W&F 2010/3

Stationen der Eskalation

von Michael Haid

Wie konnte es in Afghanistan nur soweit kommen? Das fragt sich inzwischen so mancher, nicht nur aus der Friedensbewegung. Dieser Beitrag fasst die wesentlichen Eskalationsschritte der letzten Jahre sowie einige der wichtigsten Daten und Fakten zum Krieg in Afghanistan zusammen.

Im August 2003 übernahm die NATO das Kommando über die International Security Assistance Force (ISAF) in Afghanistan. Anfangs wurde der Einsatz noch als »Stabilisierungsmission« bezeichnet, im Laufe der Jahre wurde der Operationsschwerpunkt jedoch immer deutlicher in Richtung offensiver Aufstandsbekämpfung verschoben. Dazu trug u.a. die im Jahr 2006 getroffene Entscheidung bei, das ISAF-Aktionsgebiet auf den schwer umkämpften Süden und Osten des Landes auszuweiten. Nahezu zeitgleich erfolgte die Änderung der Einsatzregeln, die für Afghanistan lange Zeit vorschrieben, dass Waffengewalt ausschließlich zur Selbstverteidigung nach einem erfolgten Angriff eingesetzt werden durfte. Seit Anfang 2006 ist auch die aktive Bekämpfung von Widerstandsgruppen erlaubt. Hinzu kommen massive Truppenerhöhungen – inzwischen ist die Zahl der in Afghanistan stationierten NATO-Soldaten auf 119.500 angestiegen. Außerdem kämpfen dort noch ca. 30.000 Soldaten unter alleinigem US-Kommando (Stand: 7.6.2010). Der Einsatz hat sich grundsätzlich verändert, wie die Stiftung Wissenschaft und Politik nüchtern feststellt: „In ganz Afghanistan hat sich die ISAF-Mission seit 2006 von einer reinen Stabilisierungsoperation zu einem Einsatz mit dem Schwerpunkt Aufstandsbekämpfung entwickelt.“ 1

Per Salamitaktik in den Krieg

Da der Krieg in Afghanistan von der großen Mehrheit der deutschen Bevölkerung abgelehnt wird, sieht sich die Bundesregierung zu einer Salamitaktik gezwungen. Anfang 2007 wurde entschieden, Bundeswehr-Tornados im Süden und Osten Afghanistans einzusetzen. Diese liefern Zieldaten, auf deren Grundlage anschließend Bombardierungen erfolgen. Am 30. Juni 2008 übernahm die Bundeswehr die »Quick Reaction Force« (QRF), 250 Soldaten wurden im Norden und Westen Afghanistans eingesetzt. Ihre Aufgabe ist primär die Bekämpfung Aufständischer. Im Herbst 2008 wurde das Bundeswehr-Kontingent dann erneut, diesmal von 3.500 auf 4.500 Soldaten, vergrößert.

Im Sommer 2009 die nächste Eskalation: Die Bundeswehr beteiligte sich mit 300 Soldaten an der Operation Adler. Sie sollte im Raum Kunduz ein Gebiet »befreien«, das zuvor von Aufständischen erobert worden war. Dabei kam erstmals seit 1945 von deutscher Seite wieder schweres Gerät (Mörser und Schützenpanzer) zum Einsatz. Nahezu zeitgleich erfolgte die Anpassung der »Nationalen Klarstellungen« zum Nato-Operationsplan. In einer so genannten Taschenkarte zusammengefasst regeln sie, wann die Soldaten in Afghanistan Gewalt einsetzen dürfen. Im Juli 2009 wurden die diesbezüglichen Grenzen erheblich gelockert, indem folgender Satz gestrichen wurde: „Die Anwendung tödlicher Gewalt ist verboten, solange nicht ein Angriff stattfindet oder unmittelbar bevorsteht.“ 2 In gewisser Weise ist deshalb die Tragödie des Luftangriffes auf die Tanklaster bei Kunduz im September 2009, dem über 140 Menschen zum Opfer fielen, eine Folge der sukzessiven Brutalisierung des deutschen Vorgehens in Afghanistan.

Der bislang letzte wesentliche Schritt ist die nochmalige Kontingentserhöhung von 4.500 auf nunmehr 5.350 Soldaten. Damit steigen die offiziellen jährlichen Kosten des Einsatzes auf 1.059 Mrd. Euro – laut Berechnungen des Deutschen Intituts für Wirtschaftsforschung belaufen sich diese real allerdings auf 2.5 bis 3 Mrd. Euro jährlich.3

Das Drama in Zahlen

In welchem Ausmaß der Krieg in Afghanistan in den letzten Jahren eskaliert ist, lässt sich anhand der so genannten »Sicherheitsvorfälle« ermessen. Sie beschreiben die bewaffneten Zusammenstöße westlicher Truppen mit dem afghanischen Widerstand. Wurden im Jahr 2005 noch etwa 1.750 Vorfälle gemeldet, so stieg diese Zahl von 3.500 (2006) über 6.000 (2007) auf 10.000 (2008) und 16.000 (2009) dramatisch an – Tendenz 2010 weiter steigend. Innerhalb von fünf Jahren haben sich die Kampfhandlungen also verzehnfacht.

Analog hierzu steigen auch die Opfer des Krieges. Angaben der Vereinten Nationen zufolge fielen dem Krieg – bei hoher Dunkelziffer – im Jahr 2006 insgesamt 929, im Folgejahr schon 1.523, dann 2.118 und schließlich, 2009, 2.259 afghanische Zivilisten zum Opfer. Auch unter den westlichen Truppen steigt die Zahl der Toten, 1.811 waren es bislang, 1.103 davon stammten aus den USA, 42 aus Deutschland (Stand: 10.6.2010).4

Vor diesem Hintergrund sollte sich die Erkenntnis durchsetzen, dass ein Ausstieg aus der beschriebenen Eskalationsspirale durch einen sofortigen Truppenabzug dringend erforderlich ist. Leider scheint dies derzeit aber in den Überlegungen kaum eine Rolle zu spielen.

Anmerkungen

1) Noetzel, Timo/Zapfe, Martin: Aufstandsbekämpfung als Auftrag: Instrumente und Planungsstrukturen für den ISAF-Einsatz, SWP-Studie, Mai 2008, S.15.

2) Neue Regeln erlauben Deutschen offensiveres Vorgehen, Spiegel Online, 04.07.2009.

3) Brück, T. u.a.: Eine erste Schätzung der wirtschaftlichen Kosten der deutschen Beteiligung am Krieg in Afghanistan, Wochenbericht des DIW Berlin 21/2010, S.2-11.

4) Vgl. Campbell, Jason H./Shapiro, Jeremy: Afghanistan Index. Tracking Variables of Reconstruction & Security in Post-9/11 Afghanistan, Brookings Institution, 11.06.2010.

Michael Haid ist Politikwissenschaftler und Vorstandsmitglied der Informationsstelle Militarisierung.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2010/3 Afghanistan: Krieg ohne Ende, Seite 22