W&F 2016/2

Städte als Ziele kriegerischer Gewalt

von Regina Hagen

Die vorliegende Ausgabe von W&F mit ihrem Schwerpunkt » Stadt im Konflikt – Urbane Gewalträume« enthält Artikel zu ganz unterschiedlichen Aspekten von Krieg, Konflikt und Gewalt im Zusammenhang mit Städten. Aktuell sind wir in den Medien fast täglich konfrontiert mit Bildern zerstörter Städte oder Stadtteile in Syrien, im Irak oder im türkischen Kurdistan. Aus gutem Grund sagt Alfred Marder in seinem Artikel über die Friedensbotschafter-Städte: „Es kann gar nicht oft genug wiederholt werden: Die Städte und die Menschen in den Städten sind die Ziele der modernen Kriegsführung mit all ihren Schrecken. Wenn Krieg herrscht, können Städte ihren Dienst an den Bürgern nicht mehr erbringen – und sie können ihre Bürger nicht schützen.“

Dies gilt für den konventionellen, auch den asymmetrischen, Krieg, aber erst recht für den Einsatz von Atomwaffen. Hiroshima und Nagasaki wurden im August 1945 jeweils von nur einer, nach heutigen Maßstäben »kleinen«, Bombe zerstört. Nicht auszumalen wären die Folgen, würde eine nukleare Bombe mit hoher Sprengkraft über einer Stadt wie New York, Moskau, New Delhi oder Shanghai gezündet. Die internationale Städteorganisation Mayors for Peace (Bürgermeister für den Frieden) organisierte vor diesem Hintergrund vor knapp zehn Jahren die Petition »Cities Are Not Targets« – Städte sind keine Ziele. Mit dem Aufruf konnten die Bürgermeister weltweit mehr als eine Million Bürger aktivieren, Gehör bei den Atomwaffenstaaten fanden sie nicht.

US-Präsident Obama wird Ende Mai 2016 zum G7-Gipfel in Japan sein. Wäre es nicht an der Zeit, dass er bei dieser Gelegenheit auch nach Hiroshima reist, um dort noch vor Ende seiner Amtszeit den Opfern der Atombombe(n) die Ehre zu erweisen? Dies wäre ein richtiger und längst überfälliger Schritt, auch wenn er an der grundsätzlichen Lage nichts ändern würde: Sämtliche Atomwaffenstaaten rüsten kräftig auf, alleine die USA planen für die nächsten 30 Jahre mehr als eine Billion US$ dafür ein. Dabei hatten doch zumindest die fünf anerkannten Mitglieder des nuklearen Clubs im Nichtverbreitungsvertrag versprochen, zügig über die vollständige Abrüstung von Atomwaffen zu verhandeln. Der Vertrag trat vor 46 Jahren in Kraft, auf die Verhandlungen warten wir heute noch.

Das erzürnt nicht nur FriedensaktivistInnen, sondern auch die Regierungen zahlreicher Staaten, und animierte die Marshall Islands vor zwei Jahren dazu, vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag Klageverfahren einzureichen (mehr unter nuclearzero.org). Dabei geht es keineswegs um finanzielle Kompensation für die immensen Schäden, die die Marshall Islands durch 67 Atombombentests über ihrer Inselgruppe erlitten. Vielmehr soll der IGH alle Atomwaffenstaaten zur Rechenschaft ziehen, weil sie ihrer völkerrechtlichen Verpflichtung zur Abrüstung aus dem Nichtverbreitungsvertrag bzw. dem sich daraus ergebenden Völkergewohnheitsrecht seit fast fünf Jahrzehnten nicht nachkommen. Genau dies hatte der IGH in einem wegweisenden Rechtsgutachten bereits 1996 festgestellt: „Es gibt eine Verpflichtung, Verhandlungen […] fortzusetzen und abzuschließen, die zu atomarer Abrüstung in allen ihren Aspekten unter strikter und effektiver internationaler Kontrolle führen.“ Ob der IGH die Klage der Marshall Islands annehmen wird, ist offen; eine siebentägige Anhörung zum Fall fand im März 2016 statt.

In den vergangenen Jahren wurde in mehreren Studien detailliert untersucht, was eine Atombombenexplosion konkret für eine Stadt bedeuten würde, z.B. für Bombay, Rotterdam, Lyon oder München. Mithilfe der einfach zu bedienenden Website nuclearsecrecy.com/nukemap können Sie die Folgen eines Atombombeneinsatzes auf Ihre Stadt selbst erkunden. Ich habe das für Den Haag getan, und zwar mit 170 Kilotonnen, das entspricht der maximalen Sprengkraft des US-Bombentyps B61-4, von dem bis heute knapp zwei Dutzend in den Niederlanden vorgehalten werden (so wie in Deutschland auch). Das Ergebnis lautet 284.180 Tote und 269.240 Verletzte. Den Haag beherbergt neben dem im Friedenspalast untergebrachten IGH zahlreichere andere mit dem Völkerrecht verbundene Institutionen, u.a. den Internationalen Strafgerichtshof, den Ständigen Schiedshof und die Organisation für das Verbot chemischer Waffen. All diese mühsam erkämpften Einrichtungen würden mit den BewohnerInnen hinweggefegt, ebenso wie alles andere, was städtisches Leben lebenswert macht: Infrastrukturen, Museen und Konzertsäle, Fußballstadien und Parks, Kinderspielplätze und, ja, die auch, Krankenhäuser.

Es besteht also kein Zweifel: Städte sind höchst verwundbare Ziele. Dazu braucht es keine Atomwaffen, wie die jüngsten Terrorangriffe in Brüssel und Paris zeigen, und urbane Gewalt wirkt, wie im diesem Heftschwerpunkt beschrieben, auch in ihren »alltäglichen« Ausprägungen fatal. Es gibt also viele Betätigungsfelder für ForscherInnen, AktivistInnen und PolitikerInnen, um für friedliche Städte zu sorgen und ihre BewohnerInnen zu schützen – und die in ländlichen Regionen natürlich auch.

Ihre Regina Hagen

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2016/2 Stadt im Konflikt – Urbane Gewalträume, Seite 2