W&F 1999/3

Soldatische Identitäten und neue Auftragslage

von Anja Seiffert

Die erweiterte Auftragslage der Bundeswehr und damit die Möglichkeit vor allem für Zeit- und Berufssoldaten, im Ausland eingesetzt zu werden, führt nicht nur zu einer grundlegenden Überprüfung bisheriger Wert- und Normvorstellungen, sondern auch der soldatischen Berufsidentität bzw. des soldatischen Selbstverständnisses. Das Selbstverständnis von Bundeswehrsoldaten war fast vier Jahrzehnte an den sicherheitspolitischen Vorgaben des Ost-West-Konfliktes zum einen und den Auftrag der Friedenssicherung zum anderen gebunden. Mit den veränderten sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen zu Beginn der 90er Jahre befindet sich die Bundeswehr in einem tiefgreifenden Veränderungsprozess, der nicht nur Umfang, Auftrag und Einsatzräume betrifft, sondern auch das soldatische Selbstverständnis nicht unberührt lässt.

Spätestens mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 12. Juli 1994 stand einer Ausweitung von Einsatzoptionen der Bundeswehr auch außerhalb des NATO-Gebietes kaum noch etwas entgegen: Die Bundeswehr kann, so entschieden die Verfassungsrichter, an friedenserhaltenden und friedenssichernden Maßnahmen der UN, KSZE sowie der NATO teilnehmen. Auch die Beteiligung an Kampfeinsätzen im Rahmen des Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen wurden als rechtlich zulässig interpretiert.

Die politische Umorientierung in der bundesdeutschen Außen- und Sicherheitspolitik und damit einhergehend die Erweiterung bzw. Redefinition des Bundeswehrauftrages von der Landes- und Bündnisverteidigung hin zu einer Beteiligung an friedenserhaltenden Einsätzen auch außerhalb des NATO-Gebietes – im Kosovo nun auch an »peace enforcement-Einsätzen«, das heißt an friedenserzwingenden Maßnahmen – zeitigte bzw. zeitigt dabei nicht nur umfassende Umstrukturierungen der Bundeswehr selbst1, sondern schließt auch soldatische Umorientierungen mit ein: Der Soldat der Bundeswehr ist nicht mehr nur, wie noch zu Zeiten des Kalten Krieges, Landes- und Bündnisverteidiger, der die territoriale Integrität der Bundesrepublik und ihrer NATO-Partner im Handlungsrahmen der Abschreckung und Selbstverteidigung wahrt. Neben diesen traditionellen militärischen Aufgaben übernehmen Bundeswehrsoldaten zugleich komplexe Aufgaben als »Konfliktvermittler«, »Konfliktschlichter«, »Ordnungshüter«, »Humanitärer Helfer« etc. in den »Unruheherden« des internationalen Systems mit jeweils steigendem Gefährdungsgrad und wachsenden militärischen Anforderungen: von Kambodscha über Somalia, Bosnien und Herzegowina bis zum Kosovo.

Damit stellen sich eine Reihe von Fragen, die keineswegs nur das Militär betreffen, sondern ebenso politische Relevanz für die Gesamtgesellschaft haben, denn Soldaten sind nicht nur »Funktionsträger«, deren Aufgaben innerhalb eines politischen und sozialen Systems »ausgehandelt« und »verhandelt« werden, sondern ebenso an diesen gesellschaftlichen Verhandlungs- und Aushandlungsprozessen beteiligt.

Politische und soziale Wandlungsprozesse stellen dabei, zumindest forschungsstrategisch, eine günstige Ausgangsposition dar. Ein auch nur teilweises Aufbrechen bisheriger Selbstverständlichkeiten stellt die an dem Wandlungsprozess beteiligten Subjekte vor die Notwendigkeit, sich bisherige Selbstverständlichkeiten und neue Anforderungen zu vergegenwärtigen. Hat der militärische und politische Wandel Konsequenzen für das soldatische Selbstverständnis bzw. die soldatische Berufsidentität? Und wenn ja, wie werden diese veränderten Anforderungen in das soldatische Selbstbild integriert? Sind Verunsicherungen und Brüche zu verzeichnen?

Soldatische Subjektpositionierungen

Beschäftigt man sich mit soldatischer Identität ist es notwendig, sich auch theoretisch mit Fragen der Identität in Gesellschaften, die durch Individualisierungs- und Modernisierungstendenzen und im internationalen Rahmen durch Globalisierungsprozesse gekennzeichnet sind, auseinanderzusetzen. Am Anfang dieser Auseinandersetzung steht zunächst eine Enttäuschung: Eine universelle Identitätskategorie, die fest schreibt, wie und was Soldaten sind, bleibt grundsätzlich in Frage zu stellen. Identitäten sind weder unveränderlich noch widerspruchsfrei oder abschließend definiert. Identitäten sind historisch-spezifische Konstruktionen, die in und durch diskursive Praktiken hergestellt werden (vgl. Butler 1993 und Lorey 1996). Identitäten werden demnach weder anthropologisch noch biologisch verortet, das heißt als wesenhaft begriffen, sondern Identitäten werden innerhalb und durch spezifische gesellschaftliche Bedingungen konstituiert. Identitäten befinden sich damit immer auch in einem Prozess des Herausbildens.

Das, was ein Soldat ist oder wie er sich versteht, ist demzufolge keine faktische Gegebenheit, die ihm als Individuum in Gestalt einer festgelegten Identität innewohnt. Soldatische Berufsidentität ist zum einen Ergebnis einer sozialen Interaktion mit vielfältigsten Akteuren, in der die Subjektpositionierungen immer wieder neu hergestellt werden. Zum anderen verschieben sich soldatische Subjektpositionierungen ebenso wie andere spezifische Positionierungen (wie beispielsweise ethnische oder geschlechtliche) durch die jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse (Clauß 1997 und Hall 1994). Es stellt sich dann auch die Frage, wie soldatische Selbstverhältnisse, durch die sich das Individuum »Soldat« als Subjekt konstituiert, mit den gesellschaftlichen und politischen Diskursen zusammenhängen. Begreift man nun im Sinne konstruktivistischer Ansätze Soldaten sowohl als kompetente Konstrukteure von Wirklichkeit als auch die Konzeption selbst, also das was Soldat-Sein ist und heißt, als soziale und kulturelle Konstruktion, gilt es den Blick für Kriterien, an denen soldatische Zuschreibungen orientiert sind, bzw. die Entstehungsbedingungen soldatischer Subjektpositionierungen zu schärfen.

Individualisierung des Militärs?

Der gesellschaftliche und politische Kontext soldatischer Subjektpositionierungen hat sich in der Bundesrepublik unbestritten in mehrfacher Hinsicht grundlegend verschoben. Angesichts einer sich stetig sowohl sozial als auch kulturell ausdifferenzierenden Gesellschaft lösen sich kollektive Wertvorstellungen zunehmend zugunsten von Selbstentfaltungs- und Selbstverwirklichungsansprüchen auf. Dieser gesellschaftliche Individualisierungsprozess betrifft auch Soldaten: Nicht nur die »Normalbiographie«, sondern auch die soldatische Biographie wird zur »Risiko-Biographie« (Beck 1995: 191). Selbst der Wehrdienst lanciert so beispielsweise von der Gewissens- zur Entscheidungsfrage.

Gesellschaftliche und institutionelle Anforderungen stehen dabei in einem ambivalenten Verhältnis ziviler und militärischer Orientierungen: Zum einen konstituieren Soldaten ihr »Selbst« innerhalb gesellschaftlicher Tendenzen der Desintegration. Zum anderen ist das Militär nach wie vor eine zentrale gesellschaftliche Disziplinarinstitution, die nicht nur maßgeblichen Anteil an der Produktion von gesellschaftlicher Subjektivität hat, sondern Subjektivität normiert, kontrolliert und einhegt. (Seifert 1994: 69f) Die Herstellung kollektiver Disziplin ist im Militär keineswegs untergeordnet, sondern zentrales Moment militärischer Sozialisation.

Die Streitkräfte in modernen Gesellschaften, aber auch der Soldat selbst, geraten angesichts gesellschaftlicher Veränderungen in einen Handlungs- und Begründungszwang denn kollektive Disziplin und kollektive Identität sind zwar gewollt, aber immer schwerer herstellbar. Die Diskrepanz von militärischen und zivilen Wertvorstellungen einerseits und die Existenz komplexer, auch widersprüchlicher und konflikthafter Deutungen militärischer Wert- und Sinnvorstellungen andererseits nehmen zu. Die soldatische Existenz wird deutungsabhängig, gleichwohl unter spezifischen institutionellen Bindungen zu denen auch die soldatische Gehorsamspflicht zählt.

Die Vorstellung eines Soldaten mit spezifischen Normen und Werten im Sinne des »Professional Soldier« (Huntington) ist in individualisierten Gesellschaften zwar nur schwer vorstellbar. Zumindest wäre dieses Szenario gänzlich ungeeignet einen breiten gesellschaftlichen Konsens militärischer Existenz und Handelns zu erzielen. Angesichts des erweiterten Einsatzspektrums der Bundeswehr vergrößert sich jedoch das Dilemma institutioneller und gesellschaftlicher Anforderungen für den Soldaten.

Das Konzept der »Inneren Führung«, mit realem Bezug zu gesamtgesellschaftlichen Wert- und Normvorstellungen, gilt der Bundeswehr nach wie vor als Orientierungsrahmen soldatischen Handelns. Die »Innere Führung« berührt dabei nicht nur die Bindung militärischer Wert- und Normvorstellungen an das Grundgesetz und damit auch das Verständnis des Verhältnisses von Militär und Gesellschaft als konvergentes, sondern zentral ist in ihr auch die Konzeption des Soldaten. Der »Staatsbürger in Uniform« als Versöhnung von »Bürger« und »Soldat« konzipiert, zielt auf eine Demokratisierung der Streitkräfte und gilt für den Soldaten als Identifikationsfolie. Allein so einfach ist es nicht. Schon heißt es: „Das Zeitalter des Bürgers in Uniform … ist vorbei.“ (Die Welt 4.5.1999). Vor dem Hintergrund des erweiterten Aufgabenspektrums kann es nicht verwundern, wenn gebrochene Deutungsmuster des »Staatsbürgers in Uniform« existieren. Auszuschließen ist im Mindesten nicht, dass sich der Soldat im Einsatz als Bezugspunkt soldatischer Orientierungen mit zunehmenden Einsatzerfahrungen mehr und mehr herauskristallisiert. Der Konzeption des »Staatsbürgers in Uniform« muss das Augenmerk gelten. Es wird leicht vergessen, dass Prägungen und Identitäten in den monatelangen Einsätzen erzielt werden. Im Besonderen gilt dies für die Vorstellungen von Disziplin. Die Annahme, eine Einsatzsituation sei nicht vergleichbar mit einer »Armee im Frieden«, kann nur allzu leicht dazu führen, dass die militärische Praxis von Befehl und Gehorsam in den Vordergrund rückt und zivile Wertorientierungen zurücktreten.

Im Spannungsfeld militärischer und ziviler Aufgaben

Die gesellschaftliche Entwicklung wird darüber hinaus durch einen umfassenden Wandlungs- und Transformationsprozess der Streitkräfte in westlichen Gesellschaften ergänzt. Damit einher geht nicht nur ein Bedeutungsverlust der Rolle von Streitkräften in der Gesellschaft, sondern auch eine Veränderung der strukturellen Organisation der Streitkräfte. In der sozialwissenschaftlichen Forschung über das Militär wird inzwischen die Auffassung geteilt, dass im Zuge des sozio-ökonomischen Wandels das hochtechnisierte Militär sich zunehmend zivilen Organisationsformen annähert und das Ende der Massenarmeen diesen Prozess dynamisch vorantreibt (Moskos, 1992).

Die Bürokratisierung des Militärs hat nicht nur Auswirkungen auf die Institution selbst, sondern auch auf die Anforderungen an das Selbstverständnis der soldatischen Profession: „Denn die gestiegene waffentechnologische Komplexität und die geostrategische Situation der Nachkriegszeit drängen den militärischen Profi geradezu in die Rolle des Politikberaters.“ (Haltiner, 1996: 5) Der Soldat als »Politikberater« und als »Konstabler« (Janowitz), der Konflikte zu schlichten und zu deeskalieren sucht, die Verhältnismäßigkeit der Mittel als Grundsatz verinnerlicht hat und polizeiliche Ordnungsfunktionen ausübt, kristallisiert sich realiter als soldatisches Leitbild heraus. Militärische Abschreckungs- und Kampfaufgaben sind nach wie vor zentral, hinzu kommen jedoch zunehmend intervenierende und ordnende Funktionen. Der Soldat übt sich nun, so könnte formuliert werden, an den Maximen der Friedenswahrung und Friedensherstellung. Die Funktionserweiterung soldatischen Handelns fasst Linnenkamp zusammen: „Soldaten werden immer häufiger nicht, wie in der ganzen Geschichte bisher, als notwendigerweise gewaltbereite Partei auftreten, sondern als Partner der Zivilbevölkerung, Kooperationsinstrument für Nichtregierungsorganisationen, neutrale Vermittler zwischen sich gegenüberstehenden Parteien und schließlich als Gäste in fremden Ländern.“ (Linnenkamp, 1997: 168)

Der »Prozess der Zivilisierung« des Militärs und die Erweiterung des Aufgabenspektrums führen jedoch nicht dazu, dass der militärische Charakter der soldatischen Profession gänzlich aufgelöst wird. Die Zielsetzung des Militärs der Gewaltandrohung und -ausübung, »des Management of Violence« (Moskos) im Interesse eines Staates oder Bündnisses bleibt letztlich als genuin militärische Handlungsmaxime bestehen. Unabhängig davon, ob militärische Gewaltanwendung die Ausnahme und Polizeieinsätze die Regel sind. Der moralische bzw. ethische Aspekt ist auch dann existent wenn Streitkräfte neben militärischen ebenso (welt)-polizeiliche Aufgaben übernehmen. In der Komplementarität militärischer und ziviler Fähigkeiten sieht dann auch General Naumann die zukünftigen Anforderungen an den Soldaten: „Vom Verhalten des einzelnen Soldaten, von der Fähigkeit der Offiziere und Unteroffiziere in den unterschiedlichsten Konfliktsituationen zu handeln, hängt vielfach der Erfolg von Friedensmissionen ab. Zu begreifen, dass aus dem Kämpfer mit Ende der Kampfhandlungen der gefechtsbereite »miles protector«, der schützende Soldat wird, stellt hohe Anforderungen an die Fähigkeit als Führer, Ausbilder und Erzieher.“2 Soldatische Orientierungssicherheit sieht sich im Zuge der Aufgabenerweiterung einer enormen Belastung ausgesetzt. Auf der einen Seite steht der Soldat unter dem Erwartungsdruck sich im Sinne sozialer und kultureller Kompetenz zu zivilisieren. Auf der anderen Seite erfordern die Umstände, die herkömmlichen »war fighting capabilities« uneingeschränkt beizubehalten.

Im Spannungsverhältnis von »Kämpfer« und »polizeilicher Konfliktmanager« gilt es schließlich das soldatische Selbstverständnis zu lokalisieren. Der Soldat der Zukunft hat nicht nur die militärischen Fertigkeiten zu beherrschen, sondern muss darüber hinaus über umfassende soziale und kulturelle Kompetenzen verfügen. Eine Beschränkung soldatischer Kompetenz im Sinne traditioneller soldatischer Kämpfervorstellungen dürfte angesichts gesellschaftlicher Veränderungen und der erweiterten Aufgaben geradezu kontraproduktiv sein.

Indes unproblematisch ist diese spannungsgeladene soldatische Berufsidentität nicht. Haas und Kernic haben in ihrer Untersuchung über österreichische UN-Soldaten sowohl das Selbstverständnis des typischen Soldaten im Einsatz als auch die Risiken von Einsätzen für das Selbstverständnis der soldatischen Profession konkretisiert. Dieser Soldat ist familiär eher ungebunden und in seinem Heimatland sozial schwach verwurzelt. Er hat mit der militärischen Hierarchie und den oft auch primitiven Lebensbedingungen im Einsatz eher geringe Probleme. Der finanzielle Anreiz spielt darüber hinaus für eine Freiwilligenmeldung eine nicht untergeordnete Stellung. Haas und Kernic kommen dann auch zu dem Schluss: „Jeder Entsendestaat hat sich letztlich die Frage zu stellen, welchen Menschentypus er eigentlich für eine bestimmte UN-Mission möchte.“ (Kernic, 1998: 80) Dies gilt auch für die Bundeswehr. Besteht doch die Möglichkeit, dass sich mit zunehmenden Einsatzoptionen und Verwendungen ein »Einsatz-Profi« herauskristallisiert, der auf den Einsatz spezialisiert und dessen Selbstverständnis am Soldaten im Einsatz orientiert ist.

Der soldatische Bezugsrahmen verschiebt sich angesichts der erweiterten Aufgaben darüber hinaus in einem nicht minder zentralen Aspekt des soldatischen Selbstverständnisses. Die Landesverteidigung ist nach wie vor politisch und moralisch zwar legitimiert. In der globalen sicherheitspolitischen Landschaft kann sie aber zumindest für die westeuropäischen Staaten als nicht wahrscheinlich gelten. Der Dienst im Einsatz, der abstraktere Ziele der Stabilität und Sicherheit in anderen Regionen und Ländern im Blick hat, bildet inzwischen vielmehr die Basis soldatischer Legitimitätsanforderungen. Dies bedingt geradezu ein verändertes Selbstverständnis das nicht begrenzt ist auf die Verpflichtung gegenüber Staat und Vaterland, sondern basiert „auf einer Art humanitären Kosmopolitismus, der nationalen Interessen nicht widerspricht, sondern sie übersteigt“. (Bredow/Kümmel, 1999) Die Frage der Legitimität eines Einsatzes führt dann auch in das Zentrum soldatischen Selbstverständnisses. Ein soldatisches Selbstverständnis als »Gewaltexperte« oder ein unpolitisches Verständnis der soldatischen Profession, in denen Sinn und Zweck eines Einsatzes unhinterfragt akzeptiert werden, sind wenig hinreichend. Die erweiterten Aufgaben erfordern vielmehr komplexe Deutungen der Sinnfrage eines Einsatzes für das Selbstbild, geht es doch nicht um die Möglichkeiten militärischer Verwendung, sondern um die ethisch-moralische Dimension militärischer Profession.

Wohin geht die Bundeswehr?

Die Bundeswehr wird nach dem Ost-West-Konflikt nicht nur restrukturiert und reduziert, sondern auch in den internationalen Rahmen multinationaler Interventionsoptionen eingepasst.3 Dabei ist keineswegs geklärt wie die Zukunft der Bundeswehr aussieht. Bislang sind die Fragen, wofür die Bundeswehr steht und wohin sie geht, nicht ausreichend beantwortet. Die Bundeswehr hat ihre erweiterten Aufgaben bisher in einem Provisorium geleistet. Obwohl Bundesverteidigungsminister Scharping betont, „Die Bundeswehr ist kein weltweites Interventionsinstrument. Sie soll es auch nie werden.“4, werden die Krisenreaktionseinsätze zukünftig das Aufgabenspektrum der Bundeswehr bestimmen. Darauf haben sich auch die Soldaten eingestellt. Handlungs- und Planungssicherheit für den Einzelnen besteht angsichts finanzieller Engpässe und weiteren Umstrukturierungen jedoch nicht. Die Aufstellung der professionalisierten und materiell lancierten Krisenreaktionskräfte reicht für die Anforderungen einer modernen Bündnisarmee kaum aus. Auch existiert bisher eine Gesamtkonzeption für deutsche Außen- und Sicherheitspolitik und deren Ziele und Interessen nur rudimentär. Die von Scharping eingeforderte „gemeinsame europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität“ bleibt als zentrale Vorgabe für die Ausrichtung der Bundeswehr und des soldatischen Selbstverständnisses ebenso undeutlich wie ein gesellschaftlicher Konsens: Zwischen der Überzeugung, die Bundeswehr sei ein politisches Instrument im Rahmen der europäischen Krisenbewältigung oder ein weltweite Interventionsinstrument im Rahmen der NATO, liegen nicht nur Welten, sondern es besteht auch Entscheidungsbedarf. Schließlich bleibt abzuwarten, inwiefern der Auftrag die Struktur der Bundeswehr bestimmen wird. Die Bundeswehr wird jedoch, ebenso wie die Armeen anderer westeuropäischer Länder, die auf die veränderte sicherheitspolitische Lage mit der Aussetzung der Wehrpflicht reagiert haben, nicht umhin kommen, den beschrittenen Weg zu einer deutlich verringerten, professionalisierten und spezialisierten Armee weiter zu gehen.

Inwieweit am Ende dieses Prozesses der Internationalisierung der Streitkräfte die Funktionserweiterung noch weiter zunimmt oder eine verstärkte Spezialisierung und Multinationalsierung steht, könnte für das soldatische Selbstverständnis dann die zentrale Frage werden. Unabhängig davon, gehen die strukturellen Umbauten der Bundeswehr und die Einsatzszenarien nicht spurlos am Soldaten vorbei. Die »Innere Führung« steht zweifelsfrei vor großen Herausforderungen. Es bleibt abzuwarten, inwiefern sich diese bundeswehrspezifische Führungsphilosophie in den multinationalen Einsätzen als gültig erweist und der »Weltbürger in Uniform« sich tatsächlich als Orientierungs- und Identifikationsfolie für das künftige soldatische Selbstbild der Bundeswehr darstellt.

Literatur:

Beck, Ulrich (1995): Die »Individualisierungsdebatte«, in: Schäfers, Bernhard (Hrsg.): Soziologie in Deutschland, Opladen.

Bennington, Geoffrey (1994): Jaques Derrida. Ein Portrait, Frankfurt/Main.

Bredow von, Wilfried/Kümmel, Gerhard (1999): Das Militär und die Herausforderungen globaler Sicherheit: Der Spagat zwischen traditionellen und nicht-traditionellen Rollen. SOWI-Arbeitspapier i.E.

Butler, Judith (1996): Kontingente Grundlagen. Der Feminismus und die Frage der »Postmoderne«, in: Benhabib, Seyla/Butler, Judith/Cornell, Drucilla und Fraser, Nancy: Der Streit um Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart, Frankfurt/M., S. 31-35.

Clauß, Sonja (1997): Die Ambivalenz der Ordnung, in: Bardsmann, Theodor M.(Hrsg.): Zirkuläre Positionen. Konstruktivismus als praktische Theorie, Opladen, S.129-134.

Hall, Stuart (1994): Alte und neue Identitäten, alte und neue Ethnizitäten, in: Hall, Stuart: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, Hamburg, S.66-88.

Haltiner, Karl (1996): Militär: Sonderfall oder Organisation wie jede andere auch?, in: Allgemeine Schweizerische Militärzeitschrift (11) November.

Haas, Harald/Kernic, Franz (1998): Zur Soziologie von UN-Peacekeeping-Einsätzen. Ergebnisse sozialempirischer Erhebungen bei österreichischen UN-Kontingenten, Baden-Baden.

Linenkamp, Hilmar (1997): Neue Aufgaben der Bundeswehr – alte Ausbildung?, in: Sicherheit und Frieden, 3/1997, S.166-171.

Lorey, Isabell (1996): Immer Ärger mit dem Subjekt. Theoretische und politische Konsequenzen eines juridischen Machtmodells: Judith Butler, Tübingen.

Moskos, Charles (1992): Armed Forces in a Warless Society, in: Kuhlmann/Dandecker (Hrsg.): Armed Forces After The Cold War, Forum International (13), München.

Seifert, Ruth (1996): Militär – Kultur – Identität. Individualisierung, Geschlechterverhältnis und die soziale Konstruktion des Soldaten, Bremen.

Anmerkungen

1) Der Modernisierungs- und Umstrukturierungsprozess der Bundeswehr für die neuen Aufgaben im internationalen Rahmen ist dabei weit gefasst: Auftrag, Umfang, Wehrform, Ausbildung und Ausrüstung der Bundeswehr stehen zur Disposition. Ob es allerdings zu einer grundlegenden Streitkräftereform kommt, bleibt abzuwarten: Derzeit ist eine Aussetzung bzw. Abschaffung der Wehrpflicht noch nicht absehbar, gleichwohl wissen Soldaten und VerteidigungspolitikerInnen aller Parteien, dass die Streitkräfte in ihrer jetzigen Struktur auf die erweiterten Aufgaben nur ungenügend vorbereitet sind. Angesichts von Haushaltsdefiziten und neue Einsatzoptionen der Bundeswehr ist es dann auch fraglich, ob die an die Landesverteidigung gebundene Wehrpflicht überhaupt aufrecht erhalten werden kann.

2) General Klaus Naumann, ehemaliger Vorsitzender des Militärausschusses der NATO, in: Truppenpraxis/Wehrausbildung, 5/1999, S.308-312.

3) Hierzu zählen u.a. die Aufstellung eines Deutsch-Dänisch-Polnischen Korps, die Umwandlung des Eurokorps in ein »Rapid-Reaction-Corps«, das Kommando Spzialkräfte (KSK) und die von der Regierungskoalition zugesicherte 5.000 Mann starke »Stand-by-Truppe« für UN-Einsätze.

4) Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping, in: Süddeutsche Zeitung, 16.3.1999.

Anja Seiffert ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr in Strausberg und arbeitet im Rahmen des Forschungsprojektes »Soldatisches Selbstverständnis. Sozialwissenschaftliche Begleituntersuchung des Auslandseinsatzes der Bundeswehr (5. GECON SFOR(L))«

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1999/3 Tödliche Bilanz, Seite