W&F 1989/2

Sind Militär und Gesellschaft noch vereinbar?

Die Verwundbarkeit entwickelter Industriegesellschaften als sicherheitspolitische Herausforderung

von Gerda Zellentin

Hochentwickelte Industriegesellschaften produzieren die Gefährdung ihrer eigenen Existenz selber. Sowohl im routinemäßigen Produktionsbetrieb als auch bei unvermeidlichen Unfällen generalisieren und normalisieren sie Zerstörungsgewalten, die bislang nur in Kriegen freigesetzt wurden.1

Diese These wird erhärtet durch eine Reihe empirischer Bestandsaufnahmen, die Toxikologen, Radiologen, Genforscher und Informatiker in beiden deutschen Staaten2 in den letzten Jahren vorgelegt haben.

Sie zeigen die ubiquitäre Verwendung lebensgefährdender Stoffe „in Wissenschaft und Technik, Industrie und Landwirtschaft, Gewerbe und Haushalt (auf), ihre lokale, überregionale und globale Verbreitung in Form von Produkten, Verunreinigungen und Produktionsabfällen ... sowie die dabei ablaufenden ... Umwandlungen dieser Substanzen im Stoffwechsel lebender Organismen im Wasser, im Boden und in der Luft in vielfältige, nicht selten noch gefährlichere Folgeprodukte...“3

In diesen Untersuchungen wird deutlich, daß die Freisetzung anthropogener toxischer Stoffe in die Biosphäre Gefahren für das Überleben auf dieser Erde erzeugt, die heute, wie Umfragen zeigen, auch von der Bevölkerung als wahrscheinlicher und berechenbarer veranschlagt werden als die nach wie vor offiziell propagierte militärische „Bedrohung aus dem Osten.“

Diese Gefahren entstehen nicht in erster Linie bei Unfällen; sie sind vielmehr Risiken des normalen Betriebes der Industrie, wo zum Zwecke der Effizienzmaximierung in zunehmendem Maße hochgefährliche A-, B- und C-Stoffe verarbeitet werden.4

Risiken sind auch in die Regelmechanismen entwickelter Industriegesellschaften eingebaut, in die hochkomplexen (zivilen und militärischen) Kommunikationsnetze, Steuerungs- und Kontrollorgane. Die Computerisierung und Automatisierung von Wirtschaft und Verwaltung mit Hilfe neuer Techniken erhöht deren Anfälligkeit für systemwidrige Fremdeinwirkungen. Ein längerer Stromausfall kann ebenso wie ein Hacker-Einbruch in entsprechende Programme zum vollständigen Kollaps gesellschaftlich notwendiger Lenkungsvorgänge führen. Wird auf diese Weise die Versorgung und Entsorgung in Industriegesellschaften lahmgelegt, ist vor allem die städtische Bevölkerung (jedoch nicht nur diese) Kälte und Entbehrung, Verschmutzung und Seuchen ausgesetzt, ohne daß sie sich – wegen fehlender Ersatzverfahren – durch Selbsthilfe aus ihrer Zwangslage befreien könnte.

Die industriegesellschaftliche Arbeitsteilung ist durch die neuen Techniken quasi entlokalisiert, somit dem Zugriff der Bürger entzogen und durch unvermittelte Kooperation schwerlich wiederherzustellen.

Hat bereits ein bloßer Stromausfall kriegsähnliche Folgen, wie G. Knies anschaulich darstellt5, so hätte eine gewaltsame Freisetzung radioaktiver oder chemischer Stoffe Massenvernichtungswirkung. In industriellen Ballungsgebieten käme es zu weiträumigen Vergiftungen, deren Ausmaß wegen der unbekannten Synergien mit anderen Stoffen und klimatischen Faktoren nicht abzuschätzen ist.

Angesichts dieser industriellen Produktion gesellschaftlicher Selbstgefährdung stellt sich die Frage, welche Funktion Militär bzw. militärische Waffengewalt beim Schutz hochverletzlicher Industriegesellschaften haben könnte. Ist das Ziel militärischer Verteidigung, nämlich die Unverletzbarkeit eines Gemeinwesens herzustellen, unter diesen Bedingungen überhaupt zu erreichen?

Evolutionstheoretisch begründete Unvereinbarkeit von Militär und Industriegesellschaft

Ein Rückblick auf die sozialwissenschaftliche Literatur der letzten 150 Jahre zeigt, daß das Verhältnis zwischen militärischer Gewalt und industriellem Wandel bzw. zwischen Industriegesellschaft und Militär bereits in den evolutionstheoretischen Arbeiten von Henri Saint Simon, Auguste Comte, Herbert Spencer, aber auch von Karl Marx und Friedrich Engels sowie von Joseph Schumpeter als tendenziell unvereinbar dargestellt wird. Sie kritisieren die fortschrittshemmende Rolle des bewaffneten Adels ihrer Zeit und verfechten eine gewaltlose Konfliktregelung als die einzig mögliche, mit bürgerlicher Emanzipation und Industrialisierung vereinbare Form der Verteidigung. Gemeinsam ist ihnen die Überzeugung, daß militärische Gewalt aus strukturellen Gründen weder zur Expansion und Aneignung fremder Besitztümer noch zur Erhaltung entwickelter Industriegesellschaften geeignet sei.6 Wegweisend für diese Argumentation sind die Thesen Saint Simons zur gesellschaftlichen Evolution. Sie vollzieht sich, seiner Meinung nach, dergestalt, daß die leistungsorientierte, produktive Klasse (der Industriellen, Wissenschaftler, Banker und Arbeiter) an gesellschaftlicher Bedeutung zunimmt, während die Rolle der unproduktiven privilegierten „parasitären“ Adelskaste, den sozialen Wandel aufhaltend, an gesellschaftlicher Relevanz einbüßt. Dem aristokratischen Anspruch auf das bewaffnete Gewaltmonopol des Staates stellt Saint Simon den sukzessiven Funktionsverlust des Militärischen entgegen. Die Gesellschaft der Zukunft sah er bei groß angelegter Industrialisierung unter wissenschaftlicher Leitung zu materieller Prosperität gelangen, die Krieg und Militär obsolet machen würde.

Die evolutionäre Ablösung militärischer durch „industrielle Tätigkeit“ in drei Stadien gesellschaftlichen Wandels propagiert im Anschluß an St. Simon auch A. Comte. Er billigt dem Militär zu Beginn der Industrialisierung noch zeitweilige gesellschaftliche Funktionen der Verbreitung von „Regelmäßigkeit und Disziplin“7 zu. Im letzten wissenschaftlich-industriellen Stadium des gesellschaftlichen Fortschritts allerdings – das er schon zu seiner Zeit angebrochen sieht – entwickelt sich, nach Comte, eine produktivitätshemmende „Inkompatibilität“ zwischen industrieller Gesellschaft und Militär, die erst durch dessen Funktionsentleerung aufgehoben werden könne. Auch in H. Spencers Evolutionstheorie erscheinen kriegerische, zwangsgeregelte Gesellschaften auf einer Stufe geringer Komplexität. Die strukturell hochdifferenzierte Industriegesellschaft dagegen regelt ihre Güteraneignung durch industrielle Arbeit, Vertragsfreiheit und Warenaustausch, die in kriegerischen Auseinandersetzungen nur gestört werden können.

Bei Marx und Engels ist der Krieg eine Krankheit des Kapitalismus in seiner imperialistischen Phase; die Inkompatibilität zwischen Militär und Gesellschaft entwickelt sich im Endstadium des historisch-materialistischen Übergangs zum Kommunismus.

Hinter allen diesen Unvereinbarkeitsthesen steht die politische Absicht, den Adel mit seiner Verbindung zu Militär und Krieg als fortschrittshemmend zu denunzieren. Seine unzeitgemäßen Werte – Hierarchie, Ehre, Absolutismus und Verschwendung – werden den nur unter friedlichen Bedingungen realisierbaren, der industriellen Funktionsspezialisierung adäquaten bürgerlichen Werte - Gleichheit, Gewinnmaximierung, Parlamentarismus, Sparsamkeit und Individualismus gegenübergestellt.8

Die bleibende Bedeutung der Inkompatibilitätsthesen liegt sowohl in ihrer „richtigen“, sich heute erfüllenden Vorhersage als auch und vor allem in ihrer politischen Handhabung.

Indem die Gesellschaftstheoretiker Militarisierung und Modernisierung als tendenziell unvereinbar erklärten, trugen sie dazu bei, daß die Streitkräfte als starke Bastion aristokratischer Privilegien einem dauerhaften Rechtfertigungszwang ausgesetzt wurden. Die militärischen Funktionen wie z.B. die Aneignung fremder Güter oder die Verhaltensbeeinflussung anderer Staaten wurden in einem gesamtgesellschaftlichen-ökonomischen Kosten-Nutzen-Kalkül verglichen mit den billigeren zivilen Mitteln zum gleichen Zweck. Die fraglose Verfügung über das Gewaltmonopol war damit aufgehoben. Dazu trug außerdem die Entstehung der Massenheere bei. Die für ihre Mobilisierung erforderliche „breite soziale Übereinstimmung über Beginn, Stoßrichtung und Regulierung der potentiellen Folgen von militärischen Aktionen konnte allenfalls noch auf der Basis sich als rein defensiv deklarierender Ideologien erfolgen.“9

Ähnlich wie damals geht es auch heute wieder darum, die evolutionäre Obsoleszens des Militärs sinnfällig zu machen. Die Mittel dazu könnten die gleichen sein: Eine Kosten-Nutzen-Analyse der Verteidigung verwundbarerer Industriegesellschaften, verbunden mit einer dezidierten Enthüllung der "parasitären" Kräfte, die am Militär profitieren.

Der Argumentationszusammenhang wäre allerdings unvollständig dargestellt, ohne die sogenannte Kompatibilitätsthese, die auf der Gegenseite, ausgehend von der Realität, ein Ergänzungsverhältnis zwischen Industriegellschaft und Militär postuliert. Adam Smith, Lorenz von Stein, Werner Sombart und Max Weber legen dar, daß Funktion und Legitimation des Militärs sich im Verlaufe der Industrialisierung und Modernisierung wandeln.

In der Anfangsphase industriegesellschaftlicher Entwicklung wird dem Militär „ein hohes Maß an Funktionalität, Produktivität und Kompatibilität zuerkannt“.10 Industrie und Verwaltung werden nach militärischen Normen und Wertvorstellungen wie Disziplin, Opferbereitschaft, Subordination organisiert, die der Integration des Militärs ebenso dienten wie der der Industriearbeiterschaft. Das Heer als „Mutterschoß der Disziplin überhaupt ... die militärische Disziplin ... das ideale Muster für den modernen kapitalistischen Werkstattbetrieb ...“ wirken allerdings weit über die industrielle Anfangsphase hinaus. Nach Weber geht das „Umsichgreifen der Disziplinierung als eine universelle Erscheinung unaufhaltsam vor sich.“11

Militärische Disziplin wird somit zur Voraussetzung und Bestandsbedingung industrieller Arbeit und Organisation. Dementsprechend ist die Zunahme der Arbeitsproduktivität auch keineswegs ein Zeichen für die Obsoleszens des Militärs. Im Gegenteil: Die Vermehrung der Truppen entspricht der Vermehrung des Kapitals. „Die Größe der Macht des Staates“ hängt von der Heeresgröße ab.12

Trotz eines möglichen anderen Anscheins laufen diese und andere Thesen im Zusammenhang mit der „Rationalisierung“ (Weber) der Gesellschaft bzw. mit dem spätkapitalistischen „Prinzip der Verständigung“ (Sombart) – zu Ende gedacht – ebenfalls auf eine Unvereinbarkeit von Militär und Industriegesellschaft hinaus. Indem die Industrialisierung auch Waffentechnik und Kriegführung erfasst, totalisiert sich die bewaffnete Auseinandersetzung; Krieg wird gegen die Gesellschaft insgesamt als Basis militärischen Potentials geführt.13 Unter den Bedingungen der modernen „Risikogesellschaft“ (Beck) globalisieren sich die Kriegsfolgen zusätzlich: Jeder militärische Angriff hat verheerende Massenvernichtungswirkungen, die durch die Bewegungen in der Biosphäre global verbreitet werden und den Aggressor möglicherweise noch stärker treffen als sein Opfer.

Diese absehbaren Konsequenzen militärischer Modernisierung sprechen wiederum für die Inkompatibilität. Da sie die besonders für Amtsträger schwer nachzuvollziehende Vorstellung „Staat ohne Militär“ beinhaltet, wird sie umgangen mit dem Hinweis auf eine gesellschaftliche Funktionsveränderung des Militärs.

Eine zeitgemäße Theorie des Verhältnisses von Militär und Gesellschaft könnte sich auf beide vorgestellten Ansätze stützen: Im Rahmen eines Phasenmodells industriegesellschaftlichen Wandels ließe sich die Verminderung der gewaltsamen Aktivitäten bei gleichzeitiger gesellschaftlicher Funktionserweiterung der Streitkräfte untersuchen. In diesem Modell würde die Funktion der Güteraneignung und Bedrohung abgelöst von der militärischen Verteidigung des status quo; in der Risikogesellschaft schließlich hätte das Militär hauptsächlich Ordnungs-, Integrations- und Symbolfunktionen, die sich auf die Autonomie des Staates im internationalen System (weniger auf dessen militärische Sicherheit) bezögen.

Industriegesellschaftliche Verwundbarkeit und militärische Verteidigung

Die militärische Funktionalität der Streitkräfte ist im Zuge der wissenschaftlich-technischen Modernisierung der letzten Jahrzehnte in doppelter Hinsicht drastisch gesunken:

  • wegen der Zerstörungsgewalt moderner Waffen, die ihren Einsatz verbietet und
  • wegen der jegliche militärische Einwirkung potenzierenden lebensgefährlichen Industriestoffe und -prozesse. Diese würden, „gezündet“ durch konventionelle Waffen, eine Vernichtungswirkung entfalten, die als „Äquivalent“ zur »mutual assured destruction« (Elmar Schmähling) mit Atomwaffen gelten könnte.

Entspricht diese Beschreibung der Wirklichkeit, dann ist in verwundbaren Industriegesellschaften nur noch eine „vernichtende (militärische) Verteidigung“14 möglich; streng genommen ist jegliche Waffeneinwirkung – ob offensiv oder nach alternativer Konzeption „strukturell angriffsunfähig“ – kontraproduktiv geworden. In synergetischer Verbindung mit den gefährlichen Industriestoffen führt der Kollateralschaden zur Massenvernichtung, die sich jeglicher Berechenbarkeit entzieht. Die NATO hat sich 1983 in Montebello „aus humanen Gründen“ prinzipiell gegen die Unberechenbarkeit und für die örtliche Begrenzbarkeit (d.h. größtmögliche Zielgenauigkeit) von (Atom-) Waffen ausgesprochen. Diese Intention des Beschlusses ginge ohne die Berücksichtigung des industriegesellschaftlichen Risikopotentials verloren.15

Da in den Industriegesellschaften in West und Ost ein ungefähres Gleichgewicht an A-, B- und C- „Minen“ vorhanden ist, könnten die entsprechenden militärischen Waffen vollständig abgerüstet werden. Die Abschreckung bleibt bestehen, weil –- wie auch dem entsprechenden Gutachten für das Töpfer-Ministerium zu entnehmen ist16 – die gefährlichen Industrieanlagen mit den bisher bekannten militärischen Waffen nicht wirksam verteidigt bzw. geschützt werden können. Allein der Versuch einer militärischen Härtung gefährlicher Industrieanlagen müsste eine umfassende Militarisierung der Gesellschaft herbeiführen. Damit wird die Inkompatibilitäts-Theorie um ein neues Argument bereichert: Nicht allein die Aneignung von Gütern und Territorien mit militärischen Mitteln ist im Vergleich zur zivilen Beschaffung zu kostspielig, auch die Verteidigung, ja selbst der Schutz der gefährlichen Anlagen würde den Wohlfahrtseffekt der industriellen Produktion letztlich aufheben. Außerdem müßte selbst die stärkste militärische Sicherung gegen Terroristen, die von innen operieren, unwirksam bleiben. Strategisch gesehen dürfte diese „wechselseitig gesicherte Zerstörung“ beruhend auf einem Mix von konventionellen Waffen und zivilen A-, B- und C-Stoffen ähnliche Auswirkungen haben wie die rein militärische. Wie sich in den 60er und 70er Jahren zeigte, ist diese Konstellation günstig für Entspannung und die Annäherung der (militär) strategischen Konzeptionen beider Seiten. Da jegliche Gefechtsführung in industriell verwundbaren Gebieten zur tödlichen Gefahr für alle Lebewesen wird, ist als Überlebensstrategie nur der „planmäßige Verzicht auf Landesverteidigung“17 möglich. Als Prinzip der »Offenen Stadt« ist er bereits in der Haager Landkriegsordnung verankert. „Das Verbot der Beschießung militärisch nicht verteidigter Städte“ schützte im Zweiten Weltkrieg u.a. die Städte Rom, Brüssel, Konstanz und Bologna vor feindlicher Zerstörung. Die Tschechoslowakei verzichtet 1938 gänzlich auf die Landesverteidigung, um den absehbaren Schäden der militärischen Auseinandersetzung zu entgehen.18

Hat der Krieg als Mittel der Politik endgültig jeden Sinn verloren, ist die Sicherheit entwickelter Industriegesellschaften nur durch nichtmilitärische Verteidigung zu wahren. Ihre vornehmste Aufgabe bestünde darin, Gesellschaft und Industrie weniger verletzbar zu machen und in der Übergangsphase die allseitige Verwundbarkeit zum Anlaß für internationale Kooperation und Gemeinsame Sicherheit zu nehmen.

Ansätze zur umfassenden Sicherheit vor Kriegen und „vernichtender Verteidigung“

Gilt die Überlebensfähigkeit der Bevölkerung als oberster Wert der Sicherheitspolitik, so müssen unter den geschilderten Bedingungen struktureller Kriegsunfähigkeit die gewaltförmigen Schutzfunktionen von Militär und Rüstung durch funktionale zivile Äquivalente ersetzt werden.

Eine zivilisationsverträgliche Verteidigung hätte sich auf umfassende politische, wirtschaftliche und ökologische Sicherheitsvorkehrungen zu stützen, ibs. auf Rüstungsbegrenzung und Abrüstung, Vertrauensbildung und Entspannung sowie auf Kooperationsstrukturen als Pfeiler einer künftigen europäischen Friedensordnung. Wirtschaftliche Sicherheit schützt vor politisch motivierten Eingriffen in den Handelsaustausch, ökologische Sicherheit vor Klimakatastrophen, Umweltkriminalität etc. Hier liegen große Tätigkeitsfelder, die ebenso viele wirtschaftliche Interessen und Arbeitskräfte absorbieren könnten wie die Rüstungsindustrie.

Während dieses Entmilitarisierungsprozesses bleibt die gegenseitige Abschreckung durch die verletzlichen Industrieanlagen zunächst bestehen. Der Abbau des zivilen Massenvernichtungspotentials bedarf einer ökologischen Umgestaltung der Wirtschaft, bei der die gefährlichen Stoffe und Energieträger durch sozial- und umweltverträgliche ersetzt werden. Die west-östliche Kooperation in joint ventures könnte diesen Umbau durch gemeinsame Verifikation in den gefährlichen Anlagen beschleunigen. Bisher allerdings stehen die Zeichen der Zusammenarbeit weiterhin auf quantitativem Wachstum: die mit westlicher Hilfe vorangetriebene Nuklearisierung und Chemisierung der sowjetischen Industrie dient nicht der von M. Gorbatschow propagierten umfassenden Sicherheit; die Verletzlichkeit der Industriegesellschaften in Europa kann dadurch nur potenziert werden.

In beiden deutschen Staaten wurde vorgeschlagen, Sicherheitspolitik und Militärsysteme einer Sozial- und Umweltverträglichkeitsanalyse bzw. einer Technikfolgenabschätzung zu unterziehen.19 Derartige Risikoanalysen erstrecken sich auf die zu erwartenden Folgen, die z.B. ein Waffensystem bei seiner Produktion, Dislozierung, Erprobung und Einsetzung auf Gesellschaft und Umwelt haben könnte. Unter Beteiligung betroffener Bürger werden Militärinteressen mit den Werten der ökologischen, sozialen und verfassungsmäßigen Ordnung in Einklang gebracht; der Verteidigungsauftrag wird also nicht mehr aufgrund militärischer Imperative gerechtfertigt, sondern mit ökologischen Notwendigkeiten abgestimmt.

Angesichts der Widerstände, die in der Bundesrepublik gegen die Implementierung der EG-Richtlinie über eine Umweltverträglichkeitsprüfung bestehen, ist es fraglich, ob unverträgliche Rüstungen und militärische Praktiken aufgrund derartiger Analysen beeinflusst werden könnten. Zumindest aber könnten sie dazu beitragen, daß ein neues Denken über die Sicherheit verletzbarer Gesellschaften publik gemacht würde.

In einem ökologisch aufgeklärten Verhältnis zur Sicherheit könnte auch das Militär mit neuen Aufgaben betraut, auf die Verteidigung der Integrität des Landes im weitesten Sinn umgestellt und schließlich fortschreitend entmilitarisiert werden. Durch Umlenken staatlicher Nachfrage von der Rüstung in die Bereiche regionaler Wirtschafts-, Umwelt- und Entwicklungspolitik (Konversion) ließe sich das Personal im Militärbereich für eine Reihe technologischer Programme zur Rekultivierung der Erde, zum vorsorglichen Schutz des Ökosystems sowie in Katastrophenfällen einsetzen. Nach Berechnungen amerikanischer Institute20 könnten NATO und Warschauer Pakt 1/5 ihrer gegenwärtigen Militärausgaben (ohne »Sicherheitsverlust«), also 140 Milliarden Dollar in der letzten Dekade dieses Jahrhunderts zur Behebung von Umweltzerstörung und Unterentwicklung umwidmen, und zwar ibs. zur Sanierung des Bodens und der Wasserversorgung sowie zur Rekultivierung der Wälder; zur Verringerung des Treibhauseffekts, Verhinderung großer Rodungen sowie für Wiederaufforstungen; für Maßnahmen zur Verlangsamung des Bevölkerungswachstums auf der Erde; für Programme zur Energieeinsparung; zur Entwicklung regenerierbarer Energiequellen, zur Reduzierung der Schulden der Dritten Welt.

Das Militär unter den Bedingungen struktureller Verteidigungsunfähigkeit von Industriegesellschaften

Die Tatsache der hochgradigen Verwundbarkeit von Industriegesellschaften wird von denjenigen, die sie zur Sprache bringen, nicht selten als ein »Sachzwang« zur gewaltverminderten Verteidigung bzw. zur Friedfertigkeit dargestellt. Ein derartiges, aufgrund eindeutiger Eigengesetzlichkeit bestimmtes Handeln ist indessen fragwürdig. Soziale Probleme haben stets mehrere Lösungen. Dies zeigt sich vor allem an der Reaktion von Militär und Industrie. Je deutlicher das Legitimationsdefizit militärischer Sicherheitspolitik, sowie die Dysfunktionalität des Militärs angesichts der industriellen Verwundbarkeit in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden, desto größer sind die Anstrengungen, den letztlich militärauflösenden Tendenzen entgegenzuwirken.

Als ebenso komplexe wie immobile Organisation zeigt das Militär die Tendenz, jeglichen Neuerungen zunächst mit Obstruktion und Widerstand zu begegnen. (Das zeigte sich z.B. beim Übergang von der Kavallerie zur motorisierten Truppe, bei der Einführung einer separaten Luftwaffe, von Flugzeugträgern und atomgetriebenen U-Booten, bei der Ablösung bemannter Bomber durch Raketen etc.) Der Immobilismus wird zusätzlich durch die Militärdoktrinen gestärkt; diese sind kodifizierte Erfahrungen aus vergangenen Kriegen, die stets von Neuem analysiert werden. Eine Änderung der Doktrin in Friedenszeiten, die nicht im "Ernstfall" zu testen ist, führt zu Unsicherheit und Konfusion, zumal wenn sie die Obsoleszens von Waffen postuliert. Steht außerdem die Frage des eigenen Status und Prestiges auf dem Spiel, neigt das Militär dazu, seine Sicherheitsaufgaben zu vernachlässigen.21 In diesem Sinne wird der Öffentlichkeit das lebenswichtige Problem der strukturellen Verteidigungsunfähigkeit vorenthalten.

„Man könnte diese das Gesetz der umgekehrten Bedeutung von Gefahr und institutioneller Wahrnehmung nennen: Je weitreichender, offensichtlicher und unbeherrschbarer Gefahren werden, desto bedeutungsloser sind sie in den Sicherheitsdarstellungen offizieller Instanzen, die alle verfügbaren Instrumente – Expertenurteile, Grenzwerte – nutzen, um die Harmlosigkeit des Gefährlichen zu behaupten und in staatlichen Definitionsmonopolen abzusichern.“22 Ganz in diesem Sinne wird in der Sicherheitspolitik weiterhin so getan, als ginge es um Schutz vor militärischer Bedrohung, als sei militärische Schadensbegrenzung machbar. Dieser Realitätsverzerrung stehen auf der anderen Seite sehr bedeutsame Bemerkungen aus der Bundesregierung über neue Funktionen der Streitkräfte gegenüber. Sie dienen, so heißt es außerhalb der militärischen Strategieumsetzung

  • der Sicherung der Unabhängigkeit und Souveränität bzw. der Verbesserung der Stellung im internationalen System,
  • der Sicherung der nationalstaatlichen Identität und
  • der ökonomischen und sozialen Sicherung des Status der Streitkräfte sowie schließlich im Ost-West-Konflikt
  • der Darstellung der gesellschaftlich-politischen Überlegenheit23.

Werden diese Funktionen verbunden mit den genannten Aufgaben im weltweiten Natur- und Katastrophenschutz so entstehen sinnvolle Möglichkeiten für eine disziplinierte Truppe, sich in Wettbewerb und Kooperation mit anderen nationalen Verbänden zu bewähren24 und den Gefahren der verletzbaren Industriegesellschaften in friedensverträglicher Weise zu begegnen. Es gilt eine Friedenspolitik zu konzipieren, die u.a. die nichtmilitärischen Fähigkeiten der Streitkräfte für eine zivile Gesellschaft nutzbar macht.

Anmerkungen

1 Ulrich Beck, Risikogesellschaft, Ffm 1986, S.7 Zurück

2 Tübinger Kongreß der Naturwissenschaftler v. Dez. 1988 Zurück

3 C. Alsen u. O. Wassermann, Die gesellschaftliche Relevanz der Umwelttoxikologie, IIUG-rep., WZB Berlin, 86-5, S. 28 Zurück

4 Kh. Lohs, Risikopotential Chemie, in: Informationsdienst Wissenschaft und Frieden 1`89, S. 37 ff. Zurück

5 G. Knies, Friedfertigkeit durch zivile Verwundbarkeit, in: S+F 3/1987, S. 205 ff. Zurück

6 vgl. zum folgenden: Gerhard Wachtler (Hrsg.), Militär, Krieg, Gesellschaft. Ffm 1983. Zurück

7 W.R. Vogt, Zivil-militärisches Verhältnis. Stichwort in: E Lippert, G. Wachtler. Frieden. Opladen 1988 Zurück

8 Kurt Lang, Military, in: International Encyclopedia of the Social Sciences 10, S. 307 Zurück

9 Wachtler, a.a.O., S. 16 Zurück

10 Vogt, a.a.O., S. 437-38 Zurück

11 zit. bei Wachtler, a.a.O., S. 108 ff. Zurück

12 a.a.O., S. 74 Zurück

13 K. Knorr, Military Power Potential, in: International Encyclopedia of the Social Sciences, a.a.O., S. 327 Zurück

14 D. Fischer, W. Nolte, J. Öberg, Frieden gewinnen, Freiburg 1987 Zurück

15 A. Mechtersheimer/E. Schmidt-Eenboom, Die strukturelle Nichtverteidigungsmöglichkeit hochindustrieller Länder, Expose, Starnberg, Dez. 1987 Zurück

16 Gutachten für den Bundesumweltminister, Januar 1989 Zurück

17 Fischer u.a., a.a.O., S. 110 Zurück

18 a.a.O. Zurück

19 vgl. hierzu G. Bächler, Friedensfähigkeit von Demokratien. Demokratisierung der Sicherheitspolitik und strukturelle Angriffsunfähigkeit, in: Hamburger Beiträge zur Friedensforschung und Sicherheitspolitik, H. 29 und M. Schmidt u. W. Schwarz, Das gemeinsame Haus Europa, in: IPW-Berichte 9 u. 10/88 Zurück

20 Institute for Resource and Security Studies und Institute for Peace and International Security, Mass. zusammen mit dem World Watch Institute, Wash. DC; zit. in: Informationsdienst Wissenschaft und Frieden 5/88, S. 4 Zurück

21 L.I Radway, Militarism, in: International Encyclopedia of the Social Sciences, a.a.O., S. 301 Zurück

22 U. Beck, Gegengifte, Ffm. 1988, S. 154 Zurück

23 s. der ehemalige Bundesminister der Verteidigung R. Scholz in Die ZEIT v. 7.10.88, S. 8 sowie E. Lippert, U. Schönborn, G. Wachtler, Gesellschaftliche und politische Konsequenzen alternativer Verteidigungskonzepte, in: C. F. v. Weizsäcker (Hrsg.), Die Praxis der defensiven Verteidigung, Hameln 1984, S. 197 Zurück

24 W. Graf Baudissin, Die Kriegsbezogenheit der Bundeswehr in Frage stellen, in: FR v. 17.1.89 Zurück

Dr. Gerda Zellentin ist Hochschullehrerin an der Bergischen Universität Wuppertal im Fach Politische Wissenschaften.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1989/2 Sind Gesellschaft und Militär noch vereinbar, Seite