W&F 2012/1

„Some activities may still be ongoing…“

von Jan van Aken

Seit acht Jahren veröffentlicht die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO) Berichte über den Stand des iranischen Nuklearprogramms. Selten aber hat ein Bericht solche Wellen geschlagen wie der vom 8. November 2011. Israels Präsident Schimon Peres äußerte angesichts des neuen Reports, dass ein Angriff auf die iranischen Atomanlagen „immer wahrscheinlicher“ werde. In den USA begeisterten sich Politiker wie Newt Gingrich oder Mitt Romney, Präsidentschaftskandidaten der Republikaner, in der Folge für den »regime change« in Teheran.

Bei harten Worten blieb es nicht. US-Präsident Obama setzte neue Sanktionen in Kraft, die insbesondere auf die iranische Zentralbank und damit auf den iranischen Außenhandel zielen. Die Regierung in Teheran antwortete mit Muskelspielen. In einem groß angelegten Manöver simulierte sie die Sperrung der Straße von Hormus und testete Mittelstreckenraketen. Der Konflikt um das iranische Nuklearprogramm hat seit der Präsidentschaft von George W. Bush eine solche Zuspitzung nicht mehr erlebt.

Was also beinhaltet der Bericht der IAEO genau? Die Wiener Behörde erklärt in ihrer Untersuchung, dass Iran wahrscheinlich bis 2003 ein Programm zum Bau von Atomwaffen betrieben habe. Über die Zeit danach schreibt die Behörde jedoch selbst, dass es nur wenig konkrete Hinweise gäbe, und kommt zu dem vagen Schluss, dass einige Aktivitäten aus dem Programm möglicherweise fortgeführt werden („some activities may still be ongoing“).

Der Bericht der IAEO fordert eine genaue Lektüre. Seitdem die Leitung der Behörde von Mohammed ElBaradei auf den Japaner Yukiya Amano, dem erklärten Favoriten der USA und Frankreichs, übergegangen ist, hat sich die Berichterstattung der IAEO Schritt für Schritt verschärft. Der im November erschienene Bericht stellt nun den vorläufigen Höhepunkt des neuen Tonfalls dar.

Betrachten wir zunächst die Angaben der IAEO für den Zeitraum nach 2003. Dort finden sich genau drei Hinweise auf mögliche waffenrelevante Aktivitäten. Zum ersten eine Veröffentlichung über so genannte »bridge wire detonators« auf einem internationalen Kongress im Jahr 2005. Die internationale Veröffentlichung ist nicht wirklich mit einem streng geheimen Programm vereinbar. Meine Vermutung wäre, dass hier Ergebnisse aus der Zeit vor 2003, aus dem damaligen geheimen Atomprogramm, publiziert wurden – ein Muster, das wir auch aus anderen Waffenprogrammen kennen. So publizierten russische Biologen Mitte der 1990er Jahre Forschungsergebnisse, die ganz offensichtlich aus dem 1992 eingestellten Biowaffenprogramm der Sowjetunion stammten. Insofern ist die Publikation über »bridge wire detonators« 2005 eher ein Hinweis darauf, dass es 2005 eben kein aktives geheimes Programm auf diesem Gebiet mehr gab.

Bleiben im aktuellen IAEA-Bericht also noch zwei weitere Hinweise: Der Iran habe nach 2006 an Neutronenquellen gearbeitet und in den Jahren 2008/2009 Modellstudien an kugelförmigen Urankomponenten durchgeführt. Die Quelle: „Informationen von Mitgliedsstaaten“, im Klartext also nationale Geheimdienste.

Nun wissen wir, dass Hinweise nationaler Geheimdienste mit Vorsicht zu genießen sind. Das Wesen von Geheimdienstinformationen ist, dass sie außerhalb der Dienste meist nicht unabhängig überprüfbar sind. Sie können richtig oder falsch sein, Skepsis ist darum angebracht. Eine UN-Organisation wie die IAEO darf eine Hypothese über mögliche Atomwaffenaktivitäten eines Staates jedenfalls nicht allein auf solche Quellen stützen. Als Sprachrohr von Geheimdiensten diskreditiert sie sich selbst.

Für die Zeit vor 2003 ist die Quellenlage dichter. Sowohl die Angaben im Bericht als auch die Informationen, die ich bei einem Besuch der IAEO im August vergangenen Jahres erhalten habe, legen den Schuss nahe, dass Iran bis 2003 womöglich an der Entwicklung eines atomaren Sprengkopfs gearbeitet hat. Die IAEO ist sich dessen sicher. Ihre Annahme basiert auf einer Reihe von Quellen. Wichtigste hiervon sind die so genannten »alleged studies«, die der Behörde im Jahr 2005 von einem westlichen Geheimdienst zugespielt wurden. Zu den Informationen zählt beispielsweise, dass Iran an einem neuen Sprengkopftyp für die Mittelstreckenrakete Shahab-3 sowie an einem System zur Explosion des Sprengkopfs in der Luft über dem Ziel gearbeitet habe. Neben dieser Quelle hat die Behörde weitere Geheimdiensterkenntnisse ausgewertet, Untersuchungen vor Ort durchgeführt, mutmaßliche Mitarbeiter des Programms interviewt und offene Quellen wie Satellitenbilder herangezogen. Insgesamt scheint sich ein feinmaschiges und recht glaubwürdiges Bild vom iranischen Nuklearprogramm bis 2003 zu ergeben.

Nichtsdestotrotz fehlt es auch nicht an Kritik für die Einschätzung für den Zeitraum vor 2003. So stellt Robert Kelley, selbst ehemaliger Inspekteur der IAEO, die Glaubwürdigkeit der »alleged studies« in Frage. Gegenüber der Zeitschrift »Christian Science Monitor« äußerte Kelley, der die Unterlagen begutachten konnte, dass es sich bei den Dokumenten durchaus um Fälschungen handeln könnte.

Geheimdienstinformationen, scheinbar belastbare Beweise, gedankliche Schnellschüsse und Säbelrasseln: Vieles erinnert an den Vorabend des amerikanischen Einmarschs in Irak. Betrachten wir die aktuelle Diskussion über das iranische Nuklearprogramm, gilt es sich immer an den Auftritt des damaligen US-Außenministers Colin Powells vor dem UN-Sicherheitsrat im Jahr 2003 zu erinnern. Mit einer farbenfrohen Dia-Show suchte er die Existenz eines irakischen Biowaffenprogramms zu beweisen. Auch seine Ausführungen basierten auf »zuverlässigen« Geheimdienstinformationen. Powells Auftritt überzeugte viele, die Zahl der Unterstützer der amerikanischen Aggression wuchs. Nach dem Einmarsch und dem Sturz Husseins blieb von Powells Behauptungen nichts übrig. Weder ließ der irakische Diktator wie behauptet irgendwo zwischen Euphrat und Tigris mobile Waffenlabore rollen, noch arbeitete irgendjemand in Irak an der Herstellung von Pockenviren. Die Geheimdienstinformationen stellten sich allesamt als falsch oder als falsch interpretiert heraus. Aber der Kriegsgrund war in der Welt.

Dies alles heißt nicht, dass das iranische Atomprogramm über allen Zweifel erhaben ist. Als Beispiel mag hierfür die Urananreicherungsanlage in Fordo nahe Qom dienen. In der unterirdischen Anlage finden gerade einmal 3.000 Zentrifugen Platz. Damit lässt sich Uran in der für ein ziviles Atomprogramm benötigten Menge nicht anreichern. Neben der Frage nach dem Zweck schürt auch der Bekanntmachungszeitpunkt des Fordo-Baus Misstrauen. Iran informierte die IAEO über die Anlage erst, als die Veröffentlichung des bis dato geheimen Baus durch westliche Regierungen kurz bevorstand.

Über die Frage, ob Iran juristisch verpflichtet war, der IAEO bereits zu diesem Zeitpunkt über die Errichtung der Anlage Auskunft zu erteilen, streiten die Wiener Behörde und Teheran. Politisch gesehen ist jedoch klar: Iran hätte hier transparenter sein müssen.

Der juristische Disput über den Bekanntmachungszeitpunkt entzündet sich an Abschnitt 3.1. der allgemeinen Bestimmungen in den ergänzenden Abmachungen zum Sicherungsabkommen, (Code 3.1 Subsidiary Arrangements General Part of Iran’s Safeguards Agreement), welches zwischen dem Iran und der IAEO 1974 vereinbart wurde und 1976 in Kraft trat. Code 3.1 sah ursprünglich vor, dass die Wiener Behörde 180 Tage, bevor nukleares Material in eine Atomanlage gebracht wird, vom jeweiligen Staat über die Existenz dieser Anlage zu informieren ist. Vor dem Hintergrund der Aufdeckung des irakischen Atomwaffenprogramms im Jahr 1991 modifizierte die IAEO Code 3.1 dahingehend, dass eine Unterrichtung unmittelbar nach der Entscheidung für die Errichtung einer Atomanlage zu erfolgen hat. Iran hat im Gegensatz zu allen anderen von der Modifizierung betroffenen Staaten diese Änderung nicht ratifiziert.

Ähnlich verhält es sich mit dem Zusatzprotokoll zum Sicherungsabkommen zwischen IAEO und Iran. Auch dieses entstand als Lehre aus dem irakischen Atomwaffenprogramm. Das Protokoll erweitert die Rechte der IAEO bei der Überwachung eines Nuklearprogramms erheblich und erlaubt u.a. unangemeldete Inspektionen. Iran hat das Zusatzprotokoll im Jahr 2003 unterschrieben, allerdings bis heute nicht ratifiziert. Den Inspekteuren der IAEO fehlen daher heute entscheidende Informations- und Inspektionsrechte.

Der Konflikt um das iranische Nuklearprogramm ist also festgefahren. Beide Seiten verfolgen aktuell eine Politik der Stärke. Während der Westen auf eine verschärfte Sanktionspolitik setzt, zeigt Iran militärische Stärke und präsentiert neue atomare Errungenschaften. Bewegung ist bis zum nächsten Jahr unwahrscheinlich. Sowohl in den USA (Ende 2012) als auch in Iran (Mitte 2013) wird ein neuer Präsident gewählt. Konzessionen sind in Wahlkampfzeiten nicht zu erwarten. Im Gegenteil: Es ist zu befürchten, dass die Fronten sich weiter verhärten. In beiden Wahlkämpfen – in stärkeren Maße gilt dies für den iranischen – dürften sich die Kandidaten auf Positionen festlegen, die ihnen später den Raum für Kompromisse nehmen.

Dramatisch ist dabei, dass Zeit in diesem Konflikt mittlerweile ein knappes Gut ist. Die Sanktionsspirale lässt sich nicht unbegrenzt weiterdrehen. Gleichzeitig schreitet die Entwicklung des iranischen Nuklearprogramms voran. Ob Iran tatsächlich den Bau einer Atombombe anstrebt oder nicht, allein die Fortentwicklung des zivilen Programms bringt Teheran näher an die Schwelle zur Atomwaffenfähigkeit.

Ob sich nach den Präsidentschaftswahlen eine Chance für eine Lösung ergibt oder sich die Lage durch die Personen der Amtsinhaber und die bis dahin vorangeschrittene Entwicklung bis hin zur Gefahr einer militärischen Auseinandersetzung verschärft: Den Berichten der IAEO wird weiterhin eine bedeutende Rolle zu kommen. Sie haben das Potential, den Konflikt zu versachlichen oder zu verschärfen. Die IAEO ist daher verpflichtet, äußerst kritisch mit den ihr von Geheimdiensten zugespielten Informationen umzugehen, nüchtern zu urteilen und mutwilligen Interpretationen ihrer Befunde entschieden und öffentlich entgegenzutreten. Momentan tut sie dies nicht.

An diesem Gastkommentar hat Alexander Lurz mitgewirkt. Jan van Aken ist Mitglied des Deutschen Bundestages, Fraktion DIE LINKE.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2012/1 Schafft Recht Frieden?, Seite 5–6