Sicherheitspolitik im Wandel
Die Taiwan-Perspektive
von Jo Fleischle
Mitte der 90er Jahre bestanden begründete Hoffnungen, demokratische Reformen auf Taiwan wirkten sich mittelfristig positiv auf die Beilegung des Konfliktes zwischen Taiwan und der VR China aus. Dass politische Liberalisierung und gesellschaftliche Pluralisierung auf Taiwan einerseits und die Reform- und Öffnungspolitik der VR China andererseits zu einer inkrementalistischen Annäherung beider Konfliktparteien, zu einer institutionalisierten Konfliktbearbeitung und wenigstens tendenziell zu einem kontrollierbaren und weniger intensiven Konfliktaustrag führten, blieb indes bloßes Wunschdenken. Paradoxerweise verschärfte aus taiwanesischer Sicht die Demokratisierung des politischen Systems der Republik China auf Taiwan (ROC) den Konflikt zwischen beiden Staaten und verschlechterte zudem Taiwans außen- und sicherheitspolitische Lage.
Als am 20. Mai 2000 erstmals die größte Oppositionspartei, die Democratic Progressive Party (DPP), nach freien Wahlen die Guomindang-Regierung (GMD – Nationalpartei) ablöste und den Präsidenten stellte, war dies der vorläufige Schlusspunkt eines beachtlich zügigen und staatlich gelenkten Demokratisierungsprozesses. In einem evolutionären, keineswegs aber nur gewaltfreien Prozesses hatte sich Taiwan von einer Entwicklungsdiktatur zu einem demokratischen Staatswesen entwickelt. Das politische System der ROC war noch bis Anfang der 80er Jahre durch eine Ein-Parteien-Herrschaft der GMD, durch Zentralisierung von Macht in einem obersten Führungszirkel, durch »Entscheidungsfindungsprozesse« von oben nach unten und tendenziell durch Konfliktlösung mit repressiven Mitteln gekennzeichnet. Ideologisch wurde Politik im Rahmen der Staatsideologie interpretiert, die auf den nur rudimentär überlieferten Lehren des »Vaters der Republik« Sun Yat-Sen gründete.
Der autoritäre Staat, in dem bis Mitte der 80er Jahre nur segmentierte und begrenzte pluralistische Tendenzen erkennbar waren, legitimierte sich in erster Linie durch eine erfolgreiche nachholende ökonomische Entwicklung. Ausgehend von einer Boden- und Agrarreform in den 50er Jahren, über eine importsubstituierende und exportorentierte Industrialisierung in den 70er und 80er Jahren konnte nachhaltiges Wirtschaftswachstum erzielt werden, das im ökonomischen Bereich einer großen Mehrheit der Bevölkerung Taiwans Aufstiegschancen eröffnete. Charakteristisch war für Taiwan die korporatistische Verflechtung von Staat, Partei und großen staatlichen, später auch privaten Unternehmen.
Mit der Verhängung des Kriegsrechtes, der Grundlage für eine Verfassungsänderung, den »Zeitweiligen Bestimmungen für die Dauer der kommunistischen Rebellion« von 1948, wurde die Verflechtung zwischen Regierung, GMD und der militärischer Kommandostruktur institutionalisiert. Noch bis in die 80er Jahre besaß das Militär weit reichende Einwirkungsmöglichkeiten in den politischen und v.a. auch gesellschaftlichen Bereich, vom Militärunterricht an Schulen über Zensur oder Durchsetzung von Versammlungsverboten bis hin zu Entscheidungen darüber, ob und wann die öffentliche Ordnung gefährdet war – so dass durchaus von einer »militaristischen Gesellschaft« die Rede sein konnte.
Mit wenig Erfolg wurde von der Regierung versucht, die Herrschaft der ROC auf Taiwan mit einem kruden Kultur-Chauvinismus chinesischer Provenienz zu legitimieren, der unmittelbare politische Konsequenzen nach sich zog. Die ROC verstand sich nach dem Rückzug auf Taiwan unter dem damaligen Präsidenten Chiang Kai-Shek (Jiang Jieshi), infolge des verlorenen Bürgerkrieges auf dem Festland gegen die kommunistische VBA, als legitime Vertreterin Gesamt-Chinas und Bewahrerin chinesischer Kultur und Tradition. Um den politischen Willen der militärischen Führung und der politischen Elite zur Rückeroberung des Festlandes zu unterstreichen, wurde die Politik der ROC mittelfristig ausschließlich auf die Zeit nach der Rückeroberung des Festlandes ausgerichtet und eine politische Partizipation der Taiwanesen weitest gehend unterbunden. Die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung, deren Wurzeln in der 50jährigen japanischen Kolonialzeit Taiwans (1895-1945) liegen und deren langfristiges Ziel ein eigenständiger taiwanesischer Staat ist, wurde als separatistische Bedrohung verstanden und verboten. Der Konflikt zwischen Taiwanesen einerseits, die stark mit der Unabhängigkeitsbewegung sympathisierten und denen ein Zugang zu politischen Entscheidungsgremien bis in die 80er Jahre de facto verwehrt blieb, und Festländern andererseits, die mit Chiang Kai-Shek nach Taiwan geflohen waren, die aber die Politik dominierten, brach erstmals offen am 28.02.1947 aus und zog sich bis Ende der 90er Jahre durch die gesamte politische Entwicklung Taiwans.
Sicherheit und Sicherheitspolitik während des Kalten Krieges
Unter den Bedingungen des Kalten Krieges wurde bis Mitte der 80er Jahre »Sicherheit« von der Regierung ausschließlich in militärischen Parametern definiert, die sich auf die Gewährleistung der territorialen Integrität der Hauptinsel Taiwan bezogen und die zum Herrschaftsgebiet der ROC zugerechneten und dem chinesischen Festland vorgelagerten Inseln Mazu und Jinmen einschlossen. Sicherheitspolitisch war und ist die ROC auf Taiwan noch immer von der Schutzmacht USA abhängig, die indirekt durch Militärhilfe und den Verkauf von Rüstungsgütern zur militärischen Sicherheit der ROC auf Taiwan beitrug und bis Ende der 70er Jahre die Bereitschaft signalisiert hatte, zum Schutze Taiwans auch direkt zu intervenieren. Die ROC auf Taiwan hatte damit stets Zugang zu modernen Waffensystemen und avancierte zeitweise zum wichtigsten und kaufkräftigsten Importeur US-amerikanischer Rüstungsgüter. Entsprechend hoch waren die Verteidigungsausgaben, die nach offiziellen Angaben in den 60er und 70er Jahren zwischen 9 und 10% des gesamten BSP in Anspruch nahmen, die zu Beginn der 80er Jahre teilweise noch über den wirtschaftlichen Wachstumsraten lagen und 1985, also vor Beginn der politischen Reformen, mehr als 50% des Regierungshaushaltes ausmachten.1
Die USA sahen sich bis zu Beginn der 70er Jahre kaum politischem Druck ausgesetzt, die Rüstungslieferungen an die ROC zu unterbinden, schließlich war Taiwan bis 1971 souveränes Mitglied der internationalen Staatengemeinschaft und vertrat Gesamt-China in den Vereinten Nationen. Erst als die ROC zugunsten der VR China ihren Sitz in den Vereinten Nationen niederlegen musste und sich die USA mit der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zur VR China verpflichteten, ihre Waffenverkäufe an die ROC auf Taiwan zu reduzieren, nahm die Kritik an den amerikanischen Rüstungslieferungen zu. Die Verpflichtung der USA auch in Zukunft an der Verteidigung und Sicherheit Taiwans mitzuwirken sowie die Praxis der Rüstungslieferungen an Taiwan wurde im Taiwan Relations Act (TRA), einem nationalen Gesetz der Vereinigten Staaten, festgelegt.2
Demokratisierungsprozess
In den 80er Jahren durchlief Taiwan einen politischen Transformationsprozess, dessen Charakteristika eine schnelle Demokratisierung des politischen Systems und die Entstehung liberaler zivilgesellschaftlicher Arenen waren – mit weit reichenden Folgen für Taiwans Verteidigungs- und Sicherheitspolitik. Im Laufe des Transformationsprozesses kam es zur Beendigung der Ein-Parteienherrschaft der GMD und einer Pluralisierung der Parteienlandschaft, zur Institutionalisierung politischer Partizipation und zum Beginn einer tendenziell korporatistischen Entflechtung von Staat und Wirtschaft, einer »Taiwanisierung« der Politik, die den Konflikt zwischen Taiwanesen und Festländern weit gehend beilegte und zu Bestrebungen, Politik transparent zu gestalten. Das sog. »Sonnenscheingesetz«, das die Offenlegung der Einkommen von Politikern – einschließlich des Präsidenten – verlangt, ist hierfür nur ein Beispiel.
Der Demokratisierungsprozess wurde unter dem populären Politiker Chiang Chingguo (Jiang Jingguo, 1978-1988), dem Sohn Chiang Kai-Sheks, initiiert und unter seinem Nachfolger Lee Teng-Hui (1990-2000), dem ersten Taiwanesen, der das Präsidentenamt bekleidetet, fortgeführt.
Die Gründe für die politischen Veränderungen sind auf verschiedenen Ebenen anzusiedeln und erklären nur in ihrem Zusammenwirken, dass auf das »Wirtschaftswunder« der 60er und 70er Jahre nun das »Politik-Wunder« der 90er Jahre folgte.
Nach 40 Jahren Rückzug der GMD auf Taiwan waren diejenigen, die die politischen Geschicke Taiwans bis dato bestimmt hatten, verstorben oder aus Altersgründen ausgeschieden. Zudem war eine Generation herangewachsen, die sich kaum noch mit China identifiziert und deren historischer gesellschaftlicher und politischer Referenzpunkt Taiwan ist. Die GMD konnte seit Ende der 70er Jahre nicht mehr als eine monolithische Blockpartei beschrieben werden. Innerhalb der GMD bildete sich eine Gruppe von jüngeren Parteimitgliedern und Funktionären heraus, die offen für mehr Partizipation und eine moderate Demokratisierung eintraten und dabei durchaus auf den demokratischen Anspruch Sun Yat-Sens verweisen konnten. Gesellschaftliche Pluralisierung und Modernisierung im Zuge wirtschaftlicher Entwicklung stellten das autoritäre System und die Militarisierung der Gesellschaft grundsätzlich zur Disposition – sie wurden bereits zu Beginn der 80er Jahre auf Taiwan als Anachronismus empfunden. Einflüsse aus dem Ausland, insbesondere der amerikanische Druck auf die Regierung der ROC politische Reformpläne umzusetzen, beschleunigten die Reformvorhaben.
Seit Mitte der 90er Jahre, darauf weisen Umfragen hin, trat die Legitimation des politischen Systems über wirtschaftliche Modernisierung hinter die Legitimation durch demokratische Entscheidungsfindungsprozesse und Institutionen zurück. Selbst Skandale, in deren Zentrum die Verflechtung zwischen Staat, GMD und Unternehmen stehen, stellen Liberalisierung und Demokratisierung nicht grundsätzlich in Frage.
Die Reformen eröffneten zugleich Arenen, in denen sich unterschiedlichste politische Interessen artikulieren und komplexe Problembereiche von Identität bis Festlandpolitik verhandelt werden konnten. Die Ergebnisse facettenreicher politischer Diskurse kamen politischen Imperativen gleich, von denen die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik Taiwans nicht unberührt bleiben konnte.
Vor dem Hintergrund gesellschaftlichen Wandels und dem politischen Einfluss der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung, wurde »Sicherheit« nun in einem breiteren Kontext definiert, nicht mehr ausschließlich militärisch, sondern im Sinne einer »Comprehensive Security«, die wirtschaftliche Stabilität, außenpolitische und dabei v.a. diplomatische Aufwertung einschloss.
Die Verfechter der Unabhängigkeitsbewegung Taiwans stellen keineswegs in Abrede, dass Taiwanesen im anthropologischen und ethnischen Sinne Chinesen sind und mit diesen gemeinsame historische und kulturelle Wurzeln teilen, sie lehnen aber die politische Schlussfolgerung einer zwangsläufigen Identität von ethnischer Zugehörigkeit und politischem System entschieden ab. Politisch umformuliert heißt dies, für die Zukunft Taiwans sind Taiwans Bürger zuständig, sie müssen darüber unabhängig und demokratisch entscheiden können, ohne Druck anderer Länder (i.e. der VR China oder den USA) oder der internationalen Staatengemeinschaft. Oberste Aufgabe der Regierung der ROC bestehe demnach darin, die demokratischen Errungenschaften der Bevölkerung Taiwans zu schützen und nicht etwa auf eine Vereinigung mit dem chinesischen Festland hinzuarbeiten.
Hatte die ROC noch bis Anfang der 90er Jahre in bilateralen Beziehungen versucht, den Alleinvertretungsanspruch für Gesamt-China durchzusetzen und infolgedessen mit denjenigen Ländern die diplomatische Beziehungen abgebrochen, die diplomatische Beziehungen mit der VR China aufnahmen, konnte bereits Ende der 80er Jahre von der chinesischen Variante der Hallstein-Doktrin seitens der ROC keine Rede mehr sein.3 Eine grundlegende Veränderung des internationalen Paria-Status der ROC konnte damit jedoch nicht herbeigeführt werden – die VR China setzte ihrerseits eine »Ein-China-Politik« durch, die die ROC international isolierte. Kurzfristige Verbesserungen der diplomatischen Situation der ROC konnten in den 90er Jahren erreicht werden. Kleinere Transformationsstaaten des ehemaligen Ostblocks konnten mit massiver Auslandshilfe dazu bewogen werden, die ROC diplomatisch anzuerkennen. Zuletzt brach jedoch Mazedonien wieder seinerseits die Beziehungen zur ROC ab, weil die VR China im Sicherheitsrat eine Verlängerung der UN-Sicherheitsmission für Mazedonien erfolgreich verhindert hatte.4
Von größter politischer Bedeutung, wenn auch ohne nachhaltigen Erfolg, war eine über mehrere Jahre angelegte Kampagne zur Wiederaufnahme in die Vereinten Nationen. Mitte der 90er Jahre präsentierte sich die ROC als vollwertiges Mitglied der internationalen Staatengemeinschaft, dem trotz eines demokratischen politischen Systems und seines wirtschaftlichen Gewichts die politische Anerkennung verwehrt wurde. Die ökonomische Implikation bestand im dem Bestreben Taiwans, der Welthandelsorganisation WTO beizutreten, ein Schritt, der zwar auch von Ökonomen längst als überfällig erachtet wird, durch die VR China bislang aber erfolgreich verhindert wurde.
Der intendierte Beitritt zu den Vereinten Nationen ist zudem integraler Teil der Internationalisierungsstrategie der Taiwan-Frage.5 Obwohl während der Manöver der VR China und der Raketentests 1995 und 1996 vor Taiwans Küsten die USA ihre Streitkräfte in die Straße von Formosa entsandten, kamen in Taiwan berechtigte Zweifel auf, ob die Schutzmacht oder die internationale Staatengemeinschaft im Falle eines Angriffes der VR China intervenieren würden. Im Krisenfall sollen unter dem Dach der Vereinten Nationen Foren zur Verfügung stehen, in denen eine Lösung oder Beilegung der Konfrontation ausgearbeitet werden kann.
Taiwan und die VR China
Das Verhältnis zwischen Taiwan und der VR China hat sich seit dem Systemwandel der ROC eher verschlechtert. Mit Misstrauen wurde in politischen Kreisen der VR China der ständig wachsende politische Einfluss der DPP verfolgt. Die Signalwirkung, die von dem Erstarken der Oppositionspartei und von der Unabhängigkeitsbewegung ausging und nach der freie Wahlen die Voraussetzung für eine Vereinigung sind, wurde erkannt.6 Es bestehen kaum Zweifel, dass die Raketentests und Manöver der VR China Ende der 90er Jahre in der Straße von Formosa, die zeitlich mit Präsidentschafts- und Parlamentswahlen koinzidierten, die Wähler einschüchtern und die Position der VR China nachdrücklich unterstreichen sollten.7
Auf Taiwan rückten seit Mitte der 90er Jahre sicherheitspolitische Aspekte der wirtschaftlichen Verflechtung zwischen der VR China und Taiwan ins Blickfeld. In den 90er Jahren wurden indirekt Wirtschaftsbeziehungen über die Straße von Formosa möglich. Taiwan stieg binnen eines Jahrzehnts zu einem der wichtigsten Investoren und Exporteure für die VR China auf. Die Höhe und das Volumen der Investitionen und Exporte taiwanesischer Unternehmen – sie nehmen noch immer den Umweg Hongkong und müssen offiziell in Taiwan registriert werden – wurden in Regierungskreisen auf Taiwan mit Misstrauen begleitet, man befürchtete eine Schwächung der Verhandlungsposition gegenüber der VR China und einen möglichen Druck auf taiwanesische Unternehmen, die ihrerseits die ROC zu weiteren Zugeständnissen in der Frage einer Vereinigung bewegen könnten. Dies könne dazu führen, dass die Regierung der ROC gezwungen wäre, auf die langjährigen Forderungen der VR China einzugehen, die »drei Verbindungen« (san tong) zu ermöglichen – direkte Verkehrsverbindungen, direkter Handel und Kommunikation, einschließlich Postdienst.8 Versuche, über Entwicklungszusammenarbeit die Infrastruktur vornehmlich südostasiatischer Länder zu fördern, um Investitionen und Exporte regional zu diversifizieren und so mögliche wirtschaftliche und politische Abhängigkeiten für die ROC zu reduzieren, waren wenig erfolgreich.
Um Probleme der technischen Abwicklung bei Besuchen, von Handel und Investitionen zu bearbeiten, wurden Anfang der 90er Jahre von den Regierungen weisungsgebundene Stiftungen gegründet, die ARATS (Association for Relations across the Taiwan Strait) der VR China und die SEF (Straits Exchange Foundation) der ROC. Diese Institutionen stellen einen unverzichtbaren Konfliktbearbeitungsmechanismus dar. Impulse, die zur Lösung des Konflikts oder zu einem Mehr an (nicht nur ökonomischer) Sicherheit Taiwans hätten beigetragen können, gingen von ihnen aber nicht aus.
Wandel der Verteidigungspolitik
Durch gesellschaftlichen Wandel und politische Liberalisierungen wurden auch wichtige Reformen in der Verteidigungspolitik angestoßen. Mit einer Novellierung des »Gesetzes über die nationale Verteidigung«, die im Jahr 2000 verabschiedet wurde, wurden militärische Kommandostruktur und politische Entscheidungsfindung zusammengelegt, der Generalstabschef untersteht nun dem Verteidigungsminister. Die Neufassung des Gesetzes erhöht einerseits die politische Kontrolle über das Militär, andererseits ist sie Ausdruck eines neuen integrativen Sicherheitskonzeptes, in dem militärische, aber auch politische, außenpolitische und wirtschaftliche Dimensionen konvergieren.9 Bereits mit der Veröffentlichung des ersten Verteidigungsweißbuches 199210 sollte die Transparenz im militärischen Bereich erhöht werden. Kritikern gehen die Veröffentlichungen aber nicht weit genug und noch immer unterliegen über 20% der Mittel des Verteidigungshaushaltes strikter Geheimhaltung.
Anfang der 90er Jahre wurde der Pflichtwehrdienst auf 22 Monate reduziert. Zudem war das Ausreiseverbot für männliche Jugendliche unter 18 Jahren, die bislang noch keinen Wehrdienst geleistet hatten, politisch kaum noch durchzusetzen und wurde weit gehend aufgehoben. Seit Mai 2000 ist ein Zivildienstgesetz in Kraft getreten, in dem Wehrdienstverweigerung aus familiären, religiösen und Gewissensgründen ermöglicht und geregelt wird.11 Kriegsdienstverweigerer können ihren Wehrersatzdienst bei Polizei und Feuerwehr, im Umweltschutz und durch Sozialarbeit (z.B. Altenpflege) ableisten. Regulär beläuft sich der Wehrersatzdienst auf 26 Monate.
Die Reduzierung der Wehrdienstzeit und die Verabschiedung des Wehrdienstverweigerungsgesetzes wurden erst durch eine grundlegende Revision der Verteidigungspolitik möglich. Strategisch konzentriert sich die ROC auf die Verteidigung von Taiwans Küstengewässern und der Straße von Formosa. Die massive Aufrüstung an den Küsten der VR China und die Stationierung von Marschflugkörpern veranlasste die ROC Ende der 90er Jahre verstärkt an der Entwicklung von Mittel- und Langstreckenraketen zu arbeiten.12 Die neue Verteidigungspolitik der ROC sieht zudem eine Verringerung der Truppenstärke von 450.000 zu Beginn der 90er Jahre auf derzeit 380.000 Soldaten vor und beinhaltet eine anteilsmäßige Kürzung des Verteidigungsetats am Regierungshaushalt von 35% (1990) auf 24,5% (2000). Für 2001 ist eine weitere Reduzierung auf ca. 17% geplant.
Trotz Etatstreichungen wurde massiv in modernste Waffensysteme und in bessere Ausrüstung und Ausbildung investiert. Defizite in der Ausbildung der Soldaten wurden erstmals Ende der 90er Jahre eingeräumt. Vor dem Hintergrund der Kritik an den hohen Verteidigungsausgaben und im Zuge gesellschaftlicher Pluralisierungsprozesse konnte insbesondere immer weniger qualifiziertes Personal für den militärischen Führungsnachwuchs rekrutiert werden. Die Streitkräfte versuchten diesem Trend mit besserer Ausbildung und höherem Sold entgegenzuwirken. Ob sich dadurch aber auch mittelfristig die Abwanderung von Fachpersonal in den ungleich lukrativeren zivilen Sektor verhindern lässt, bleibt abzuwarten.
Bei den Umstrukturierungen zur Hightech-Armee konzentriert sich die ROC auf den Ankauf v.a. US-amerikanischer Waffensysteme, verstärkt aber auch Eigenentwicklungen. Trotz politischer Reformen sind nur wenige Staaten wie die USA und mit Einschränkungen auch Frankreich bereit, der ROC moderne und komplexe Waffensysteme zu liefern. Die Bundesrepublik Deutschland und die Niederlande haben zuletzt im Mai 2001 erklärt, keine Rüstungstechnologie an Taiwan weiterzugeben und damit dem Verkauf von acht dieselbetriebenen Unterseebooten eine Absage erteilt.13 Die USA haben hingegen im April 2001 zugesagt, Taiwan weiter mit Rüstungsgütern zu beliefern, wenn auch nicht im gewünschten Umfang. Der Verkauf von Zerstörern, die mit modernstem Aegis-Radar sowie mit landgestützen Patriot PAC-3 Anti-Raketensystemen und HARM Raketen ausgerüstet sind, wird derzeit verweigert.14 In den letzten Jahren wurde in Taiwan immer wieder Kritik an den US-amerikanischen Waffenlieferungen geübt. Den USA wurde vorgeworfen, Taiwan nur älteres Kriegsgerät zu überhöhten Preisen oder in technologisch minderwertiger Ausstattung zu verkaufen und damit die internationale politische Isolierung Taiwans auszunützen.15
Diese Kritik, die Problematik der Waffenkäufe und die technologische Aufrüstung in Chinas Küstengebieten beschleunigten Taiwans Investitionen in elektronische und computergestützte Kriegsführung und in F&E im Rüstungsbereich. Zwei Institutionen stehen im Zentrum von Rüstungsproduktion, militärischer Forschung und Entwicklung: Die Aerospacial Industrial Development Corporation (AIDC) und das Zhongshan Institute für Wissenschaft und Technik (CSIST), das bereits 1969 gegründet wurde.16 AIDC begann bereits 1981 gemeinsam mit amerikanischer Hilfe die Entwicklung eigener Transportflugzeuge und Helikopter. 1988 wurde dann erstmals der Indigenous Defense Fighter (Spitzname: I don’d fly) vorgestellt, von dem bis zum Jahr 2000 bereits 130 Maschinen ausgeliefert worden waren. Das CSIST, in dem derzeit ca. 3.800 Wissenschaftler und 4.600 Techniker beschäftigt sind, hat seit Ende der 90er Jahre mit den Veränderungen der Verteidigungsstrategie der ROC stark an Bedeutung gewonnen, v.a. durch die Entwicklung von Luft-Luft- und Boden-Luft-Raketen (beispielsweise die Hsiung-Feng-Raketen, Sky Bow II SAM oder Sky Sword II AAM). Diese Anstrengungen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die ROC bei der Entwicklung eigener Waffensysteme nach wie vor in großem Maße auf Know-how aus den USA angewiesen ist, deren Einfluss auf technische Ausrüstung und indirekt auf die strategische Ausrichtung der nationalchinesischen Armee weiter gestiegen ist.
In den letzten Jahren gab es Bestrebungen, durch eine enge Zusammenarbeit mit privaten Unternehmen die technologischen Abhängigkeiten zu verringern. Die Auftragsvergabe nutzte bisher aber fast ausschließlich den Unternehmen, für Militär und Staat zahlte sie sich bislang nicht aus. Ob diese neueren Tendenzen zur Verflechtung bereits als Keimzelle eines neuen militärisch-industriellen Komplexes auf Taiwan gedeutet werden können, der dann letzten Endes wieder zu einer neuen Militarisierung der Gesellschaft führt, bleibt abzuwarten.
Anmerkungen
1) S. Guofang Baogao shu, hg. Guofangbu (Verteidigungsministerium), Taibei: Liming wenhua shiye, 1992, S. 72.
2) Zu den Verfahrensrichtlinien und der Auslegung des Gesetzes in unterschiedlichen Präsidentschaften, s. Lee, Wei-chin. US arms transfer policy to Taiwan: from Carter to Clinton. In: Journal of Contemporary China 9(2000)23. S.53-75.
3) Zur offiziellen Darstellung der ROC-Außenpolitik, s. Duiwai guanxi yu waijiao xingzheng (Auswärtige Beziehungen und Diplomatie): Waijiao baogao shu (Bericht zur Außenpolitik), hg. Wajiaobu (Außenministerium), Taibei: o.V., 1992.
4) S. China Aktuell 06.2001, S.613.
5) Anthony Goodman, China blocks Taiwan bid to join U.N. for sixth year, www.taiwansecurity.org./Reu/Reuters-980911.htm.
6) Timothy Ka-ying Wong. The impact of state development in Taiwan on cross-straits relations, in: Asian Perspective 21(1997)1. S. 171-212.
7) Vgl. Shaw, Yu-ming, Taiwan’s presidential election and relations with the mainland, in: Missile diplomacy and Taiwan’s future: innovations in politics and military power, hg. Greg Austin, Canberra: Strategic and Defence Studies Centre, 1997, S.1-8.
8) Erst in den letzten Monaten näherte sich die ROC den Forderungen der VR China (und taiwanesischer) Unternehmen an, indem sie die drei Mini-Verbindungen (xiao san tong), die direkte Kontakte zwischen den unter Verwaltungshoheit der ROC stehenden Inseln Kinmen, Mazu und dem chinesischen Festland ermöglichen. Shi Qiping, Xin Zhongguo [Neues China] 21.shiji haixia liang’an de chulu [Auswege für Taiwan und China im 21. Jahrhundert.], Taibei: Gongshang shibao [Economic Times], 1996, S.105.
9) Li Zhengyi., Tai Hai anquan yu Taiwan de guofang zhengce (Sicherheit in der Straße von Formosa und die Vertedigungspolitik Taiwans), in: Maixang 21 shiji de Taiwan (Taiwan an der Schwelle des 21. Jahrhunderts), hg. Xu Qinfu, Taibei: Zheng Zhong, 1994, S.138-152.
10) Guofang Baogao shu, hg. Guofangbu (Verteidigungsministerium), Taibei: Liming wenhua shiye, 1992.
11) S. China Aktuell 05.2000. S.496f.
12) S.China Aktuell 12.1999, S.1250.
13) S. China Aktuell, 05.2001, S.287.
14) S. The Economist, 28.04.01, S.62-63.
15) Oscar Chung, Si vis pacem, para bellum, in: Taipeh heute (2001)05/06, S. 16-23.
16) Andrew Nien-dzu Yang, Taiwan’s defensive capacities, in: Missile diplomacy and Taiwan’s future: innovations in politics and military power, hg. Greg Austin. Canberra: Strategic and Defence Studies Centre, 1997, S. 143-159, insb. S. 148-149.
Jo Fleischle, M.A., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Sinologie und Koreanistik der Universität Tübingen und Managing Director des European Centre for Chinese Studies