W&F 2016/2

Stadt – Land – Krieg

Unsicherheit in urbanen Gewalträumen

von Jürgen Scheffran

Dem Wechselspiel zwischen Stadt und Land kam und kommt in Kriegen oftmals eine wichtige Rolle zu. Aufgrund der Bevölkerungsdichte, Versorgungsinfrastruktur und Machtkonzentration sind Städte verwundbare Ziele von Gewalthandlungen, die erhebliche Schutzmaßnahmen erfordern. Ausgehend von der zunehmenden Urbanisierung und damit verbundener Dynamiken der Unsicherheit, analysiert der Beitrag Trends von Stadtkriegen und militärischen Interventionen sowie der Abwehr, Abschottung und Überwachung, um Metropolen vor gewaltinduzierten Sicherheitsrisiken zu bewahren.

„Welch eine Stadt haben wir der Plünderung und Verwüstung ausgeliefert!“, soll der osmanische Sultan Mehmed II gemäß der Legende nach der Eroberung von Konstantinopel am 29. Mai 1453 ausgerufen haben. Nach fast zweimonatiger Belagerung durch das weit überlegene osmanische Heer konnte der Widerstand der christlichen Verteidiger unter Kaiser Konstantin XI überwunden werden. Auch wenn Konstantinopel mit etwa 21 km Stadtmauern eine der am besten befestigten Städte ihrer Zeit war, gab es nicht genug Personal, um diese gegen das gigantische »Konstantinopel-Geschütz« und andere Belagerungstechniken zu halten. Obgleich große Nahrungsvorräte in die Stadt geschafft und innerhalb der Mauern angebaut wurden, kam es zu Lebensmittelengpässen, die die Widerstandskraft schwächten (Runciman 1990).

Die Eroberung von Konstantinopel markiert den Untergang des Byzantinischen und den Aufstieg des Osmanischen Reiches zur Großmacht. In der türkischen und der westeuropäischen Rezeption hat die Eroberung einen hohen symbolischen Wert und wird mit dem Übergang vom europäischen Mittelalter in die Renaissance verbunden.

Stadt und Land im Krieg

Seit Menschen in Städten zusammenlebten, waren diese ebenso Orte der Herrschaft wie Ziele kriegerischer Gewalthandlungen. Aufgrund der hohen Bevölkerungsdichte entstanden neue Formen sozialer Interaktion und Produktion, die Städte zu wertvollen Objekten machten, für die sich ein hoher Einsatz lohnte. Mit dem Übergang von der landwirtschaftlichen zur industriellen Produktion verschob sich das Verhältnis zwischen Land und Stadt. Während die Versorgung von Städten mit Wasser, Nahrung, Energie und anderen Ressourcen von ländlichen Gebieten abhing, boten Städte für die Landbevölkerung Arbeitsplätze und Märkte für ihre Produkte. Die in Städten konzentrierten Strukturen von Macht, Kapital und Gewalt dienten zur Kontrolle der im Land verfügbaren Ressourcen und zur Ausbeutung der dort lebenden Menschen, vor allem durch Einzug von Abgaben und die Rekrutierung von Söldnern. Beides wurde von den Herrschern benötigt, um kostspielige Heere zu unterhalten, die in Landschlachten aufeinander prallten. Demgegenüber ging es in Kriegen um Städte darum, Machtzentren zu sichern bzw. zu erobern, wobei die Unterbrechung der städtischen Versorgung durch das Land ein wesentliches Element von Belagerungskriegen war.

Die Eroberung befestigter Städte war oft mit erheblichem Aufwand verbunden, konnte sich über Jahre hinziehen und wurde auch durch die Verfügbarkeit vitaler Ressourcen entschieden. In einigen Fällen bedeutete die Einnahme oder Zerstörung der Hauptstadt das Ende eines Imperiums (wie im Falle Karthagos), war aber nicht immer kriegsentscheidend (wie im Fall der Eroberung Moskaus durch Napoleon, die seine Niederlage einleitete). Immer wieder gingen die Besatzer mit äußerster Grausamkeit vor und töteten die Einwohner (wie bei der Eroberung Jerusalems 1099 durch christliche Kreuzzügler).

Die Form des Stadt-Land-Krieges wandelte sich mit den gesellschaftlichen, ökonomischen, technologischen und ökologischen Rahmenbedingen. Im Mittelalter war die Stadt Zentrum kleinräumiger Strukturen; mit steigender Wirksamkeit und Reichweite der Waffentechnik (besonders der Feuerwaffen) waren Städte immer schwerer zu schützen. Der Raum zwischen den Städten wurde enger, die politischen Einheiten vergrößerten sich von feudal geprägten Städten, Burgen und Palästen zu den Stadtstaaten und Nationen der Neuzeit, in denen Städte zu Schlüsselpunkten der industriellen Produktion und des Konsums und zu Schaltzentren der bürgerlichen Gesellschaft wurden.

Die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts hinterließen eine Spur der Verwüstung in den urbanen Räumen und vermittelten der Stadtbevölkerung die Erfahrung existentieller Verwundbarkeit. Die strategischen Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg eröffneten ein neues Kapitel des totalen Krieges, dessen Terror gegen die Zivilbevölkerung zwar nicht kriegsentscheidend war, aber ganze Städte dem »Urbizid« auslieferte (Henkel 2013), ihrer systematischen Vernichtung.

Städtenamen wie Guernica und Coventry, Dresden und Hamburg, Stalingrad und Tokio, schließlich Hiroshima und Nagasaki wurden zu Symbolen einer Verrohung der Kriegführung. Im Ost-West-Konflikt gerieten die Großstädte der beiden Blöcke auf die Ziellisten von Massenvernichtungswaffen. Auch wenn der Fall der Berliner Mauer dem Kalten Krieg ein Ende setzte, bleibt der nukleare Overkill die größte Gefahr für urbane Zentren. In der komplexen Weltlage nach Ende des Ost-West-Konflikts sind Städte weiter der Geißel des Krieges ausgesetzt, wie im Falle Sarajewos, ebenso Terrorangriffen.

Die Zerstörungen von Städten im Krieg sind spektakuläre und prägende Ereignisse, neben anderen Katastrophen wie Erdbeben, Bränden, Stürmen, Überschwemmungen und Terroranschlägen. Sie werden in Literatur und Medien inszeniert, von der Zerstörung Trojas bis zu Hollywood-Epen, wie »Independence Day« oder »The Day After (Tomorrow)«. Mit den Terroranschlägen des 11. September 2001 wurde eine neue Qualität der Live-Berichterstattung über eine urbane Katastrophe erreicht.

Urbanisierung und Landflucht

Im Jahr 2008 lebte weltweit die Hälfte aller Menschen in Städten, davon fast ein Drittel in Slums und viele in Krisenherden. Mitte dieses Jahrhunderts dürfte die Stadtbevölkerung schon zwei Drittel ausmachen. Liegt der Grad der Verstädterung derzeit bei mehr als 80% in Nord- und Lateinamerika, so sind es in Asien und Afrika momentan noch weniger als 50%, allerdings mit stark wachsender Tendenz (DESA 2014). Von den 27 Megastädten mit mehr als zehn Millionen Einwohnern im Jahr 2020 werden bis auf vier alle in Entwicklungsländern liegen, zwölf allein in Asien.

Herkömmliche Differenzen zwischen »moderner« Stadtbevölkerung und »traditioneller« Landbevölkerung werden überlagert durch Trennlinien zwischen Kapital und Arbeit, arm und reich, industriellen Zentren und landwirtschaftlich geprägten Entwicklungsperipherien. So leben einkommensstarke Bevölkerungsteile nicht immer in städtischen Zentren, sondern oftmals an ihrer Peripherie und in »Gated Communities«, abgeschottet durch aufwändige Sicherheitsapparate. Die weltweite Urbanisierung beschleunigt Transformations- und Austauschprozesse, Interaktionen und Netzwerke zwischen Stadt und Land, die eingebettet sind in lokal-globale Mehrebenenstrukturen.

Urbane Zentren sind aus vielen Gründen attraktiv: Aufgrund ihrer Größe und Siedlungsdichte sind sie Wachstums- und Entwicklungsmotoren, können Absatzmärkte erschließen, Produkte und Dienstleistungen effizient bereitstellen und verteilen, die Versorgungsinfrastruktur mit Wasser, Nahrung, Energie, Bildung und Gesundheit organisieren. Sie bieten Entwicklungschancen, am gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Leben teilzuhaben, gerade auch für Frauen, und tragen damit zur Verlangsamung des Bevölkerungswachstums bei.

Unsicherheit in urbanen Gewalträumen

Andererseits schafft die explosive Verstädterung Unsicherheiten, die mit Risiken und Destabilisierungspotentialen verbunden sind. Hierzu gehören Armut und Hunger, Arbeitslosigkeit und Einkommensunsicherheit, Ungerechtigkeit und soziale Konflikte, Kriminalität und Terrorismus, Massenflucht und Gewalt. Als Produktionsorte und Absatzmärkte sind Städte mit den Prozessen der Globalisierung eng verknüpft. Güter- und Ressourcenflüsse belasten Stadt und Umland. Dem Urbanisierungsdruck ausgesetzt sind städtische Arbeitsmärkte und Versorgungssysteme, was zu Ressourcenknappheit, Umweltbelastung und dem Verlust von Ökosystemdienstleistungen führen kann. Der Klimawandel wird durch wachsende Emissionen städtischer Zentren mitverursacht und macht diese zugleich verwundbar, insbesondere in Risikozonen an Flussufern, Küsten und Überschwemmungsgebieten, die vom Meeresspiegelanstieg betroffen sind (Garschagen and Romero-Lankao 2013). Andererseits sind Städte für die Transformation der Produktions- und Konsummuster in eine nachhaltige Gesellschaft von zentraler Bedeutung.

Merkmale urbaner Räume sind die räumliche Nähe von Menschen mit unterschiedlichen politischen Ausrichtungen, ethnischen Zugehörigkeiten, kulturellen Identitäten und sozioökonomischen Vermögenswerten, was zu Spannungen beitragen kann. Widersprüche und Grenzen der Stadtentwicklung zeigen sich in der Entwurzelung, Ausgrenzung und Marginalisierung vieler Menschen, der Segregation in den Städten, der Formierung von illegalen Siedlungen, Slums und Elendsgürteln, die Ausdruck einer höchst ungleichen und instabilen urbanen Welt und von sozialen Fronten der Globalisierung sind (Davis 2007). Hier verdichten sich die Widersprüche zwischen dem permanenten Wirtschaftswachstum, der Wohlstandsakkumulation in den Händen weniger auf Kosten vieler, der wissenschaftlich-technischen Naturbeherrschung und den natürlichen und sozialen Grenzen. Die Randzonen und Brennpunkte großer Städte bilden einen Resonanzboden für Extremismus, Gewalt und Konflikte und verstärken politische Instabilitäten und soziale Unruhen.

In Städten gibt es vielfältige Möglichkeiten, Gewalthandlungen durchzuführen und sich dem Zugriff der Polizei zu entziehen. Existenzgefährdung und Unzufriedenheit fördern Strömungen, die sich über Netzwerke der Gewalt zusammenschließen. Verbrecher- und Terrornetze agieren weltweit aus und in urbanen Räumen; der Drogen- und Waffenhandel ist über eine Schattenwirtschaft mit der globalen Ökonomie verknüpft. Die in US-Städten, wie New York oder Los Angeles, beobachteten Gewaltspiralen (Drogenkrieg, Krieg der Gangs, ethnische Unruhen) finden sich auch in Megastädten anderer Erdteile, etwa in Mexico City, wo die Gewaltexzesse von Drogenkartellen polizeiliche Möglichkeiten überfordern.

Städte sind mit den heutigen komplexen Krisen und Konflikten eng verknüpft, die sich zu schwer lösbaren vernetzten Kriegen und Gewaltspiralen aufschaukeln können. Hierzu gehören auch die Konflikte im Gefolge des Ost-West-Konflikts im ehemaligen Jugoslawien (Sarajewo, Belgrad) und der Sowjetunion (Grosny), ebenso die Konflikte in Nahost (Bagdad, Aleppo). In vielen Ländern wurden städtische Plätze zu Bühnen des Protests, durch Politik und Medien verstärkt: in den Aufständen des Arabischen Frühlings (Tunis, Kairo), bei der Spaltung der Ukraine (Kiew), bei den Protesten in der Türkei (Istanbul), in Brasilien (Rio de Janeiro) und den USA (Occupy Wall Street). Städte wurden auch zum Nährboden für Islamismus und Terrorismus, die in den betroffenen Regionen (Nairobi, Bagdad, Beirut, Jerusalem) wie auch in westlichen Zentren (New York, London, Madrid, Paris, Brüssel) Angst und Schrecken verbreiteten. Dies provoziert weitere militärische Interventionen ebenso wie rechtspopulistische Strömungen (Alternative für Deutschland, Pegida, Front National).

Städte sind nicht nur Brennpunkte systemimmanenter Gefährdungen, sondern auch Handlungsräume für Interventionen von Polizei, Militär und Geheimdiensten, um eine Stabilisierung des Systems nach innen mit einer Abgrenzung nach außen zu erreichen. Solche Interventionen sind selbst wiederum mit negativen Begleiterscheinungen verbunden, wie Demokratieabbau und Ausspähung, Ausgrenzung und Abschottung, Versicherheitlichung und Militarisierung, die zum Problemkomplex beitragen. Überwachungssysteme zur Abwehr von Terroristen oder Migranten sind Teil eines Sicherheitsapparates, der nicht nur an nationalen Grenzen eine Kontrolle herstellen soll, sondern auch innerhalb der urbanen Gesellschaften.

Vernetzte urbane Kriegführung

Im Unterschied zum Kampf auf dem offenen Gefechtsfeld, bei dem schwere Waffen wie Kampfpanzer zum Einsatz kommen, geht es beim Stadtkrieg um den Kampf in dicht bebautem Gelände über kurze Entfernungen, oft Mann gegen Mann. Ziel ist meist die Kontrolle der Hauptverkehrsachsen und die Besetzung von Schlüsselobjekten der Infrastruktur, wie Wasser- und Gaskraftwerke, Anlagen des Stromnetzes oder der Schwerindustrie. Aufgrund der Behinderungen und Versteckmöglichkeiten in urbanen Strukturen ist ein hoher und gezielter Kräfteeinsatz des Angreifers erforderlich, will er zivile Schäden und »Friendly Fire« vermeiden. Rücksichtslose Kriegsparteien nehmen dagegen die weitgehende Zerstörung der Stadt in Kauf, um den Widerstand zu brechen, auch durch Luftangriffe, und führen zu massenhafter Flucht, Vertreibung und Tod.

Der Irakkrieg eröffnete ein neues Kapitel des Stadtkriegs. Nach der Eroberung Bagdads und dem Sturz des Saddam-Regimes wurde das Land für Militärs und aufständische Gruppen zu einem blutigen Übungsfeld für neue Strategien, um Städte zu kontrollieren oder einzunehmen. In der Schlacht um Falludscha 2004 hatten die US-Streitkräfte die Stadt mit einem Wall vom Umland abgeschlossen und die Einwohner aufgefordert, diese zu verlassen, um dann die verbliebenen Kämpfer zu eliminieren, wobei Falludscha weitgehend zerstört wurde. Diese Strategie wurde auch in anderen Städten, wie Tal Afar oder Samara, angewandt, sowie bei den jüngsten Kämpfen im Irak gegen den »Islamischen Staat«, um Städte, wie Tikrit oder Ramadi, abzuschotten und die Bevölkerung vor einem Angriff mit Luftwaffe und Artillerie zu evakuieren. Zurück blieben »befreite«, aber zerstörte Geisterstädte (Rötzer 2016).

Demgegenüber erschien Bagdad mit neun Millionen Einwohnern und einer Fläche von mehr als 200 Quadratkilometern zu groß, um die Stadt mit einer Mauer einzuschließen und so quasi zu einem Gefängnis zu machen, aus dem Gegner nicht mehr ausbrechen bzw. in das sie nicht mehr eindringen können. In der weitgehend »ethnisch gesäuberten« und von zahllosen Anschlägen heimgesuchten Metropole konzentrierte sich die militärische Kontrolle vor allem auf die »Green Zone« mit Regierungsinstitutionen und internationalen Einrichtungen. Zeitweise wurden Stadtviertel mit drei Meter hohen Betonmauern abgetrennt, deren Durchlässe von Pentagon-finanzierten Milizen kontrolliert wurden, um die Aufständischen von hier fern zu halten. Als der »Islamische Staat« nach dem Abzug der US-Truppen wieder in die Nähe von Bagdad vorrücken und Anschläge ausführen konnte, wurde der mittelalterlich anmutende Plan wieder aus der Schublade geholt, Bagdad mit einer Stadtmauer zu umgeben, mit Gräben und Überwachungssensoren (Rötzer 2016).

Ein anderes Beispiel ist die im syrischen Bürgerkrieg heftig umkämpfte Millionenmetropole Aleppo, die zwischen vier sich überschneidenden Fronten steht: Regime gegen Rebellen, Iran gegen Saudi-Arabien, Russland gegen USA, PKK gegen Türkei (Salloum 2016). Durch den jahrelangen Bürgerkrieg wurde Aleppo zur Geisterstadt, mit entvölkerten Straßen und durch Granaten- und Raketeneinschläge schwer beschädigten Wohngebäuden und zerstörten Kulturdenkmälern. Hunderttausende Menschen sind aus der umkämpften Stadt geflohen, zu Verwandten aufs Land, in die Nachbarländer Türkei, Libanon und Jordanien oder nach Europa. Die verbleibenden Menschen saßen in der Falle, Lebensmittel wurden knapp, der Strom abgeschaltet, Güter und Treibstoff nicht durchgelassen, Ambulanzfahrzeuge und improvisierte Lazarette beschossen (dpa 2012). Viele Menschen haben sich in Schulen, Studentenwohnheime, Moscheen und andere öffentliche Gebäude geflüchtet.

In der heutigen vernetzten urbanen Kriegführung verschwimmen herkömmliche Grenzen des Krieges (Scheffran 2015). So kommen nicht nur reguläre und aufständische Truppen zum Einsatz, sondern auch private Sicherheitsdienste und Söldnerheere, durch die die Grenzen zu militärischen Einsätzen verwischen. Die Fraktionierung der Gewaltstrukturen macht die Zivilbevölkerung in Städten nicht nur zum Ziel, sondern auch zu möglichen Kombattanten. Die Vernetzung des Krieges mit der Gesellschaft in urbanen Zentren betrifft auch die Vorbereitung, Planung und Durchführung von Gewalteinsätzen, unter Nutzung der fließenden Übergänge zwischen zivilen und militärischen Infrastrukturen, die in urbanen Zentren ihre Hauptknotenpunkte haben. Dabei nutzt das Militär die zivil-militärische Zusammenarbeit zur Unterstützung bewaffneter Streitkräfte, ebenso wie die Einbindung der Streitkräfte in die Zivil- und Katastrophenschutzplanung, die besonders in urbanen Zentren relevant ist. Das Militär bedient sich ziviler Ressourcen (etwa des Polizeiapparats) und unterwirft sie seiner eigenen Logik. Im Kontext von Krisenreaktionskräften und Antiterrorkrieg kann eine gesellschaftliche Mobilisierung unter militärischem Kalkül eine Totalisierung von Konflikten befördern und Gewalteinsätze legitimieren. Damit einher geht die »hybride« Kriegführung, die komplexe und synergetische Kombination konventioneller und irregulärer Kampfweisen, in Verbindung mit terroristischen Aktionen und kriminellem Verhalten (Tamminga 2015).

Trotz aller Versuche der Abgrenzung und Ausgrenzung findet der Krieg in den Randzonen des Systems das Gegenstück eines entgrenzten Krieges in den westlichen Industrienationen und ihren urbanen Zentren. Terrorangriffe konzentrieren sich auf große Städte, wie Paris, da sie hier den größten Schaden anrichten und die stärkste symbolische Wirkung erzielen können. Mit den Terroranschlägen des 11. September 2001, bei denen zivile Passagierflugzeuge umgelenkt wurden, um zivile Ziele inmitten einer Großstadt zu treffen, und dem von George Bush ausgerufenen »Krieg gegen den Terrorismus« wurden Städte zum Kriegsschauplatz, wurden Koffer in einem Flughafen oder Bahnhof, Cyberattacken und Sabotage-Akte gegen Knotenpunkte der Infrastruktur Teil kriegerischer Gewaltakte. In dem Kontext erscheinen die Flüchtlinge aus den Krisengebieten, die in Europas Städte »vordringen« und sich mit potentiellen Terroristen vermischen könnten, ebenfalls als Sicherheitsbedrohung an einer »Heimatfront«, an der innere und äußere Sicherheit verschmelzen.

Der neue militärische Urbanismus

Angesichts komplexer Krisen und Sicherheitsrisiken und der Schwierigkeit, Städte mit Mauern zu schützen, entstehen Phantasien, in denen der Westen seine scheinbar unangreifbare technologische Macht nutzt, um die in Frage gestellte militärische, wirtschaftliche und politische Vorherrschaft wiederherzustellen. Ein Jahr nach den Attacken von 9/11 beschrieben die US-Sicherheitstheoretiker Mark Mills und Peter Huber in dem konservativen »City Journal« eine Zukunftsvision von Systemen zur Überwachung und Verfolgung in einer Hightech-Welt, die das Leben in den von fundamentalistischen Strömungen gefährdeten westlichen Städten durchdringt. Sie entwerfen einen neuen Krieg Stadt gegen Land: „Wir sind dazu bestimmt, eine nie endende Abfolge von mikro-skaligen Gefechten zu führen, weswegen wir unsere militärischen Ressourcen über große Flächen leeren Landes ausbreiten müssen […]. Klein und hoch mobil, sie können weit und breit gestreut werden – über Manhattan, dem reichsten Ort der Erde, und auch über dem Hindukusch, dem ärmsten.“ (Mills and Huber 2002)

Mills und Huber träumen von permanenter automatisierter und robotisierter Kriegführung, Terrorabwehr und Aufstandsbekämpfung, mit Überwachungssystemen, wie sie in Flughäfen eingesetzt werden. In seinem Buch »Cities Under Siege – The New Military Urbanism« beschreibt Graham (2011) kritisch, wie mit riesigen Datenbanken und Suchalgorithmen der Künstlichen Intelligenz in den Räumen und Infrastrukturen der Stadt, die potentiell durch Terroranschläge gefährdet sind, alle Personen und Ereignisse durch Überwachungssysteme automatisch verfolgt werden, um »vertrauenswürdige und kooperative« Objekte von »gefährlichen und nicht kooperierenden« zu unterscheiden. Dabei wird vorausgesetzt, dass sich eine Grenze finden lässt, die Gefährder und Gefährdete so klar trennt, dass unbeabsichtigte Schäden und Fehlalarme vermieden werden. Da praktisch alle Komponenten urbaner Systeme (Behörden, Post, Strom, Internet, Finanzen, Produktionsstätten, Flug- und Transportsysteme, Sportanlagen, Konzertstätten, Restaurants, usw.) Ziel von Angriffen werden können und potentiell jeder Bürger ein Angreifer ist, wird hier der Traum von technologischer Allwissenheit und umfassender Militarisierung anvisiert.

Ein weiterer Schritt in diesem andauernden und überall geführten Krieg ist das Bestreben, nicht nur alles automatisch zu überwachen, sondern auch autonom töten zu können. Um die US-Truppen von dem schmutzigen Job zu verschonen, innerhalb von Städten zu kämpfen und zu töten, sollen Schwärme kleiner, bewaffneter Drohnen, ausgestattet mit modernen Sensoren und miteinander kommunizierend, eingesetzt werden, um permanent die Straßen, Wüsten und Autobahnen auszuspähen. Mills und Huber träumen von einer Zukunft, in der solche Schwärme von Roboter-Kriegern unermüdlich daran arbeiten, „die zerstörerische Macht präzise, umsichtig und aus sicherer Entfernung zum Einsatz zu bringen – Woche für Woche, Jahr für Jahr, so lange wie notwendig“.

Die Vision, technische Sicherheits- und Überwachungssysteme auf ganze Städte und Gesellschaften auszuweiten, hat zum Teil Einzug in die Sicherheitsplanung gehalten. Das von Raytheon konzipierte und umstrittene britische Programm »E-Borders«, mit dem durch hoch entwickelte Computer-Algorithmen und Data-mining-Techniken beim Grenzübertritt »illegale« oder »bedrohliche« Personen oder Verhaltensweisen aufgrund von »Ziellisten« und »biometrischen Visa« gescreent und identifiziert werden sollen, ist ein Beispiel für eine Überwachung in urbanen Räumen. Zwischen 2003 und 2015 wurden für das Programm mehr als 830 Mio. £ ausgegeben, ohne die volle Vision zu realisieren (NAO 2015).

Schwerer wiegt das Satellitensystem »Skynet« der US-amerikanischen National Security Agency, das Mobilfunkdaten von 55 Millionen Menschen in Pakistan auswertet, um den Aufenthaltsort möglicher Terroristen zu bestimmen, die dann per Knopfdruck eliminiert werden können (Grothoff and Porup 2016). Der Schritt zur Automatisierung der Tötung ist dann nicht mehr groß.

Foucaults Bumerang

Überwachungssysteme und technische Gewaltprojektionen in den Krisenregionen der Welt lassen sich auch auf die westlichen Kernzonen ausweiten. Statt Mauern aus Beton um europäische Städte zu errichten, werden die neuen Mauern an die Außengrenzen verlagert, um die Zentren gegen Bedrohungen der Peripherie zu schützen. Der neue militärische Urbanismus benutzt koloniale Kriegsgebiete, wie Gaza oder Bagdad, als »Testgelände« für Technologien, die dann auf den weltweit wachsenden Märkten für Heimatverteidigung verkauft werden. Damit werden auf den Straßen des Globalen Südens Modelle der Befriedung, Militarisierung und Kontrolle geschaffen, die sich auf die Städte kapitalistischer Kernländer im Globalen Norden übertragen lassen. Diese Synergie zwischen der äußeren und der nationalen Sicherheit ist ein Element des neuen militärischen Urbanismus (Graham 2011).

In der heutigen »postkolonialen« Periode ist das Aufleben von Konzepten aus der Kolonialzeit, die Techniken aus auswärtigen Kriegsgebieten zur Versicherheitlichung des westlichen urbanen Lebens benutzen, bemerkenswert. Michel Foucault hat dies als „Bumerang-Effekt“ bezeichnet: „Es sollte nie vergessen werden, dass zwar die Kolonisation mit ihren Techniken und ihren politischen und juristischen Waffen offensichtlich europäische Modelle in andere Kontinente transportiert hat, dies aber auch einen erheblichen Bumerang-Effekt auf die Mechanismen der Macht im Westen hatte.“ (Foucault 2003, S.103)

Es scheint nicht möglich, die Metropolen vor den Rückwirkungen ihrer Politik zu schützen, ohne neue Mauern zu errichten. Dass diese unüberwindbar sind, ist wenig wahrscheinlich, trotz des von Mills und Huber (2002) geäußerten Optimismus über die eigene Unbesiegbarkeit: „Kann die andere Seite die selben Technologien gegen uns wenden? Keine Chance. Sie herzustellen und zu nutzen bedarf einer digitalen Infrastruktur und einer digitalen Denkweise. Schon die Vorstellung, dass jemand einen »digitalen Jihad« führt, ist ein Widerspruch in sich.“ Im Kampf „ihrer Söhne gegen unser Silizium“ sind sich die Autoren sicher: „Unser Silizium wird gewinnen.“ Sie konnten damals noch nicht wissen, dass Gegner wie der IS den digitalen Jihad auf ihre Fahnen schreiben, was einen Teil ihres Einflusses ausmacht.

Die Überwindbarkeit christlicher Mauern war schon beim osmanischen Sieg über Konstantinopel deutlich geworden. Dies machte sich der türkische Staatspräsident Recep Erdogan 2015 anlässlich einer Kundgebung zum 562. Jahrestages der Eroberung Konstantinopels in Istanbul zu eigen: „Eroberung heißt Mekka. Eroberung heißt Sultan Saladin, heißt, in Jerusalem wieder die Fahne des Islams wehen zu lassen.“ (Yücel 2015) Demgegenüber wird Wladimir Putin zitiert: „Falls Erdogan nicht aufhört, Terroristen in Syrien zu unterstützen, werde ich [...] Konstantinopel (Istanbul) wieder christlich machen.“ (AWDnews 2016) Was davon satirisch gemeint ist, sei dahingestellt.

Literatur

AWDnews (2016), 03.03.2016; awdnews.com.

Mike Davis (2007): Planet der Slums. Berlin: Assoziation A.

Department of Economic and Social Affairs (DESA (2014): World Urbanization Prospects – The 2014 Revision. New York: United Nations.

dpa (2012): Aleppo in Not – Die Stadt im Krieg ist die Hölle. merkur.de, 1.8.2012.

Michel Foucault (2003): „Society Must Be Defended“. Lectures at the College de France, 1975-76. London: Allen Lane.

Matthias Garschagen and Patricia Romero-Lankao (2013): Exploring the Relationships between Urbanization Trends and Climate Change Vulnerability. Climatic Change, Volume 133, Issue 1, S.37-52.

Stephen Graham (2011): Cities Under Siege – The New Military Urbanism. London: Verso.

Christian Grothoff and J.M. Porup (2016): The NSA’s SKYNET program may be killing thousands of innocent people. Ars Technica, 16.2.2016.

Dietrich Henkel (2013): Urbizid – Stadtmord. In: Leon Hempel, Marie Bartels und Thomas Markwart: Aufbruch ins Unversicherbare – Zum Katastrophendiskurs der Gegenwart. Bielefeld: transcript, S.397-420.

Manfred Konukiewitz (2008): Megastädte – Das Jahrtausend der Städte. Magazin zur Entwicklungspolitik, Nr. 68, 9/2008.

Mark P. Mills and Peter W. Huber (2002): How Technology Will Defeat Terrorism. City Journal, Winter 2002.

National Audit Office/NAO (2015): E-borders and successor programmes. Report by the Comptroller and Auditor General, ordered by the House of Commons. 1.12.2015.

Florian Rötzer (2016): Eine Stadtmauer gegen Terroristen für Bagdad. Telepolis, 05.02.2016.

Steven Runciman (1990): Die Eroberung von Konstantinopel 1453. München: C.H. Beck, 4. Auflage.

Raniah Salloum (2016): Schlacht um Aleppo – Der Vier-Fronten-Krieg. SPIEGEL Online, 16.2.2016.

Jürgen Scheffran (2015): Vom vernetzten Krieg zum vernetzten Frieden – Die Rolle von Wissenschaft und Technik. FIfF-Kommunikation 3/2015, S.34-38.

Oliver Tamminga (2015): Hybride Kriegsführung, SWP-Aktuell 27, März 2015.

Deniz Yücel (2015): Erdogan schwärmt von der Eroberung Jerusalems. DIE WELT, 31.5.2015.

Jürgen Scheffran ist Professor für Geographie und Leiter der Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit an der Universität Hamburg. Er ist Mitglied der Redaktion von Wissenschaft und Frieden.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2016/2 Stadt im Konflikt – Urbane Gewalträume, Seite 6–10