern haben in den vergangenen Jahren mehr als 30 Menschen Kirchenasyl gewährt. So erhalten von Abschiebung bedrohte Menschen Zeit, um zur Ruhe zu kommen und ihr Recht auf Asyl erneut prüfen zu lassen. Nun ist die Äbtissin wegen »Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt« angeklagt. „Was ich getan habe, war einfach notwendig, »Not wendend« – ich konnte nicht anders handeln. Davon geredet habe ich nicht, weil die Schutzsuchenden ja Schutz gesucht haben. Die offiziellen Stellen aber wussten immer von meinem Einsatz. […] Für mich und andere Helfer zählt die Menschlichkeit. […] Jesus hätte auch so gehandelt.“

Der Marburger Oberbürgermeiste Dr. Thomas Spieß engagierte sich als einer der ersten führenden Kommunalpolitiker*innen für die Kampagne »Sichere Häfen«. Er kritisierte im September 2018 in offenen, an Bundeskanzlerin Merkel und Innenminister Seehofer gerichteten Briefen die Abschottungspolitik der Europäischen Union gegenüber Geflüchteten. Er bot in Abstimmung mit seinem Magistrat an, geflüchteten Menschen in Marburg eine neue Heimat zu gewähren, und das über die regulären Zuweisungen des Bundesamtes für Migration hinaus – ein Angebot, dessen Umsetzung die Politik bis heute verhindert. „Wir fühlen die Not und Verzweiflung, die Angst vor Gewalt und Verfolgung, den Schmerz unserer Mitmenschen mit, manchmal körperlich. […] Und wo das Herz nicht reicht, da bliebe uns ja noch der Verstand, der Aufklärung und Menschenrechte hervorgebracht hat, aber auch so einfache, auch dem eigenen Nutzen dienende […] Vereinbarungen wie die der christlichen Seefahrt: Menschen in Seenot werden gerettet – es könnte einen ja selbst treffen.“

Um wen es bei der Diskussion geht, machten Larissa Lotter und Markus Widmann von der Göttinger Ortsgruppe der Seebrücke klar: „Allein in diesem Jahr starben bereits über 1.200 Menschen bei dem Versuch, über das Mittelmeer nach Europa zu fliehen. Auch auf den Fluchtwegen durch die Sahara kostet die Verlagerung des europäischen Grenzregimes nach Nordafrika jährlich unzählige Menschen das Leben. Und die Toten, die wir zählen, sind nur die, von denen wir wissen. Denn nur wenn bekannt wurde, dass Boote losgefahren sind, wird auch bekannt, dass sie nicht angekommen sind. Viele Boote mit vielen Menschen an Bord verschwinden, ohne dass wir jemals davon erfahren. All diese Toten sind Mütter, Väter, Brüder, Schwestern, Töchter, Söhne, Freundinnen und Freunde.“

Die Mitglieder der »Seebrücke« engagieren sich in ihren zahlreichen Lokalgruppen gegen die Kriminalisierung von Seenotrettung und dagegen, dass das „Sterben vieler tausender Menschen von Politiker*innen in Europa billigend in Kauf genommen wird“. Seebrücke initiierte u.a. die Kampagne »Sichere Häfen«, in der der Marburger Oberbürgermeister mitwirkt.

Friedenslogische Migrationspolitik

In ihrem weit über ein bloßes Grußwort hinausgehenden Beitrag stellte Prof. Dr. Sabine Hess von der Universität Göttingen einen bedrückenden Bezug her zur deutschen Ausgrenzungs- und (Massen-) Lagergeschichte im 20. Jahrhundert. Überdies verwies sie auf die Relevanz des Themas Flucht für die Verleihung eines Friedenspreises: „Die diesjährige Auswahl und Themensetzung ist […]eine Herausforderung und Mahnung, Frieden allumfassender zu definieren, dabei sind die Zusammenhänge von Militarismus, Krieg, Frieden und Flucht eben zahlreich. [… E]ine friedenslogische Migrationspolitik ist in weite Ferne gerückt, doch umso wichtiger denn je darüber nachzudenken, wie eine derartige friedenslogische Migrationspolitik ausschauen könnte und wie sich die derzeitige Logik der Militarisierung und Brutalisierung unterbrechen ließe angesichts der sich zuspitzenden globalen Krisen, die Flucht-Migration und den Kampf um knapper werdende Güter immer weiter verschmelzen lassen und die Flucht-Migration neben einer menschenrechtlichen Frage auch zu einer Kernfrage von Entwicklung und Global Justice machen.“

Es ist unmöglich, zwei satt gefüllten Stunden nachdenklicher, aufwühlender, motivierender, vor allem aber menschlicher Redebeiträge in einem kurzen Bericht gerecht zu werden. Die Autorin schlägt daher vor, sich die Aufzeichnung der Preisverleihung auf goettinger-friedenspreis.de anzusehen. Dort stehen auch die Begründung der Jury und, mit Ausnahme der Laudatio des ehemaligen Innenministers Gerhart Baum, alle Redemanuskripte.

Regina Hagen, bis Herbst 2020 verantwortliche Redakteurin von W&F, wurde jüngst in die Jury des Göttinger Friedenspreises berufen. An der Auswahl der Preisträger*innen 2021 war sie noch nicht beteiligt.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2021/4 Chinas Welt? – Zwischen Konflikt und Kooperation, Seite 54–55