Spiel´s nicht nochmal, Henry! Thesen zur amerikanischen Außenpolitik nach Reykjavik
von Bernd Greiner
Es lohnt sich eben doch, die Klassiker zu lesen. Sie lassen Illusionen erst gar nicht aufkommen und ersparen manche herbe Enttäuschung. Wer heute die Klassiker außenpolitischer Meinungsbildung – „Foreign Affairs“, „Foreign Policy“ und die diversen Publikationen das Council of Foreign Relations – aufschlägt, wird sich hüten, vorschnell die Totenglocken das Reaganismus zu läuten. Wer heute den Weg der „alten Elite“, allen voran Henry Kissingers, verfolgt, wird an der These vom bevorstehenden „Machtwechsel in Washington“ keinen Gefallen finden.
Vorschnelle Urteile über die politische Entwicklung in den USA haben nach Reykjavik wieder Konjunktur. Vom Bankrott der Regierung ist die Rede, wenn Reagan eine Krise nicht innerhalb einer Woche telegen beigelegt hat; werden Kabinetts- und Stabsmitglieder ausgetauscht, scheinen bereits neue politische Kräfte das Feld zu erobern. Wer Rüstungskontrolle nicht in Bausch und Bogen verdammt, wird als Förderer der lange ersehnten Abrüstung gefeiert. Frühlingserwachen aller Orten – der Durchbruch zu neuen Ufern ist demnach nur noch eine Frage der Zeit. Dergleichen Einschätzungen besagen weniger über die politische Realität in den USA als über die Wunschbilder ihrer Kommentatoren. Nach der Wahl Reagans im November 1980 waren viele versucht, die politische Schubkraft der „konservativen Revolution“ zu überschätzen; heutzutage überschätzen sie das Durchsetzungsvermögen der Kritiker Reagans.
Zugegeben: Es tut sich einiges am Potomac. Parteien und Öffentlichkeit streiten wie seit Jahren nicht mehr um die Grundlagen der Außenpolitik. Die Regierung wird ähnlich schonungslos, bisweilen hämisch kritisiert wie Lyndon Johnson in den letzten Monaten seiner Amtszeit oder Richard Nixon auf dem Höhepunkt des Watergate-Skandals. Die Opposition genießt es offensichtlich, ihren konservativen Gegnern deren eigene Melodie vorzuspielen: Amerika hat sich wieder einmal isoliert, ist im Kampf um die „Freiheit“ zum schuldbeladenen Komplizen von Terror und Tyrannei geworden, an die Stelle politischer Berechenbarkeit ist kleinkarierter Wankelmut getreten. Und zu allem Überfluß hat die Führung des Landes wieder einmal klammheimlich eine „Regierung innerhalb der Regierung“ aufgebaut und mit deren Hilfe hinter den Kulissen allerlei dunkle Geschäfte abgewickelt.
Die Waffenschiebereien an den Iran und die Finanzierung der Contras in Nicaragua waren nicht die Ausnahme, sondern für längere Zeit die Regel. Aufträge dieser Art gehörten zum politischen Alltag der „Cowboys“ im Nationalen Sicherheitsrat. Cowboys mögen als Kultursymbole recht nützlich sein, wenn sie aber versuchen, über alle kontrollierenden Instanzen hinweg Außenpolitik zu betreiben, schicken Kongreß und Medien den Sheriff. Und gegen Gary Cooper hat Ronald Reagan schon immer schlecht ausgesehen: von Oliver North und all den anderen „Helden“ ganz zu schweigen.
Aber es ist verfrüht, schon jetzt das „high noon“ für Reagan auszurufen. Der Präsident ist zweifellos in größeren Schwierigkeiten als jemals zuvor in den 80er Jahren. Seit „Irangate“ gelten alte Loyalitäten nicht mehr, selbst ehedem verläßliche kalte Krieger kommen ins Grübeln. Wer sich heute in Washington als außenpolitischer Globalist und Interventionist vorstellt, erntet nicht unbedingt Beifall. Gewichen sind die Souveränität und das strotzende Selbstbewußtsein vergangener Jahre. Fast ängstlich fragen die Sprachrohre des Neokonservatismus nach der Zukunft des „außenpolitischen Konsens“. All dies signalisiert Krisenstimmung, Unsicherheit und Schwäche. „Bankrott“, „Machtwechsel“ oder „Kräfteverschiebung“ können freilich daraus noch nicht abgelesen werden. Wieso muß gleich Konkurs anmelden, wer sein Konto überzogen hat? Parlamentarische Kontrollkommissionen und Medien mögen Reagan „mangelnden Professionalismus“ vorwerfen – in der Tat die schlechteste Note, die im politischen und wirtschaftlichen Betrieb der Vereinigten Staaten zu vergeben ist. Zu einer Anklage wegen Amtsmißbrauch reicht aber auch dieses Zeugnis (noch) nicht.
Reagan sucht augenblicklich krampfhaft nach Auswegen, die Opposition nach Alternativen. Beide mischen ihre Karten neu. Wie und ob sie damit erfolgreich sein werden, ist völlig ungewiß. Altes bricht auf, angestaute Kritik entlädt die Konstellation gerät in Bewegung. Wer über Zukunft und Perspektiven spricht, kann allenfalls Hypothesen vorstellen und Konturen möglicher politischer Modelle benennen. Eines dieser „Modelle“ ist als Mixtur dreier politischer Linien vorstellbar und setzt sich aus Elementen des Reaganismus, aus Entwürfen der neuen Mehrheit in der demokratischen Partei und aus Überlegungen der traditionellen „Elite“ im Nordosten des Landes zusammen.
1. Janus in Reykjavik
Während des Treffens Reagan-Gorbatschow im Oktober 1986 wurden die Reichweite und die Grenzen der augenblicklichen amerikanischen Kompromißlinie deutlich. Die „International Herald Tribune“ veröffentlichte am 18.2.1987 den bislang detailliertesten Bericht über diese „bizarrsten Verhandlungen mächtiger Staatsoberhäupter in der neueren Geschichte“. Daraus geht hervor, daß die amerikanische Seite nicht im mindesten bereit war, auf zentrale Bestandteile ihres atomaren Offensivpotentials oder gar auf SDI zu verzichten. Der Waffenmix aus Angriffs- und Verteidigungssystemen bleibt weiterhin das oberste Gebot. Dies schließt freilich nicht aus, daß aus politischen Gründen gewisse Waffentypen zur diplomatischen Disposition gestellt werden.
Gorbatschow eröffnete die Verhandlungsrunde: alle offensiven strategischen Waffen werden um die Hälfte reduziert; beide Seiten verschrotten die in Europa stationierten Mittelstreckenraketen (ohne Rücksicht auf britische und französische Systeme) und nehmen neue Verhandlungen über einen atomaren Teststopp auf; der ABM-Vertrag bleibt für zehn weitere Jahre in Kraft und wird „eng“ ausgelegt, d.h. die Entwicklung von Weltraumwaffen bleibt auf Laboratorien beschränkt. Die Antwort der amerikanischen Delegation (formuliert von Richard Perle aus dem Pentagon und Robert Linhard vom Nationalen Sicherheitsrat) verdeutlichte schon frühzeitig die unüberbrückbaren Gegensätze. Eine Verlängerung des ABM-Vertrages um zehn Jahre kommt nur in Frage, wenn beide Seiten während dieser Zeit alle offensiven ballistischen Raketen vernichten. Die USA lehnen es ab, alle offensiven Waffen abzurüsten, und werden – so die offizielle Lesart der Reaganschen Position – auf unabsehbare Zeit nicht auf Atomwaffen verzichten können. SDI-Forschung und Entwicklung muß auch außerhalb des Labors erlaubt sein. Darüber hinaus nehmen die USA das Recht in Anspruch, nach Ablauf der Zehnjahresfrist ein Raketenabwehrsystem im Weltraum zu stationieren.
Die sowjetische Reaktion war absehbar. Wenn nur ballistische Raketen abgerüstet werden, bleibt ein Restpotential offensiver Atomwaffen zurück, die jederzeit gegen das Territorium der UdSSR eingesetzt werden können (z.B. Cruise Missiles und atomwaffentragende Langstreckenbomber). Mit einem SDI-System kombiniert, eröffnen diese Offensivwaffen neue Möglichkeiten nuklearer Kriegsführung. Und wieso soll die UdSSR ihr einzig mögliches Gegengewicht zu SDI – nämlich Interkontinentalraketen – verschrotten, ohne daß die USA sich im Gegenzug zu einem Verzicht auf SDI bereiterklären?
Reagan war offensichtlich nicht gewillt, auf Gorbatschows Einwände einzugehen, und stellte auch keine weitere amerikanische Beratung über dieses Problem in Aussicht. Er packte seine Papiere und erklärte die Sitzung für beendet.
Nur ein „Verrückter“ – so Gorbatschow später – hätte die amerikanischen Vorstellungen akzeptieren können. So viel zu der Mär, in Reykjavik seien durchgreifende Vereinbarungen „greifbar nah“ gewesen.
Aber das Treffen auf Island hat noch ein zweites Gesicht. Die amerikanische Delegation war in der Erwartung angereist, hauptsächlich über Mittelstreckenwaffen und Atomtests zu verhandeln. Man glaubte, diese Gespräche von SDI und den strategischen Waffen „abkoppeln“ zu können. Eine Null-Lösung für Pershing II und Cruise Missiles sowie SS 20 hätte schon in Reykjavik vereinbart werden können. Freilich wollten die Amerikaner damit nicht einen übergreifenden Abrüstungsprozeß in die Wege leiten. Es ging ihnen in erster Linie darum, an einem kontroversen Gegenstand den „politischen Willen“ zur Rüstungskontrolle zu demonstrieren und damit die anhaltende Kritik an zentralen Waffenprogrammen wie SDI und an der „Modernisienung“ des strategischen Arsenals (MX, Midgetman, Trident II) zu neutralisieren. Um im Bild des „Raketenschach“ zu bleiben: die Mittelstreckenraketen sind das politische Bauernopfer, um die Dame im Spiel zu retten. Schon im Frühjahr 1986 war nämlich klargeworden, daß das Pentagon-Budget im Kongreß und in den Bewilligungsausschüssen zunehmend unter Druck geraten würde. Nach sieben Jahren kontinuierlicher Expansion sanken 1986 die Militärausgaben erstmals wieder (von 295 Milliarden Dollar auf 286 Milliarden Dollar). Im Zeichen der Haushaltssanierung waren weitere Kürzungen nicht auszuschließen. Auch forderte die demokratische Kongreßmehrheit immer lauter konkrete Ergebnisse auf dem Gebiet der Rüstungskontrolle.
Seit dem „Irangate“-Skandal steht Reagan noch stärker unter Druck. Wenn er überhaupt politischen Bewegungsspielraum zurückgewinnen will, muß er rasch handeln. Er braucht noch 1987 einen Durchbruch – spätestens mit Beginn des Wahlkampfes für die neue Präsidentschaft wird der alte Amtsinhaber nur noch zu Repräsentationszwecken eingesetzt. Es gibt also durchaus Chancen für eine Null-Lösung – nicht zuletzt auch deshalb, weil aus den Reihen des Militärs keine unüberwindbaren Widerstände zu erwarten sind. Im Pentagon wurde nämlich von jeher die Position vertreten, im Zweifelsfall die militärischen Funktionen von Pershing II und Cruise Missiles an andere Systeme zu delegieren.
Es ist durchaus möglich, in den kommenden Monaten aus der jahrelang verfahrenen Situation auszubrechen – und ein solcher Schritt dürfte nicht geringgeschätzt werden. Denn noch ist nicht darüber entschieden, ob Reagans Kalkül aufgeht und ein Bauernopfer die „Dame SDI“ rettet. Jedes Abkommen entwickelt eine eigene politische Dynamik. Diese Unsicherheit muß Reagan eingehen, will er aus der innenpolitischen Defensive herauskommen, oder dem Druck der sowjetischen Angebote außenpolitisch Paroli bieten. Noch scheint der Preis nicht zu hoch zu sein.
Was aber folgt auf Reagan? Wie sind die Aussichten, den eben begonnenen Prozeß weiterzuführen? In Welcherverfassung präsentieren sich die Kräfte, die den jetzigen Präsidenten ablösen wollen?
2. Wer hat Angst vor Michail Gorbatschow?
So lautet das Stück, das die Kritiker Reagans augenblicklich der interessierten Öffentlichkeit darbieten. Die Hauptrollen sind mit der Prominenz des „nordöstlichen Establishment“ besetzt. Die alten Eliten, die unter Reagan scharenweise an die Provinzbühnen verbannt worden waren, gastieren wieder in ihren Stammhäusern. Die „off-Broadway“-Zeiten scheinen vorerst vorbei. Die bisherigen Vorstellungen lassen noch keine grundsätzliche Abkehr von der Reaganschen Außenpolitik erkennen. Gerade die Überlegungen zur Politik gegenüber der UdSSR müssen mißtrauisch stimmen. „Wer hat Angst vor Michail Gorbatschow?“, fragen sich die meinungsbildenden Foren – „Foreign Affairs“ und „Foreign Policy“ allen voran – seit Monaten. Ihr bislang einstimmiges Votum lautet: niemand im Westen braucht sich zu fürchten. Es gibt keinen Grund, vorschnell Positionen zu räumen oder einen gänzlich neuen Kurs einzuschlagen. Die USA können weiterhin aus selbstsicherer Position und im Bewußtsein der Stärke Politik betreiben. Michael Mandelbaum vom „Council of Foreign Relations“ und Strobe Talbott von „Time Magazine“ verweisen in der Winterausgabe von „Foreign Affairs“ auf die vorgeblich positiven Wirkungen des SDI-Programms. Reykjavik habe wie kein anderes Datum bewiesen, daß die USA mit diesem Programm Druck ausüben können und daß die Sowjetunion bereit sei, substantielle Zugeständnisse zu machen. Der Spielraum sowjetischen Nachgebens sei noch keineswegs ausgereizt, denn erst allmählich dämmere der Moskauer Führung, wie entschlossen der Westen auf die hemmungslose sowjetische Aufrüstung reagiere.
Selbstverständlich wählt man moderate Töne, um diese Sichtweise vorzutragen. Ganz Establishment, haben Talbott und Mandelbaum das schrille Vokabular der Parteigänger Reagans nicht nötig. In der Sache aber übernehmen sie die Argumentationsmuster der Reaganauten oder tischen Uraltes als neue Erkenntnis auf – im Zweifelsfall als Erkenntnis, die erst in Reykjavik offenbar wurde. So ist beispielsweise die These vom „diplomatischen Wert“ bestimmter Waffenprogramme (mindestens) so alt wie das Nuklearzeitalter: die Atombombe mußte dazu herhalten, die UdSSR in Polen zum Nachgeben zu zwingen (was dann doch nicht geschah); die Wasserstoffbombe schien geeignet, die sowjetische Ökonomie in die Knie zu zwingen und damit eine weitere Aufrüstungsrunde zu verhindern (auch hier sind die Ergebnisse bekannt); was die Interkontinentalraketen und folgende Programme politisch bewirken sollten, ist an dieser Stelle unerheblich – wichtig ist nur, daß sie außer sinnloser Rüstung nichts bewirkten. Dies hat sich mittlerweile auch überall herumgesprochen – außer in jenen Kreisen, die eine „Alternative zu Reagan“ aufbauen wollen.
Robert Kaiser von der „Washington Post“ reiht sich mit seinem Aufsatz (ebenfalls in „Foreign Affairs“) forsch in die Reihe politisierender Philosophen ein. Er will Zukünftiges denken und landet dabei jenseits aller Geschichte. Postmodern vom Scheitel bis zur Sohle, mahnt er zur historischen Gelassenheit. Epochales kündigt sich an – der endgültige Abstieg der sozialistischen Weltmacht. Gorbatschow als tragischer Held – Julius Cäsar und Hamlet in einem – erkennt die Zeichen der Zeit, kann aber den Gang der Dinge nicht mehr ändern. Er verwaltet den ökonomisch-technologischen Abstieg und muß ohnmächtig mitansehen, wie sich der ideologisch-moralische Zusammenhalt seiner Gesellschaft allmählich verflüchtigt. Zynisch und fatalistisch werden all jene, die selbst unter Breschnew noch an den Sieg des Weltkommunismus glaubten. Selbstverständlich ist für Dramatik in diesem Stück gesorgt: denn auch im Niedergang stellt die UdSSR ihre Expansionsinteressen über alles. Vorsicht ist also geboten. Aber der westliche Held wird in keine Falle tappen, wenn er sich seiner Stärke bewußt wird und sie moderat einsetzt. Auf- und abgeklärt kann er den Rückzug und die allmähliche Anpassung des Gegners zur Kenntnis nehmen und sich endlich dem Wichtigsten widmen: der Erlösung der Menschheit durch „high technology“. In der Tat: in einem solchen Film hätte Ronald Reagan einstmals die Hauptrolle spielen können.
Weniger lyrisch, aber in der Sache ähnlich gehaltvoll argumentieren F. Stephen Larrabee und Allen Lynch in der jüngsten Nummer von „Foreign Policy“ (Winter 1986/87). Sie sind mit ihren Überlegungen nah am politischen Puls des „nordöstlichen Establishment“. Insbesondere glauben sie den Beweis erbringen zu können, daß auch Gorbatschow der Erbsünde sowjetischer Außenpolitik verfallen ist. Er will Europa von den USA „abkoppeln“ – nur raffinierter als der bärbeißige Gromyko, der das schurkische Unterfangen am Ende seiner Amtszeit noch nicht einmal mehr verbergen wollte. Nein, Gorbatschow säuselt und lockt. Handels- und Technologieaustausch mit der EG, militärische Eigenständigkeit Westeuropas, Null-Lösung bei den Mittelstreckenwaffen – das Repertoire des Taschenspielers ist reichhaltig. Kaum auf Seite drei ihres Manuskriptes angelangt, haben sie in einer Position selbst Ronald Reagan rechts überholt. Reykjavik war und ist ihnen ein ganz besonders gefährliches Pflaster, denn Null-Lösung bedeutet Abkopplung Europas von den USA, und Abkopplung wiederum signalisiert den Anfang vom Ende alles Politischen. Larrabee und Lynch schreiben weniger über Gorbatschow als über die Ur-Angst der Eliten im amerikanischen Nordosten. Der „Atomschirm“ für und über Europa ist ihnen heilig, jeder Haushaltstitel dafür billig. Auf diesem Altar werden im Zweifelsfall auch alle Bedenken gegen SDI geopfert.
Wer also hat Angst vor Michail Gorbatschow? Nur wer seine eigene Courage fürchtet. Und dergleichen Charaktere sind in den USA bekanntlich dünn gesät. Sie kommen – wie das Beispiel Henry Kissinger zeigt – unter den Intellektuellen des politischen „main stream“ überhaupt nicht vor.
3. Machiavelli im Exil
Henry Kissinger ist der Primus der alten Eliten, die sich von Reagan betrogen fühlen und seit Neuestem den Emporkömmlingen der „Neuen Rechten“ wieder die Plätze streitig machen. Sie werden den Machiavelli der Ivy League nicht wieder ins Rennen schicken; aber als Ratgeber ist er nach wie vor sehr gefragt. Der Professor aus Harvard bleibt also ein politisches Thema.
Die Erfahrung lehrt, daß Kissingers Rat in der Regel auf die Mehrheitsmeinung unter der künftigen Präsidentschaft schließen läßt. Wie kaum ein anderer in der amerikanischen Nachkriegspolitik verfügt er über ein ausgeprägtes Gespür, atmosphärische Veränderungen und das Entstehen neuer politischer Konstellationen frühzeitig wahrzunehmen. Während seine Konkurrenten sich noch der alten Herrschaft andienen, nimmt er bereits Witterung auf und stellt sich auf die kommenden Mehrheitsverhältnisse ein. Posten, Einfluß und Ansehen haben ihm stets Recht gegeben. Ende der 50er Jahre trat er rechtzeitig mit seinem Buch „Nuklearwaffen und Außenpolitik“ hervor und sicherte sich damit einen prominenten Platz unter den Kritikern der „massiven Vergeltung“. „Begrenzter Krieg“ auf den Schauplätzen der Dritten Welt war das Thema. Wenige Jahre später hatte die Entdeckungam politischen Sternenhimmel auch einen Namen: „flexible Reaktion“. Von der Regierung Kennedy aus der Taufe gehoben, wurde sie unter Lyndon Johnson zum Dogma. Kissinger hatte es geschafft. Nicht länger mußte er dem Nationalen Sicherheitsrat langweilige Traktate über psychologische Kriegsführung abliefern, die dann doch im Papierkorb landeten. Jetzt endlich war er zum „defense intellectual“ aufgestiegen und stand am Beginn einer großen Karriere. Die Gemeinde hörte ihm zu. Als andere noch davon träumten, Vietnam in die Steinzeit zurückzubomben und „Detente“ noch nicht im politischen Sprachschatz vorkam, thematisierte Kissinger die „Entspannung“. Wenn die USA ihre weltpolitische Isolation durchbrechen wollten, dann mußten sie die Beziehungen zur UdSSR und zur VR China neu gestalten. Von „Kooperation statt Konfrontation“ und vom „Zwang zur Zusammenarbeit“ war die Rede. Richard Nixon konnte es nicht überhören. Als er sein erstes Kabinett bildete, hatte sich der Professor aus Harvard schon selbst berufen. Steiler ging es nimmer: nationaler Sicherheitsberater, später Außenminister und in den Watergate-Jahren der heimliche Präsident.
Seit dieser Zeit lebt Kissinger – mehr oder weniger schmollend und wenigstens in dieser Haltung mit Helmut Schmidt vergleichbar – im Exil. Er hält Vorträge, reist umher und bildet immer noch Meinung. Schon Jahre ist es her, als er der Vergangenheit abschwor. Die zwischen 1968 und 1973 diskutierten Modelle der Entspannungspolitik sind längst vergessen; das Establishment der Ostküste, einst auch liberalen Abweichungen wohlgesonnen, ist nach Rechts gerückt. Die Amtsperioden Reagans taten das ihre. Was aber rät Kissinger für die Zukunft? Spürt er wieder das neue Zentrum der Macht? Erahnt er, welche Programme und Konzepte bald gefragt sein werden? Es ist zu befürchten. Er vermittelt schon wieder – diesmal zwischen der alten Reagan-Mehrheit und den traditionellen Eliten.
Beispielhaft für diese Vermittlung ist eine in „Newsweek“ am 2.3.1987 veröffentlichte Analyse über den „Umgang mit Gorbatschow“. Was zur Zeit des Vietnam-Krieges nur Linksradikale sagen durften, wird jetzt zum Thema: daß die Außenpolitik eines Landes Ausdruck seiner inneren Verfassung ist. Und da schwant Kissinger Düsteres: ein innenpolitisch erfolgreicher Gorbatschow wird das Land stärken, eine starke UdSSR expandiert und verursacht Spannungen, Spannungen kommen nur dem Totalitarismus zugute und mindern die Sicherheit der westlichen Demokratien. Man sieht die Dominos schon wieder reihenweise fallen. Hatte Kissinger in früheren Tagen oft noch eine überraschende argumentative Wende parat, so spricht er die Politik der Stärke heute akzentfrei. SDI ist der Brennpunkt westlicher Strategie, und wer dies (wie einige windelweiche Eurpäer) noch nicht begriffen hat, versteht eben nichts von Politik. Und eine Null-Lösung bei Mittelstreckenwaffen kann wahrlich nur politischen Amateuren einfallen. Druck, nicht Zugeständnisse sind das Gebot der Stunde. Wann hat man die UdSSR je in solchen Schwierigkeiten gesehen? Wer diese Großmacht disziplinieren will, muß es jetzt tun. Noch scheint der Mantel der Geschichte nicht an Washington vorbeigerauscht.
Es ist müßig, die Feinheiten aus Kissingers Analyse vorzutragen. Er ist von einem „neuen Denken“ so weit entfernt wie sein historisches Vorbild Metternich von der Mitgliedschaft im Jakobinerclub.
Man mag der Meinung sein, daß im einen oder anderen Fall Ansätze und Gedanken vertreten werden, die Anlaß zur Hoffnung geben können. Man mag auch auf eine weitere Differenzierung hoffen, denn schließlich hat der Kampf um die nächste Präsidentschaft noch gar nicht recht begonnen. Und man mag schließlich einwenden, jede der hier vorgestellten Positionen sei für sich genommen oder in jedweder Kombination noch immer besser als eine Fortsetzung des Reagan-Kurses. Stimmt. Und dennoch scheint sich auch am Beispiel der außenpolitischen Diskussion zu bestätigen, daß in den 80er Jahren die politischen Richtungswechsel in den USA langsamer über die Bühne gehen als früher. Das Alte kann sich allen Fehlern und Skandalen zum Trotz sehr lange halten, phasenweise sogar regenerieren. Es profitiert vom Opportunismus und der Perspektivlosigkeit seiner langjährigen Kritiker. In den USA fehlt im bürgerlichen Lager seit langem eine politisch treibende Kraft, die vom Skandal der regierenden Elite nicht nur phasenweise profitieren will und sich weigert, mit politischen Almosen über die Runden zu kommen. Keine Gruppierung ist in der Lage, den Schächeanfall des Reaganismus zu nutzen, die alten Verhältnisse aufzumischen und Neues aufzubauen. Die demokratische Partei und die sie tragenden Kräfte werden auf absehbare Zeit an dieser Aufgabe scheitern. Jedenfalls drängt sich diese Schlußfolgerung nach einer Lektüre der Klassiker auf.
Dr. Bernd Greiner ist beschäftigt bei der Stiftung „Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts“ in Hamburg.