W&F 1992/2

Sicherheitspolitik in den Nachfolgestaaten der UdSSR1

von Hans-Henning Schröder

Die Auflösung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken im Dezember 1991 war Endpunkt eines 1986/87 angelaufenen Politisierungsprozesses. Das Erstarken politischer Bewegungen, die nationale oder regionale Interessen vertraten, entzog dem Zentrum Schritt um Schritt den Boden. In der zweiten Hälfte des Jahres 1990 wurde klar, daß die notwendigen Veränderungen des Wirtschafts- und Herrschaftssystems nur noch von den Republiken ausgehen konnten und nicht mehr von einer Unionsregierung, die sich allein auf die verknöcherte Bürokratie der alten Machtapparate stützte. Der dilettantisch vorbereitete Umsturzversuch einer Handvoll Konservativer im August 1991 beschleunigte die Auflösung der Zentralmacht lediglich.

Doch der zerfallene Sowjetstaat hinterließ ein brisantes Erbe: eine bankrotte Wirtschaft, Armut und soziale Spannung, Nationalismus, dazu ein überdimensioniertes Waffenarsenal, aus dem sich nationale Formationen, Parteimilizen und paramilitärische Verbände jeglicher Couleur bedienen konnten. Der Untergang der Union hat zwar die Wahrscheinlichkeit eines »großen Krieges« zwischen den Supermächten radikal gesenkt, stattdesen sind aber regionale Krisen und begrenzte bewaffnete Konflikte eine reales Problem.

Die Herausbildung politischer Strukturen in den GUS-Staaten

Die Auflösung der alten Union, die im Jahre 1922 formell gegründet wurde, hinterließ ein Vakuum. Die Republiksregierungen erzielten keine Einigkeit bei dem Versuch, eine neue, alle souveränen Einzelstaaten einschließende Struktur zu schaffen. Auf der anderen Seite gibt es jedoch eine Vielzahl von Problemen, die die Republiken nur gemeinsam lösen können. Dazu gehört vor allem die Organisation ökonomischer Zusammenarbeit, die angesichts einer Verflechtung der regionalen Wirtschaftsbereiche und durch die gegenseitigen Abhängigkeiten der Republiken notwendig ist. Im Konsens müssen auch die Grenz- und Minderheitenfragen gelöst werden. Um die Kontrolle über die Atomwaffen zu gewährleisten, ist wenigstens die Zusammenarbeit der vier Stationierungsstaaten – Rußland, Kasachstan, Belarus und die Ukraine – erforderlich. Auch bei der Aufteilung des Unionsvermögens – darunter die Streitkräfte – ist ein Mindestmaß von Abstimmung unabdingbar.

Die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), in der sich elf der fünfzehn früheren Unionsrepubliken zusammengeschlossen haben2, hat bisher jedoch keine politische Struktur geschaffen, die die Kompetenz hätte, solche Aufgaben zu lösen. Die Herausformung politischer Systeme in den GUS-Republiken verläuft regional ganz unterschiedlich. Formen politischer Auseinandersetzung entwickelten sich verschiedenartig – je nach Tradition, Sozialstruktur, nationaler Gemengelage und wirtschaftlichem Problemdruck. In einer Reihe von Regionen kam es zu einer Militarisierung von interethnischen Auseinandersetzungen. Nationale Gruppierungen bewaffneten sich und suchten etwa in den Konflikten um Südossetien (Georgien), Transnistrien (Moldowa), in Nagornyj Karabach (Armenien/Aserbejdshan) oder bei Streitigkeiten um Boden- und Wasserrechte in Mittelasien Lösungen gewaltsam zu erzwingen. Demgegenüber werden zwischen Rußland und der Ukraine oder Rußland und den baltischen Republiken Konflikte auf politischem Wege ausgetragen. Es zeichnet sich ab, daß infolge der unterschiedlichen Entwicklung politischer Systeme auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion Zonen unterschiedlicher Sicherheit entstehen – Regionen, in denen die politischen Kräfte bereit sind, nach friedlichen Regelungen für Konflikte zu suchen, und solche, in denen Gruppierungen dominieren, die willens sind, ihre Ziele militärisch durchzusetzen.

Sicherheitspolitische Bedrohungsvorstellungen

Der Wandel der politische Lage – gekennzeichnet durch den Zerfall des östlichen Militärbündnisses, das im Juni 1991 endgültig liquidiert wurde, und die Auflösung der Union Ende 1991 – führte auch innerhalb der GUS zu einer Umwälzung in den Bedrohungsvorstellungen. Die äußere Gefahr – die Bedrohung durch den »Imperialismus« – spielte im Bewußtsein von Öffentlichkeit und politischen Eliten keine Rolle mehr, stattdessen setzte sich die Erkenntnis durch, daß die innenpolitische Entwicklung ganz erhebliche Risiken barg. Zudem entstanden mit der Ausformung nationaler und regionaler Identitäten neue Feindbilder – der unmittelbare Nachbar wurde als neuer Gegner entdeckt.

Analysiert man die Bedrohungsszenarien, die in der Öffentlichkeit diskutiert wurden, wird deutlich, daß eine äußere Gefahr nicht perzipiert wird. Eine Sicherheitsgefährdung durch die NATO etwa, oder durch ein erstarktes Deutschland spielt im Denken der politischen Akteure praktisch keine Rolle mehr. Auch jene Szenarien, die den Verlust der Kontrolle über Atomwaffen thematisieren und die in der westlichen Öffentlichkeit herausgestellt werden, rufen in den Republiken augenscheinlich keine ernsthafte Besorgnis hervor.

Sorgen verursacht dagegen die innere Entwicklung:

  • Die wachsende ökonomische Krise, die zu massiven sozialen Spannungen führen und die politischen Strukturen destabilisieren wird.
  • Die Regionalisierung der politischen Zusammenhänge und des Wirtschaftsraums: eine Auflösung der bisher existierenden ökonomischen und politischen Zusammenhänge, die einhergeht mit stärkerer Verselbständigung einzelner Regionen – nicht allein nach ethnischen Merkmalen, sondern auch nach geographischen (neben Tatarstan oder Baschkortostan entwickeln innerhalb von Rußland z.B. auch Sachalin, die St.Petersburger oder die Fernost-Region spezifische Eigeninteressen).
  • Zwischennationale und interethnische Probleme, die sich mit dem weiteren Zerfall der Volkswirtschaft verschärfen werden. Dabei scheint die Situation in den Republiken unterschiedlich: In der Ukraine und Belarus gibt es zwar nationale Minderheiten, doch erwarten die Politiker dort einstweilen keine gefährlichen Spannungen. Lediglich die Krim-Frage scheint ein Problem darzustellen. In Rußland stellen Politiker die Gefahr einer Regionalisierung in den Vordergrund, die sich teilweise auch mit dem Erstarken nationaler Bewegungen in den autonomen Republiken überschneidet. Es droht der Zerfall der Russischen Föderation. In einer Reihe von Republiken – Georgien, Moldowa, Aserbejdshan und Armenien – herrscht offener Bürgerkrieg zwischen ethnischen Gruppen. Ein Ende der Kämpfe ist nicht abzusehen.
  • Vor dem Hintergrund der sozialen und ökonomischen Krise und des drohenden Zerfalls der politischen Strukturen in Rußland fürchten viele Politiker die Restauration autoritärer Strukturen. In Belarus etwa sieht man diese Gefahr sowohl für Rußland wie für die Ukraine, deren aktuelles Regime kritisch beobachtet wird. In der Ukraine sieht man die Gefahr einer autoritären Entwickung in Rußland. Dort wiederum mehren sich Stimmen, die fragen, ob eine autoritäre Ordnung nicht besser ist als ein soziales und ökonomisches Chaos.
  • Auch wenn eine akute Bedrohung durch die »Vereinigten Streitkräfte« nicht gesehen wird, besteht doch eine gewisse Sorge über das Unruhepotential, das ein sozial unterversorgtes Offizierskorps darstellen könnte. Die Vorsicht bei Schritten zur Truppenreduzierung ist auch von solchen Überlegungen bestimmt.
  • Diese Perzeption der politischen Entwicklung führte dazu, daß Politiker in Belarus und der Ukraine Besorgnis über Destabilisierungstendenzen in Rußland äußern und die Möglichkeit erörtern, daß sich dort ein Regime installieren könnte, das wieder eine imperiale und expansive Politik betreiben und die Souveränität der Republiken bedrohen würde.
  • Die Gefahr, daß Grenzprobleme Auslöser für Konflikte zwischen den Republiken werden könnten, wird in den drei slavischen Republiken Anfang 1990 vergleichsweise niedrig angesetzt. Zwar wird durchweg unterstrichen, daß die Grenzziehung zwischen den Republiken weder historisch noch ethnisch wirklich legitimiert sei, doch sprechen die verantwortlichen Politiker sich allesamt für eine pragmatische Behandlung dieser Frage – Wahrung des status quo – aus. Fragen wie die Zuordnung der Krim, die Herauslösung Transnistriens aus Moldowa oder der Status von Nagornyj Karabach zeigen allerdings, welcher Sprengstoff in der Grenzfrage steckt.

Die Entwicklung der Streitkräfte

Die innenpolitischen Probleme und die Vielzahl möglicher innerer Konflikte, die daraus erwachsen können, machen die rechtsstaatliche Einbindung und die sichere politische Kontrolle der bewaffneten Macht um so notwendiger. Beides aber war in den Anfangsmonaten des Jahres 1992 nicht gewährleistet.

Die Auflösung des alten Unionsvertrages entzog den sowjetischen Streitkräften die Rechtsgrundlage. Sie eliminierte auch die politischen Instanzen, die die Armee bisher kontrolliert hatten. Über Wochen hinweg agierten sowjetische Militärs in einem rechtsfreien Raum: Kriegsschiffe fuhren unter der Flagge eines nichtexistierenden Staates zur See, für die Stationierung von Land- und Luftstreitkräften auf dem Territorium der souveränen Republiken fehlte jegliche gesetzliche Basis. Die Instanzen, die bisher über Militärpolitik entschieden hatten und die für die Kosten der Militärmacht aufgekommen waren, existierten nicht mehr. Die Republiksregierungen standen unter dem Zwang, diese Probleme baldmöglichst und im Konsens zu regeln.

Neuordnung der militärischen Strukturen: die »Vereinigten Streitkräfte«

Nach der Auflösung der Union setzten die Staatsoberhäupter der GUS-Staaten zunächst einen kommissarischen Oberbefehlshaber für die ehemals sowjetischen Truppen – nunmehr die »Vereinigten Streitkräfte« – ein3. Das Amt wurde dem bisherigen sowjetischen Verteidigungsminister Schaposchnikow anvertraut, der innerhalb der Armee Autorität besaß und sich durch sein besonnenes Verhalten während des Putschversuches im August 1991 empfohlen hatte. Die Ernennung wurde im Februar 1992 formell bestätigt; Schaposchnikow wurde regulärer Oberbefehlshaber der »Vereinigten Streitkräfte« der GUS.4 Die militärische Führung war durch die Auflösung der Union zunächst nicht direkt berührt. Dieser Schritt war dann die Legalisierung eines seit längerem existierenden Faktums. Schaposchnikow übernahm die gesamte Führungsstruktur – das sowjetische Verteidigungsministerium, das nun in »Vereinigtes Oberkommando« umbenannt wurde, ebenso wie den Generalstab. Neben den laufenden Fragen – Gewährleistung der Versorgung der Truppe und Fortführung des Ausbildungsbetriebs – war die alte neue Führung vorrangig mit zwei Aufgaben konfrontiert: die Entwicklung von Streitkräftestrukturen, die der neuen politischen Struktur angepaßt waren, und die operative Umsetzung der Abrüstungsvereinbarungen, die die Sowjetunion unterzeichnet, jedoch nicht mehr ratifiziert und verwirklicht hatte.

Als Grundmuster der neuen Streitkräftestruktur bildete sich bald eine Zweiteilung der bewaffneten Macht heraus: auf der einen Seite die »strategischen Kräfte«, die dem Vereinigten Oberkommando unterstellt waren und jene Verbände umfaßten, die zur Lösung strategischer Aufträge eingesetzt werden konnten; auf der anderen Seite die konventionellen Kräfte, die alle anderen Verbände umfaßten, soweit sie nicht den Republiken unterstellt wurden. Das Oberkommando und die russische Regierung beabsichtigten zunächst, den Löwenanteil der Streitkräfte den strategischen Kräften zu unterstellen: neben den nuklear bewaffneten Verbänden die gesamte Seekriegsflotte, die Luftverteidigung, die Luftlandeverbände samt den dazugehörigen Rückwärtigen Diensten. In diesem Falle hätten die Republiken nur noch Zugriff auf Zivilverteidigung und einen kleinen Teil der Landstreitkräfte gehabt. Gegen diese Definition setzten sich die Ukraine und in der Folge auch andere Republiken wie Belarus und Moldowa energisch zur Wehr, da sie durch eine solche Aufteilung die Möglichkeit verloren hatten, selbst schlagkräftige Truppen aufzustellen. Aufgrund der Widerstände kam es bei den Treffen der Staatsoberhäupter der GUS nicht zu einer inhaltlichen Einigung über den Bestand der strategischen Kräfte. Ihre Aufstellung wurde zwar beschlossen, die genaue Abgrenzung dieser Streitmacht sollte jedoch in bilateralen Abkommen zwischen dem Oberkommando und der jeweiligen Stationierungsrepublik ausgehandelt werden.5

Diese Abmachung war symptomatisch für die gemeinsame Militärpolitik der GUS-Staaten; zwar wurden während der Gipfel in Minsk und Kiev eine Reihe von Abkommen getroffen6, doch gelang es den Vertretern der Ukraine und einiger anderer Republiken, alle Regelungen zu verhindern, die sie beim Aufbau eigener Streitkräfte eingeschränkt hätten. Das traf auch für die Frage der Finanzierung zu. Die Vereinigten Streitkräfte benötigten ständig Mittelzuweisungen, um wenigstens die laufenden Kosten zu decken. Es konnte aber kein Wehrbudget für 1992 verabschiedet werden, da die Vertreter der Republiken sich nicht über die Aufteilung der Finanzlast einig waren. Eine Reihe von Republiken lehnte es ab, für die nichtstrategischen Kräfte der GUS zu zahlen, da sie die Mittel für den Aufbau eigener Armeen nutzen wollten. Da sich die GUS-Staaten aber auch nicht über die Definition der strategischen Kräfte hatten einigen können, konnten auch Militärausgaben für diesen Bereich nicht aufgeteilt werden. Für die laufenden Ausgaben der Streitkräfte kam daher die Russische Föderation auf.

Hier zeichnete sich schon eine Entwicklungstendenz ab: Rußland übernimmt die Finanzierung und – über kurz oder lang – auch die politische und operative Kontrolle über die Masse der Vereinigten Streitkräfte. GUS-übergreifende Streitkräftestrukturen wird es voraussichtlich nur noch solange geben wie nuklear bewaffnete Verbände außerhalb Rußlands stationiert sind und ein überrepublikanisches Kommando notwendig machen. Spätestens mit der Erfüllung des START-Vertrages im Jahre 1994 wird dies nicht mehr der Fall sein.

Zum Stand des Aufbaus republikseigener Streitkräfte

Seit dem Treffen in Minsk im Februar 1992 war öffentlich erkennbar, daß die Führungen aller drei slavischen Republiken sich darauf einrichteten, eigene Streitkräfte aufzubauen.

In Rußland hatte sich im Frühjahr 1992 in der Öffentlichkeit und bei Politikern weitgehend die Auffassung durchgesetzt, daß die Masse der sowjetischen Streitkräfte im Grunde Rußland gehörten, frei nach dem (häufig zitierten) Motto: „Wer zahlt, bestellt auch die Musik.“ Eine spezifisch russische militärische Struktur existierte zwar anfangs nicht, doch am 16. März 1992 schuf Jelzin durch Erlaß ein russisches Verteidigungsministerium7, dessen Führung zunächst der Präsident selber übernahm. Die Bildung russischer Streitkräfte wurde für den Mai geplant. Zu ihrem Umfang wurden im Februar Zahlen um eine Million Mann genannt (mit einer Bandbreite zwischen 0,5 und 1,5 Mio. bei verschiedenen Sprechern), im April pendelte sich diese Zahl bei 1,2-1,3 Mio. ein.

In der Republik Belarus existierten Anfang 1992 ebenfalls keine republikseigenen Streitkräfte. Die belorussische Führung erklärte jedoch ihre Absicht, im Laufe der nächsten beiden Jahre eine eigene Armee aufzubauen. Die Streitkräfte sollen auf Basis der Verbände gebildet werden, die dem Belorussischen Wehrkreis unterstellt sind. Die Angaben über den geplanten Umfang schwanken zwischen 70-80 000 bzw. 150 000.

Die Ukraine verfügt bereits über verschiedene Formationen: reguläre Streitkräfte, die auf Basis der Truppen des Kiever, Odessaer und Karpatenwehrkreises formiert werden, Grenztruppen (auf Basis der sowjetischen Grenztruppen, 25 000 Mann) sowie eine Nationalgarde (auf Basis der Inneren Truppen und stark dem Präsidenten attachiert, derzeit etwa 10 000 Mann). Über die angestrebte Truppenstärke der regulären ukrainischen Armee kursieren unterschiedliche Zahlen. Nach Angaben des Stabschefs sind in der Ukraine derzeit 600 000 Mann stationiert, die bis 1994-95 auf 300 000 reduziert werden sollen. Aus dem Außenministerium wird eine letztendlich wünschbare Stärke von 100 000 genannt.

Bewaffnete Verbände ganz unterschiedlichen Charakters entstanden in einer Reihe von anderen Republiken. So stellten Moldowa, Aserbejdshan und Armenien eigene Armeen auf, viele Präsidenten schufen sich Nationalgarden, die – wie etwa in Georgien oder in Tadzhikistan – auch gegen die eigene Bevölkerung einsetzbar waren. Republiken, die sich neu bildeten, wie Transnistrien oder Tschetscheno-Inguschetien, organisierten in der Regel rasch bewaffnete Selbstschutzeinheiten. Daneben entstanden Parteimilizen und paramiltärische Verbände, wie etwa die Kosakentruppen, die unlängst den transnistrischen Selbstschutz gegen die moldawische Armee unterstützten.8 Diese unkontrollierte und regellose Militarisierung in den Einzelrepubliken ist außerordentlich gefährlich und kann regional zu Bürgerkriegen jugoslawischen Musters führen.

Die politische Rolle der Militärs

Welche Rolle Führer von Parteimilizen und paramilitärischen Verbänden in den Krisenregionen spielen, ist von außen kaum zu beurteilen. Man muß aber davon ausgehen, daß sie aufgrund ihrer militärischen Machtstellung im Verlaufe von politischen Konflikten wie z.B. in Georgien oder Transnistrien nicht ohne Einfluß sind.

Die Rolle regulärer Militärs scheint nicht in allen Einzelrepubliken gleich zu sein. In der Ukraine übt das Militär offenbar keinen nennenswerten Einfluß auf politische Entscheidungen aus. In Belarus, das noch keine eigene Armee hat, stellen die dort stationierten Truppen einen Fremdkörper dar, der – wenigstens im sozialen Bereich – erheblichen Druck ausüben könnte. In Rußland ist der direkte politische Einfluß der Militärs sehr viel deutlicher spürbar. Gegen den Widerstand des Oberbefehlshabers der Vereinigten Streitkräfte, Schaposchnikow, der offenbar bemüht ist, das Militär aus der Politik herauszuhalten, suchen Offiziersgruppen das Gewicht der Streitkräfte fühlbar zu machen. Die GUS-weite Offiziersversammlung Mitte Januar 1992 und die Bildung eines Koordinierungsrates, der als ständiges Vertretungsgremium dieser Versammlung fungiert, zeigt in diese Richtung. Solche Bestrebungen werden bisher jedoch durch eine besonnene militärische Führung eingedämmt. Allerdings stellt das Offizierskorps ein erhebliches Unruhepotential dar: angesichts der inflationären Preisentwicklung unterbezahlt, oft ohne Wohnung für die Familie, außerhalb Rußlands in Konflikt mit der Bevölkerung der Stationierungsgebiete macht sich bei den Offizieren eine Stimmung breit, die viele Berufssoldaten für ein »Durchgreifen« und die »Wiederherstellung der Ordnung« plädieren läßt. Sollte die Wirtschaftskrise sich weiter verschärfen, könnte ein Militärputsch, der von solchen Kräften getragen wird, in Rußland wohl sogar mit Unterstützung in der Öffentlichkeit rechnen.

Rüstungsproduktion und Rüstungsexport

Angesichts knapper Mittel und geplanter Truppenreduzierungen geht die Rüstungsbeschaffung stark zurück. Dieser Trend wird sich in Zukunft noch stärker ausprägen. Das wirft für die Rüstungsindustrie und jene Regionen, in denen diese Produktion konzentriert ist, erhebliche Probleme auf.

Vor diesem Hintergrund scheint in den meisten Republiken quer durch die politischen Blöcke Konsens zu bestehen, daß der Export von konventionellen Waffen legitim ist. Dies trifft in Rußland auch für liberale Politiker wie Galina Starovojtova zu. Man muß also davon ausgehen, daß die Staaten der GUS – sofern der Weltwaffenmarkt es zuläßt – in großem Ausmaß konventionelle Waffensysteme exportieren werden. Dabei wird es sich zum einen um Systeme handeln, die durch Truppenreduzierungen frei werden und nicht im Rahmen der Vorgaben des KSE-Vertrages unbrauchbar gemacht werden müssen, zum anderen um die laufende Produktion der Rüstungsindustrie.

Die starke, republiksübergreifende Verflechtung des Rüstungssektors wird es vermutlich für einzelne Republiken wie die Ukraine unmöglich machen, eine selbständige Konversionspolitik zu betreiben. Im Moment scheinen die zuständigen Behörden den alten Konversionsansatz der sowjetischen Instanzen fortzusetzen – Aufrechterhaltung eines geschlossenen Rüstungskomplexes, Steigerung des zivilen Ausstoßes aus diesen Rüstungsbetrieben, staatlich vorgegebene Prioritäten für den Agrarbereich. Neu ist das Moment des Rüstungsexports, mit dem – so die geläufige Begründung – Konversion jetzt finanziert werden soll.

Allerdings ist es doch sehr fraglich, ob diese Strategie positive Wirkung haben wird. Die Konversionspolitik der letzten Jahre war jedenfalls ein Fehlschlag. Die Umstellungsprogramme haben nicht zu einer Besserung der Lage in den Regionen mit hoher Rüstungsproduktion geführt. Der wahrscheinliche Mißerfolg der Konversion bedeutet jedoch zugleich, daß die Gefahr des Abfließens hochqualifizierter Rüstungsspezialisten in Risikoregionen fortbesteht und sich noch verschärfen wird.

Folgen für die internationalen Beziehungen

Die Entwicklungen innerhalb der GUS haben in begrenztem Außmaße auch Folgen für die Außenwelt. Das betrifft zunächst vor allem die Frage, ob es gelingen wird, die Abrüstungsvereinbarungen, die die UdSSR in den letzten Jahren ihres Bestehens eingegangen ist – isnbesodnere KSE und START –, unter den neuen Bedingungen zu ratifizieren und in die Tat umzusetzen.

Soweit zu übersehen, sprechen sich alle betroffenen Republiken uneingeschränkt für die In-Kraft-Setzung des KSE-Vertrages aus. Deutlich ist der starke Wunsch, in europäische Strukturen integriert zu werden. Allerdings zeigt es sich, daß es eine Reihe von Stolpersteinen gibt:

  • Das Verfahren der Ratifizierung durch die verschiedenen Republiken ist unklar. In Rußland geht man davon aus, daß Rußland als Rechtsnachfolger der UdSSR ratifiziert, die übrigen Republiken dagegen nur zustimmen. In der Ukraine und Belarus geht man davon aus, daß natürlich die eigenen Parlamente ratifizieren.
  • Im Rahmen der durch den KSE-Vertrag festgelegten Obergrenzen für Waffensysteme besteht in den Republiken keine Einigkeit über die Verteilung von Quoten. Sie muß jetzt in bilateralen Abkommen zwischen den Einzelstaaten der GUS fixiert werden. Gespräche darüber werden derzeit auf Expertenebene geführt. Die Differenzen scheinen z.Z. noch erheblich. Z.B. kritisierten Vertreter des belorussischen Verteidigungsausschusses, daß Belarus im Rahmen der Quote 700 Kampfpanzer behalten dürfen solle, wähend es doch zu seiner Verteidigung 2 000 benötige. Der Ukraine wiederum gesteht der KSE Vertrag weit mehr Waffensysteme zu als Rußland lieb ist. Auch dies ist Gegenstand von Gesprächen zwischen den beiden Staaten.
  • In Belarus und der Ukraine entwickelten Politiker die Vorstellung, daß die nationalen Parlament den Verbleib jener Waffensysteme und Verbände kontrollieren sollten, die aus den Republiken nach Rußland abgezogen werden. Dies war vor allem auf die taktischen Atomwaffen bezogen, für deren Abtransport und Vernichtung kein internationales Regime festgelegt wurde. Doch legten eine Reihe von Sprechern auch Wert darauf, die Verlegung von Luftlandetruppen und anderen Eliteverbänden zu überwachen.

Die Umsetzung des KSE-Vertrags wird sich daher komplizierter gestalten als erwartet. Es ist abzusehen, daß das ursprüngliche Abkommen durch ein Netzwerk bilateraler Verträge ergänzt werden muß. Dies bedeutet jedoch nicht, daß im Raum der ehemaligen Sowjetunion die Gefahr einer neuen Hochrüstung besteht. Wahrscheinlich werden alle Republiken bei Aufstellung eigener Streitkräfte weit unter den durch den KSE-Vertrag festgelegten Obergrenzen bleiben. Allerdings könnte der Ausbau des Verifikations- und Kontrollsystems erschwert werden.

Was den START-Vertrag angeht, so scheint die Situation einfacher. Belarus und die Ukraine streben eine Politik der Atomwaffenfreiheit an und wollen daher die auf ihrem Boden stationierten Atomwaffen an Rußland abgeben. Die taktischen Atomwaffen sind bereits vollständig vom Territorium der Ukraine abgezogen. In Rußland strebt die Führung offenbar an, nach Konzentration der Nuklearwaffen auf dem Boden der Republik die Kontrolle über diese Systeme in die eigene Hand zu nehmen und das Vereinigte Oberkommando aufzulösen. Welches Konzept der russischen Nuklearkriegsplanung dann zugrunde liegen wird, ist bisher noch unklar.

Ein Problem stellt allerdings die Haltung Kasachstans dar. Kasachstan ist eine der vier Republiken, auf deren Boden strategische Systeme stationiert sind. Anders als Belarus und die Ukraine hat sich die kasachische Führung bisher geweigert, ihre Atomwaffen an Rußland abzugeben. Da Kasachstan nicht über die Kapazitäten verfügt, diese Waffen fortzuentwickeln und zudem nicht über die für eine Atommacht notwendigen Vorwarn- und Kommandostrukturen, ist es unwahrscheinlich, daß die Republik tatsächlich eine eigenständige Nuklearstrategie entwickeln und realisieren kann. Die Ziele der kasachischen Führung sind unklar, doch scheint es denkbar, daß sie die Atomwaffen als eine Art von »bargaining chip« benutzt, um der Republik, an der sonst niemand ein größeres Interesse hätte, auf internationalem Parkett eine stärkere Ausgangsposition zu verschaffen.

Mögliche sicherheitspolitische Risiken

Die Auflösung der Sowjetunion und die militärpolitische Entwicklung innerhalb der GUS haben dazu geführt, daß in Europa Zonen unterschiedlicher Sicherheit entstanden sind. Während für Mittel- und Westeuropa oder die USA eine strategische Bedrohung nicht mehr erkennbar ist, sind die Staaten der GUS wachsenden inneren Gefahren ausgesetzt.

Allerdings kann man wenigstens in den drei slavischen Republiken mit gewissen Einschränkungen mittelfristig mit einer kalkulierbaren Sicherheits- und Verteidigungspolitik rechnen. Zwar wird sich die GUS in absehbarer Zeit auflösen, doch sind die politischen Eliten der drei slavischen Republiken offenbar bereit, sich in europäische Strukturen zu integrieren und hier westlichen Vorgaben auch weit entgegenzukommen. Fragen der Abrüstung und der Kontrolle atomarer Systeme scheinen daher lösbar, auch wenn die notwendigen bilateralen Absprachen zwischen den Staaten der ehemaligen Sowjetunion den Verhandlungs- und Umsetzungsprozeß komplizieren und verlangsamen werden.

Erhebliche Gefahren gehen aber von anderer Seite aus:

  • von der schweren Wirtschaftskrise, die zu einer Verschärfung der sozialen Spannungen führt und die Herausbildung stabiler politischer Strukturen behindert;
  • von interethnischen Konflikten, die im Gefolge sozialer Spannungen entstehen werden. Dabei sind bewaffnete Konflikte zwischen den großen Republiken eher unwahrscheinlich, gerechnet werden muß jedoch mit einer Vielzahl lokaler Auseinandersetzungen nach dem Modell der Konflikte um Südossetien oder in der Tschetscheno-Inguschetischen Republik;
  • von einer Politisierung des Militärs; denn vor diesem Hintergrund ist es denkbar, daß Teile des Offizierskorps nach einer politischen Rolle streben und dabei auch den Einsatz von Gewalt in ihre Überlegungen einbeziehen. Dies würde die Entwicklung eines stabilen politischen Systems gefährden;
  • von der Herausbildung autoritärer Regime, die wenigstens in einem Teil der Republiken wahrscheinlich ist. Dabei kann es sich durchaus um Regimestrukturen handeln, die auf Konsens mit den Regierten angelegt sind und die oppositionellen Kräfte einbinden, demokratische Mechanismen aber außer Kraft setzen. Doch es sind auch Herrschaftsformen möglich, die sich auf die alten Gewaltapparate stützen. Eine Restauration der alten Sowjetunion scheint jedoch in absehbarer Zukunft unmöglich;
  • von dem Bestreben der Republiken, durch Verkauf von Waffen und Rüstungstechnologie Devisen zu erwerben. Dies ist erklärte politische Absicht und kann regional durchaus unerwünschte Folgen haben;
  • vom »brain drain« hochqualifizierter Rüstungsexperten, die in die Rüstungsindustrie dritter Staaten abwandern;

Gefahren solcher Art muß man, und das ist gewiß keine neue Erkenntnis, vor allem durch die – wirtschaftliche und politische – Einbindung der Einzelrepubliken in europäischen Strukturen begegnen, in deren Kontext dann weitere Maßnahmen, z.B. zur Eindämmung des »brain drain«, denkbar sind. Dies sind die Aufgaben, mit der EG, NATO und KSZE konfrontiert sind – und dies verlangt von ihnen eine grundlegende Neubewertung der Lage, die sich auch in einem Wandel von Aufgabenstellung und Struktur dieser Organisationen niederschlagen müssen.

Anmerkungen

1) Der Artikel basiert außer auf der laufenden Zeitschriftenliteratur vor allem auf Gesprächen, die der Verfasser im Februar 1992 während einer Informationsreise durch die Ukraine, Belarus und Rußland mit Sicherheitspolitikern und Militärs führen konnte. Zurück

2) Die drei baltischen Staaten Estland, Lettland, Litauen haben den Unionsverband ganz verlassen, die Stellung Georgiens im Verhältnis zur GUS ist vorläufig ungeklärt – eine Folge der politischen Wirren in diesem Staat. Zurück

3) Protokol Sovešcanija glav nezavisimych gosudarstv, in: Pravda, 23.12.1991, S.2. Zurück

4) Rešenie glav gosudarstv Sodruestva nezavisimych gosudarstv: O naznacenii Glavnokomandujušcego Ob-edinennymi Vooruennymi Silami Sodruestva, in: Krasnaja Zvezda, 18.2.1992, S.1. Zurück

5) Soglašenie me219du gosudarstvami-ucastnikami Sodruestva nezavisimych gosudarstv o statuse Strategiceskich sil, in: Krasnaja Zvezda, 19.2.1992, S.1, 5. Zurück

6) Vgl. Pravda, 23.12.1991, S.1-2; Diplomaticeskij Vestnik, 1992, Nr. 1, S. 3-10; Krasnaja Zvezda, 18.2.1992, S.1, 3; Krasnaja Zvezda, 19.2.1992, S. 1, 3, 5 Zurück

7) Ukaz Prezidenta Rossijskoj Federacii: O Ministerstve oborony Rossijskoj Federacii i Vooruennych Silach Rossijskoj Federacii, in: Vedomosti S-ezda Narodnych Deputatov Rossijskoj Federacii i Verchovnogo Soveta Rossijskoj Federacii, 1992, Nr.13 st. 678, S.925-926. Zurück

8) Die Entwicklung von paramilitärischen Verbänden vollzieht sich zu rasch als daß vollständige Angaben möglich wären; den Stand von 1991 gibt die Monographie der russisch-amerikanischen Universität wieder: Rossijsko-Amerikanskij Universitet: Vooruennye i voenizirovannye formirovanija v SSSR. Vzgljady. Pozicii. Dokumenty, Moskva 1991; zu den Kosaken vgl. Gehrmann, U.: Das Kosakentum in Rußland zu Beginn der neunziger Jahre: Historische Traditionen und Zukunftsvisionen, Köln, Januar 1992 (= Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien 11). Zurück

Dr. Hans-Henning Schröder, Referent für Sicherheits- und Rüstungspolitik der GUSS-Staaten am Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Köln.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1992/2 Nord-Süd Dialog?, Seite