»Soft-power« gegen Gewalt
Präventive Diplomatie im Streit um Minderheiten und ihre Rechte
von Hanne-Margret Birckenbach
Internationale Gewaltprävention kann funktionieren, sofern Regierungen es wollen. Das ist vielleicht die wichtigste Lehre, die aus den Erfahrungen mit dem Konzept der präventiven Diplomatie in den Konflikten um die Staatsbürgerschaft in Estland und Lettland gezogen werden kann. Nicht, daß eine Lösung für alle Probleme gefunden oder gar die innergesellschaftlichen und internationalen Spannungen beseitigt wären, aber eine Eskalation zur Gewalt wurde verhindert und irreversible Maßnahmen vermieden. Geschaffen wurde eine neue Konfliktformation: Das Verhalten aller Akteure ist kooperativer geworden, Einstellungen und Bewußtseinsformen haben Kompromisse ermöglicht, und die von den Konfliktparteien vertretenen Ziele sind nicht mehr unvereinbar, sondern verhandelbar. Reformen sind möglich geworden. Welchen Bedingungen ist dieser Erfolg zu verdanken und welche Schlußfolgerungen lassen sich daraus ziehen?
Wenn Staatsmänner über Grenzen verhandeln, haben die einzelnen Menschen in der Regel keinen Einfluß darauf, ob sie sich nach einem Ergebnis auf der Seite der Mehrheit oder auf der Seite einer Minderheit befinden. Sie sind Entscheidungen ausgeliefert, die gegenüber den Individuen gleichgültig und willkürlich sind. So erging es auch einem großen Teil der Bevölkerung Estlands und Lettlands, als beide Länder ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion erstritten hatten und ein Teil der EinwohnerInnen nicht als StaatsbürgerInnen anerkannt wurde.
Zwischen dreißig und vierzig Prozent der Bevölkerung sahen sich über Nacht aus der Mehrheitsposition an den Rand des öffentlichen Lebens gedrängt. Ein neuer Typ von Minderheit war entstanden: »Nichtstaatsbürger mit Sonderstatus«. Betroffen sind Personen, die während der sowjetischen Herrschaft als BürgerInnen der Sowjetunion nach Estland und Lettland eingewandert sind sowie deren Nachkommen. Mit ihren Pässen müssen sie sich noch heute als Sowjetbürger ausweisen, also als Bürger eines Staates, der längst nicht mehr existiert. Im Laufe des Jahres 1997 sollen sie allerdings »Fremdenpässe« oder »Nichtstaatsbürger-Pässe« erhalten. Etwa zwei Drittel von ihnen sind russischer Herkunft, der andere Teil besteht aus Menschen, deren Wurzeln in Weißrußland, der Ukraine oder einem anderen baltischen Staat liegen. Eine Einordnung der daraus resultierenden Konflikte in herkömmliche Typologien ist schwer. So viel läßt sich jedoch mit Sicherheit sagen: Um einen »ethnischen Konflikt« handelt es sich nicht. Denn das gemeinsame Merkmal der NichtstaatsbürgerInnen, das zu ihrer politischen Ausgrenzung führt, ist nicht ihre Ethnizität, sondern die Zeit ihrer Zuwanderung.
Das Bild der Mehrheits- und Minderheitenverhältnisse im unabhängigen Estland und Lettland ist in der Tat verwirrend. Die Spaltung geht durch nahezu alle sozialen Gruppen. Die kleine jüdische Gemeinde in Estland zum Beispiel besteht zu etwa fünfzig Prozent aus NichtstaatsbürgerInnen, die kein Estnisch sprechen. Die Spaltung der Gesellschaft spiegelt sich auch in den Familien. So kommt es zum Beispiel im unabhängigen Lettland vor, daß ein Ehepartner lettischer Staatsbürger ist, während der andere in sowjetischer Zeit aus Estland zugezogene Teil NichtstaatsbürgerIn wurde. Da Lettland wie Estland Gesetze verabschiedet hat, die darauf abzielen, in sehr kurzer Zeit aus einem de facto zweisprachigen Land einen einsprachigen Staat mit Lettisch als einziger Nationalsprache zu machen, gehören beide Partner heute einer Sprachminderheit an, denn sie sprechen Russisch als Muttersprache, bis vor kurzem Lingua Franca auch in Estland und Lettland. Weil der eine Partner die lettische Staatsbürgerschaft nicht besitzt, muß er, sofern er es nicht schon kann, lettisch lernen, um eingebürgert zu werden, während der andere Partner auch ohne Kenntnis der lettischen Sprache sich an den Parlamentswahlen beteiligen kann. Viele der Nichtstaatsbürger haben inzwischen die russische Staatsbürgerschaft angenommen und/oder sind nach Rußland emigriert. Aber die Mehrheit beabsichtigt dauerhaft in Estland und Lettland zu bleiben. Gerade unter denen, die die Ziele der Unabhängigkeitsbewegung geteilt haben, ist die Enttäuschung über die politische Entwicklung ständig gewachsen.
Rasch wurden die Nichtstaatsbürger zum Streitpunkt internationaler Politik. Sie selbst müssen ihre Lage als Diskriminierung empfinden. Aus estnischer und lettischer Sicht handelt es sich um eine legitime Entscheidung im Interesse nationaler Sicherheit, aus russischer Sicht dagegen um eine schwere Menschenrechtsverletzung an einer Bevölkerungsgruppe, die russische Staatsbürger werden und nach Rußland einströmen könnten. Denn Rußland hält sich bislang – anders als Estland und Lettland – an die noch vor vollzogener Unabhängigkeit bilateral geschlossenen Abkommen, allen ehemaligen Bürgern nach freier Wahl die Option auf die russische Staatsbürgerschaft oder die des Aufenthaltslandes zu gewähren. Aus internationaler Sicht interessiert vor allem die diesem Streit inhärente Gefahr einer internationalen Destabilisierung.
Völkerrechtlich war, wie der Menschenrechtskommissar der Vereinten Nationen, Ibrahima Fall 1993 feststellte, ein solcher Fall „nicht vorgesehen“. Dennoch fand eine internationale Intervention im Rahmen des völkerrechtlich Zulässigen statt, und sie war erfolgreich. Besonders offensichtlich ist die Wirkung der Kommentare und Empfehlungen von KSZE/OSZE-Organen und des Europarates. Mindestens drei Mal haben sie zu einer Revision von provokativ diskriminierenden Gesetzen geführt, die vom Parlament bereits verabschiedet waren. Nichtsstaatsbürger haben heute Aufenthaltsrechte, Reisemöglichkeiten, können Sozialleistungen beziehen und erhalten eine Arbeitserlaubnis. Sie können sich um eine Einbürgerung bewerben und die Anforderungen an Kenntnis von Sprache und Geschichte wurden für alte und behinderte Menschen herabgesetzt. Auch russischsprachige EinwohnerInnen haben heute vor Gericht das Recht auf einen Dolmetscher. Die Einrichtung eines Runden Tisches zu Fragen der Minderheiten beim estnischen Präsidenten und eines ähnlichen »Rates« beim lettischen Präsidenten wäre nicht ohne internationales Drängen erfolgt. Welche Faktoren haben diese und ähnliche Fortschritte im Detail ermöglicht?
Prozeßhafte Intervention
In der theoretischen Literatur gilt der Zeitpunkt einer Intervention als ein Faktor, der über Erfolg und Mißerfolg entscheidet. Im konkreten Fall hat jedoch niemand entschieden, jetzt sei die Zeit für eine durchgreifende Aktion gekommen. Krisenintervention in Estland und Lettland hat keinen eindeutig identifizierbaren Anfang und besteht nicht aus einem einzigen Akt, sondern erfolgte in unzähligen, nur teilweise koordinierten Einzelschritten, die im Detail nicht bis in ihre Ursprünge zurückverfolgt werden können und an denen ganz unterschiedliche Akteure beteiligt waren. So viel ist jedoch richtig: Internationale Organisationen wurden früh mit dem Konfliktgeschehen in den baltischen Staaten befaßt und zwar bereits zu einer Zeit, als sich die Konflikte um die Staatsbürgerschaft noch im Latenzstadium befanden. Bevor die VN, KSZE/OSZE und schließlich auch der Europarat den Entschluß faßten, die Regie zu übernehmen, lag die Initiative bei transnational agierenden zivilgesellschaftlichen Kräften. Sie kommunizierten mit der baltischen Umweltbewegung, stellten transnational Kommunikation her und mobilisierten das Ausland mit wachsendem Erfolg für die Anliegen der baltischen Unabhängigkeitsbewegungen. Das gelang mit der nachhaltigsten Wirkung in Schweden. »Montagsdemonstrationen«, die in mehreren schwedischen Städten über etwa 75 Wochen durchgehalten wurden, motivierten die Regierung dazu, die Entwicklung der baltischen Republiken zunächst in der UN-Vollversammlung, dann auf dem KSZE-Gipfeltreffen in Paris zu thematisieren. Damit organisierte Schweden zunächst nur die politische Rückendeckung für die Unabhängigkeit der baltischen Staaten und schließlich für den Abzug der sowjetisch-russischen Truppen. Rückblickend gesehen hatte diese Politik aber auch den Effekt, daß die VN und die KSZE sich bereits mit der Entwicklung in Estland und Lettland befaßt und dort Vertrauen erworben hatten, bevor der Konflikt um die Staatsbürgerschaft manifest geworden war. Transnational agierende zivilgesellschaftliche Kräfte hatten also, vermittelt über die Außenpolitik einer Regierung, auf internationaler Ebene eine vorbereitende Phase eingeleitet, die es den internationalen Organisationen ermöglichte, in den manifest gewordenen Staatsbürgerschaftskonflikt einzugreifen.
Arbeitsteilung und Funktionsdifferenzierung
Trotz der hohen Akzeptanz, die auf diese Weise in Estland und Lettland erreicht worden war, hatten die internationalen Organisationen kein leichtes Spiel, die Zustimmung beider Länder dafür zu erhalten, die Tagesordnung mit den Themen »Unabhängigkeit« und »Abzug der russischen Truppen« um das Thema »Staatsbürgerschaft« zu erweitern. Dem Fürsprecher Schweden fiel es – angesichts der im eigenen Land entstandenen Symphatiewelle für das neue Lettland und Estland – schwer, eine kritische Position gegenüber der Staatsbürgerschaftspolitik zu beziehen. So war es Rußland, das – in Übereinstimmung mit den KSZE/OSZE-Mechanismen – die Aktivitäten dieser Institution im Staatsbürgerschaftskonflikt eingeleitet hat. Obwohl die Initiative von einem für Estland und Lettland in Menschenrechtsfragen unglaubwürdigen Land ausgegangen ist, haben beide Länder schließlich zugestimmt, daß sich die KSZE/OSZE mit dem Konflikt befaßt. Daß es zu dieser Einwilligung gekommen ist, belegt, welche politische Bindungskraft die KSZE/OSZE-Mechanismen heute erlangt haben. Sie entlasten die nationale Politik der Mitgliedstaaten vom Druck populistischer Strömungen im eigenen Land, sei es am Ort der Krise, sei es im Ausland. Ähnliches gilt für den Europarat. Seine Befassung mit dem Staatsbürgerschaftskonflikt wurde durch die Aufnahmeanträge Estlands und Lettlands ausgelöst, also dadurch, daß beide Staaten selbst aktiv geworden waren. Auch wenn sie damit nicht beabsichtigten Präventionsmaßnahmen im Staatsbürgerschaftskonflikt einzuleiten, war dies angesichts der vorhandenen Aufnahmemechanismen des Europarates eben doch eine unabdingbare Folge.
Erfolgreiche Konflikttransformation beruht also ganz offensichtlich auf dem Zusammenspiel unabhängiger und unterschiedlicher Akteure, die in unterschiedlichen Phasen eines Konfliktes eigene Rollen übernehmen. Ohne die Nichtregierungsorganisationen, UNO, KSZE/OSZE und Europarat wäre ein vergleichbares Ergebnis sicher nicht erreicht worden, und keine hätte alleine ausgereicht. Aber auch das Konfliktverhalten einzelner Staaten ist bedeutsam, weil es darüber entscheidet, ob es überhaupt zu einem Prozeß der Konfliktintervention durch internationale Organisationen kommen kann. Die Offenheit der schwedischen Regierung für die Anliegen zivilgesellschaftlicher Kräfte, die Fähigkeit als neutrales und an der Region interessiertes Land in der UNO und der KSZE/OSZE ausreichendes Gewicht zu entfalten und kompetent zu agieren, muß ebenso genannt werden, wie die Fähigkeit Rußlands, innenpolitischen Druck über die KSZE/OSZE zu kanalisieren. Auch die Einsicht Estlands und Lettlands, daß es im eigenen Interesse liegt, den Konflikt unter Aufsicht von UNO, KSZE/OSZE und Europarat auszutragen, ist bemerkenswert.
Pluralität der Perspektiven
Im Interesse der Einhegung von Konflikten muß das Vorurteil überwunden werden, Vielfalt und Uneinheitlichkeit internationalen Engagements blockierten Erfolge, und daher sei auf Vereinheitlichung zu drängen. Das Gegenteil ist der Fall, Pluralität hat sich als eine Erfolgsbedingung erwiesen.
Die NATO blieb unbeteiligt, aber die Spannweite der Organisationen, die sich mit jeweils eigenständiger Akzentsetzung am Interventionsprozeß beteiligt haben, ist sehr groß und umfaßt die VN, die KSZE/OSZE, wie den Europarat und die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, ferner Menschenrechtsgruppen wie Helsinki Watch, KSZE-Helsinki-Gruppen, Minority Rights-Gruppen und die Féderation Internationale des Droits de L`Homme. Sie haben verschiedene Erfahrungen und Expertisen und genießen jeweils unterschiedliche Autorität bei unterschiedlichen Akteuren. Diese Pluralität der Perspektiven hat sich als Segen erwiesen. Vor allem hat sie gewährleistet, daß kontroverse Positionen nicht machtpolitisch eliminiert wurden, womit sie der Bearbeitung entzogen wären. Die Vielfalt der Fact-finding-Aktivitäten in Estland und Lettland hinsichtlich der menschenrechtlichen Bewertung der verweigerten Staatsbürgerschaft hat zum Beispiel dazu geführt, daß weder die russische noch die lettische und estnische Position bestätigt wurden. Selbst, wenn die eine oder andere Organisation so unparteiisch nicht sein konnte, wie sie zu sein vorgab, wurde durch die organisatorische Breite des internationalen Engagements auch eine Form von Unparteilichkeit gesichert.
Kontextabhängigkeit von Erfolgen
Stellt man nun zusammen, was im Rahmen der internationalen Organisationen tatsächlich unternommen wurde, um den Staatsbürgerschaftskonflikt zu beeinflussen, so stößt man auf eine Vielfalt von »Soft-power«-Aktivitäten. Alle Organisationen haben Missionen entsandt, Fact-finding betrieben, Briefwechsel und direkte Gespräche mit den Regierungen und Repräsentanten gesellschaftlicher Gruppen geführt, Politiker beraten, Seminare durchgeführt, die Lage erörtert, Diskussionsprozesse beobachtet und Stellungnahmen abgegeben – also dialogorientierte Methoden angewandt, deren Effektivität gemeinhin noch immer wenig Vertrauen findet. Warum konnten sie in beiden Fällen wirksam sein?
Niemand darf erwarten, man könne bei der Intervention in Minderheitenkonflikte in die Trickkiste gewaltfreier Methoden greifen und die Probleme lösten sich von selbst. Ob »Soft-power«-Aktivitäten greifen und welche Kombinationen wirksam sind, ist kontextabhängig. In Estland und Lettland stießen sie auf gesellschaftlicher Ebene auf eine Kultur der Gewaltfreiheit, die sich während der Unabhängigkeitsbewegung, der »singenden Revolution« herausgebildet hatte, und die auch deshalb weiter wirken konnte, weil menschenrechtsorientierte Argumentationsmuster bereits ein wenig eingeübt waren, bevor Rußland sie als Joker ins Feld führte. Diese kulturelle Verankerung ist vor allem eine Leistung der lokalen und transnationalen NRO. Auf politischer Ebene kam der Aufwind hinzu, den internationale Organisationen nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes für das Konzept erfahren haben, Konfliktintervention als Konfliktprävention zu konzipieren. Ihre kompetente Anwendung wurde auch dadurch begünstigt, daß Schweden mit der Außenministerin Margaretha af Ugglas 1992 den Vorsitz im KSZE-Rat übernahm und sowohl das Interesse wie auch die Kompetenz hatte, eine friedliche Entwicklung vor den eigenen Toren zu fördern. Die Angst vor einer Entwicklung nach jugoslawischem Muster war eine weitere Antriebskraft.
Wer also erfolgreiche Krisenintervention in Minderheitenkonflikten ermöglichen will, muß langfristig und umfassend denken, d.h., sich um die innergesellschaftliche und transnationale Verankerung einer Friedenskultur ebenso bemühen wie um eine vorausschauende Außenpolitik. Auch gilt es, internationale Organisationen auf Konflikteskalationen vorzubereiten, die ein Eingreifen erforderlich machen. Dabei spielt die Entwicklung und routinehafte Anwendung solcher Mechanismen eine hervorragende Rolle, die für Parteien auch dann konsensfähig bleiben, wenn sie untereinander in eine Eskalationsspirale geraten.
Problem: Konfliktautonomie
In Estland und Lettland schwärmt man von der EU und der NATO, nicht von den im Staatsbürgerschaftskonflikt engagierten internationalen Organisationen. Sie sind alles andere als beliebt und müssen täglich aufs Neue um ihre Anerkennung kämpfen. Man toleriert ihr Engagement nolens volens, denn es hat sich für alle beteiligten Akteure in je eigener Weise als nützlich erwiesen. Estland und Lettland haben die internationalen Organisationen geholfen, sich gegen Anschuldigungen Rußlands zu verteidigen, indem die Frage der Menschenrechtsverletzung immer erneut geprüft, teilweise zurückgewiesen und insgesamt offen gelassen wurde. Beiden Regierungen haben die internationalen Organisationen als Quelle von Sachverstand gedient, um Gesetze und Institutionen internationalen Standards anzupassen. Auch finanzielle Ressourcen zur Umsetzung von Reformen wurden mit Hilfe der internationalen Organisationen mobilisiert. Rußland haben sie mit ihrem eindeutigen Diktum, eine Rückführung der Nichtstaatsbürger nach Rußland sei eine Illusion, darin innenpolitisch unterstützt, Gerüchte um Vertreibungen oder Ausweisungen zu beenden. Dieses Diktum konnte auch die Nichtstaatsbürger weitgehend beruhigen, zumal viele der erzielten Kompromisse (Aufenthaltsrechte, Arbeitserlaubnis und Sozialfürsorge) für das schwierige Alltagsleben in einer nachkommunistischen Gesellschaft ungleich wichtiger empfunden werden, als die Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechtes. Einzelne westliche Länder wie Schweden, aber auch die Bundesrepublik mit ihren nicht ganz eindeutigen Interessen am »Baltikum«, wurden durch die internationalen Organisationen von innenpolitischem Druck, wie auch von der Erwartung Estlands und Lettlands, entlastet, zum Konflikt um die Staatsbürgerschaft für die beiden Staaten gegen Rußland Partei ergreifen zu müssen. Alle Akteure, die beteiligten Staaten ebenso wie die entstehenden lokalen und transnationalen NRO wurden mit detaillierten und im Prinzip gleichen Informationen versorgt. Das hat Asymmetrien hinsichtlich der Informationszugänge sowie dem Entstehen von politisierbaren Gerüchten entgegengewirkt. Und schließlich diente das Engagement den Organisationen selbst dazu, sich als Präventionsspezialisten zu profilieren, was angesichts der im jugoslawischen Konflikt erlittenen Schmähungen auch dringend erforderlich war. Das gilt vor allem für die KSZE/OSZE.
Wenn das Engagement internationaler Organisationen für alle Akteure so nützlich ist, erhöht sich die Chance, daß sie von allen Seiten in ihrer Arbeit unterstützt werden. Aber es entsteht ein neues Problem, das heute auch in Estland und Lettland zu beobachten ist. Konfliktautonomie in dem Sinne, daß die Parteien ein Interesse daran entwickeln, selbständig ihre Probleme untereinander gütlich zu regeln, wird nicht gefördert, wenn die Beteiligung von »Drittparteien« für die Akteure »zu« nützlich wird. Dann entstehen Interessen daran, sich gleichzeitig vor Eskalation zu schützen und die Spannungen zu erhalten. Was sonst, außer dem Erhalt der Spannungen zwischen den als »Russen« stigmatisierten Nichtstaatsbürgern mit der Mehrheitsbevölkerung, könnte eine so große Aufmerksamkeit in der Welt für kleine Länder wie Estland und Lettland erheischen und gleichzeitig ihre politischen Klassen von dem Druck befreien, in wirklich allgemeinen Wahlen unter schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen zu bestehen?
Langfristigkeit von Engagement und Rückzug
Die Prognose über die Entwicklung beider Konflikte ist optimistisch, was die Chancen betrifft, eine Ausweitung der Konflikte über Estland und Lettland hinaus zu verhindern, verhalten optimistisch, was die Verhinderung einer inneren Eskalation hin zu Gewalthandlungen angeht und wenig optimistisch im Hinblick darauf, daß die zugrunde liegenden Probleme gelöst und der Konflikt friedlich und kreativ beigelegt wird. Im besseren Fall bleibt der Konflikt um die Staatsbürgerschaft dann auf Dauer deshalb erhalten, weil die Akteure den Eindruck gewinnen, daß sich mit ihm gut leben läßt, da die internationale Politik um die Interessen aller besorgt ist. Schlimmer wäre, wenn die erreichten Erfolge verspielt, die gestiegene Reformfähigkeit brachliegen und die Positionen der rivalisierenden Akteure sich erneut verhärten würden.
In der politischen Diskussion um präventive Diplomatie wird heute immer wieder darauf hingewiesen, daß Erfolge an die Bereitschaft zu langfristigem Engagement geknüpft sind, und dieses Argument ist auch sicher richtig. Aber was versteht man unter Langfristigkeit, wie lang ist langfristig? Wann müssen internationale Akteure bereit sein, aus einem Konflikt wieder auszusteigen, wie können sie sich und andere Akteure darauf vorbereiten? Wenn es keinen Anfang internationaler Krisenintervention gibt, gibt es dann ein Ende, wie könnte es eingeleitet werden und aussehen? Wird es eine friedensverträgliche Rückführung der Probleme in die Obhut zivilgesellschaftlicher Kräfte geben? Das müßte ein Ziel der Krisenintervention sein, seine Realisierung ist jedoch bislang nicht zu erkennen. Naturwüchsig wird sie sich nicht ergeben, sie bedarf der politischen Förderung. Ob Estland und Lettland auch Erfolgsbeispiele dafür liefern werden, wie eine solche Förderung auf den Weg gebracht werden kann, ist heute noch vollkommen offen.
Dr. Hanne-Margret Birckenbach ist Privatdozentin an der Universität Bielefeld und Wissenschaftliche Assistentin am Schleswig-Holsteinischen Institut für Friedenswissenschaften (SCHIFF) an der Universität Kiel