Stell dir vor, es ist Krieg…
Diskursive, kognitive und affektive Militarisierung
von Claudia Brunner
Kriegslogik und Militarisierung sickern in jedes Verhältnis und beeinflussen auch die Möglichkeitsräume für Friedensforscher*innen. In der Öffentlichkeit sind überwiegend Stimmen zu hören, die militärische Logik und Praxis erklären und rechtfertigen. Doch es ist alles andere als naiv zu sagen, dass eine andere Welt möglich ist und dass Krieg sofort gestoppt werden muss – in der Ukraine, in Syrien, im Jemen und überall. Eine kritische Intervention zur vielfältig diskursiven, kognitiven und affektiven Militarisierung, die uns umgibt.1
Selbst unter Friedensforscher*innen herrscht keine Einigkeit, wenn Bomben fallen. So auch rund um den Krieg in der Ukraine. Journalist*innen wollen von uns wissen, wie man ihn beendet, ob die Friedensforschung dafür ein Rezept habe, und wenn nicht, ob sie jetzt endgültig diskreditiert sei mit ihrer pazifistischen Naivität. In der Öffentlichkeit sind überwiegend Stimmen zu hören, die militärische Logik und Praxis erklären und rechtfertigen. Auch im jüngsten Krieg auf dem europäischen Kontinent ist dieses Phänomen zu beobachten. Es fügt sich ein in eine breite diskursive, kognitive und affektive Militarisierung, die auch diesen Krieg mit hervorgebracht hat und am Laufen hält.
… und Zweifel erscheint schon als Kollaboration
In Zeiten der Militarisierung der EU wird deren genuiner Friedenscharakter umso vehementer beschworen. Damit diese Erzählung funktioniert, bedarf es zahlreicher, von Christa Wolf so genannten „Vorkriege“ (Wolf 1983, S. 76) oder auch Nebenkriege, Terrains der diskursiven, kognitiven und affektiven Militarisierung, die nicht zuletzt aufgrund Europas eigener Gewaltgeschichte in kürzester Zeit mobilisiert werden können. Marlene Streeruwitz spricht in ihrem »Handbuch gegen den Krieg« von einer „Grammatik des Krieges“, die wir zu verstehen und zu erlernen hätten: Diese Grammatik mache uns selbst zur Beute der Kriegsführenden, weil wir diesen auch mit unserem Humanitarismus und unserer Empörung zuarbeiten (Streeruwitz 2022, S. 19).
In diesem Dilemma steckt auch die aktuelle Debatte, die zugleich einen strategischen Faktor in jedem Kriegsgeschehen darstellt. Kriegsgegner*innen in Russland erwarten drakonische Strafen für auch nur minimalen Widerspruch, antimilitaristische Stimmen in der Ukraine erfahren massive Diskreditierung von ihren Landsleuten. Weder die einen noch die anderen bekommen wir hierzulande im öffentlich-rechtlichen Rundfunk oder auch in privaten Medien zu hören – die für die Meinungsvielfalt und Diversität des europäischen Friedensprojekts zu stehen vorgeben.
Zwischen Bregenz und Eisenstadt, zwischen Hamburg und München ist das Risiko, sich gegen den dominanten Diskurs des Krieges zu äußern, bedeutend geringer – und dennoch setzen sich an der Kampfrhetorik und an den entsprechenden politischen Entscheidungen zweifelnde Stimmen kaum durch, werden oft unhörbar oder lächerlich gemacht. Auch hier setzt sich die vom Krieg ausbuchstabierte Grammatik der Macht durch, oft schon in vorauseilendem Gehorsam. Sie tut es in Wort und Bild, in Vernunft und Gefühl, im politischen Diskurs und in unserem vermeintlich unpolitischen Alltag. Doch wie funktioniert und woran erkennen wir sie?
… und alles wird blau-gelb
Eine ebenso harmlos erscheinende wie frappierende Veränderung war schon in den letzten Februartagen des vergangenen Jahres unübersehbar: die umfassende blau-gelbe Einfärbung des öffentlichen Raums. Von der frisch gestrichenen Mauer hinter dem sowjetischen Denkmal auf dem Wiener Schwarzenbergplatz über das Brandenburger Tor in Berlin bis zu Kaffeetassen und Schokoladeverpackungen. Und es sind nicht mehr die gelben Sterne auf blauem Grund, die 2014 den Kiewer Maidan säumten. Wer heute im Namen des Friedens auf die Straße geht oder in der Öffentlichkeit auftritt, tut dies bis auf wenige Ausnahmen mit der ukrainischen Nationalflagge. Befremdlich ist die Unbekümmertheit, mit der global denkende oder sich als »links« bezeichnende, überwiegend nationalismusskeptische Personen, Gruppen und Institutionen im Namen des Friedens der visuellen Grammatik des Nationalen folgen und sie sich dabei auch zu eigen machen.
Allerorten in Europa prangen blau-gelbe Embleme auch am Revers jener, die zuvor noch behaupteten, Nationalismus sei der Feind des europäischen Projekts im Speziellen und des Friedens im Allgemeinen. Getragen von einem eigentümlichen Ersatz-Nationalismus scheint es vielen nur allzu leicht zu fallen, sich in eine der breiten Bevölkerung bis vor kurzem unbekannte Flagge zu hüllen. Ausgerechnet über eine nationale symbolische Ebene positioniert man sich für einen – im Zweifelsfall auch bewaffneten – Frieden, während man selbst weiterhin behaupten kann, mit Nationalismus und Militarismus nichts am Hut zu haben. Das bunte Regebogenspektrum einstiger Friedensfahnen ist deutlich seltener zu sehen. Olivgrün hingegen immer öfter.
… und Politiker*innen tragen Camouflage
Nicht nur Flaggen, auch Tarnfarben sind Teil der Normalisierung des Militärischen. Wenn der ukrainische Präsident allabendlich in die Kamera der Weltöffentlichkeit blickt, um militärische Unterstützung zur Verteidigung seines Landes zu fordern, trägt er konsequent Camouflage. Nicht die des Oberbefehlshabers einer nationalstaatlichen Armee jedoch, sondern die des einfachen ukrainischen Soldaten, dessen Desertionsversuch zugleich mit langen Haftstrafen geahndet wird. Tarnfarben trägt die österreichische Ministerin für Landesverteidigung nicht bei ihrer Ansprache zum Nationalfeiertag 2022 eines der letzten qua Verfassung neutralen Staaten der Welt. Doch ihre Rede ist »vom selben Ton«. Sie fordert unmissverständlich den Paradigmenwechsel vom einstigen Motto des österreichischen Bundesheeres „Schutz und Hilfe“ zum neuen Credo „Mission Vorwärts“, das sich quer über die Bühne auf dem Wiener Heldenplatzes erstreckt. An dieser Mission hat sich die gesamte Gesellschaft zu beteiligen, von der von ihr begrüßten anwesenden Zivilbevölkerung über die anzugelobenden Rekrut*innen bis zu den hohen kirchlichen Würdenträgern, mit deren Begrüßung sie – „so wahr [ihr] Gott helfe“, auch das ein Zitat – ihre patriotische Festansprache einleitet. Das Zivile wird in den Reden beider (und vieler anderer Politiker*innen) in sein Gegenteil verkehrt, um das Militärische zu legitimieren und quasi-natürlich erscheinen zu lassen. Kriegspropaganda hat viele Gesichter.
… und alle denken wie das Militär
Es wird nicht mehr Krieg geführt, sondern Frieden geschaffen, statt von Herrschaft ist von Governance die Rede – im Namen von Menschenrechten, Demokratie und Zivilisation. Aktuell ist dies an der Debatte über die sogenannte feministische Außen-, Entwicklungs- und Friedenspolitik der Bundesrepublik Deutschland gut abzulesen. Diese ist erst seit dem Frühjahr 2022 ein Thema von Politik und Feuilleton, obwohl feministische Wissenschaftler*innen davon seit vielen Jahren sprechen. Der Kernpunkt der akademischen und aktivistischen Argumentation jedoch, die Kritik an Militarismus und Krieg als Mittel der Politik, bleibt heute ausgespart. Kein Zufall, denn „Wissenschaft als Herrschaftsdienst“ (Pappé 2011) hat seit der Spätphase des europäischen Kolonialismus Geschlechterfragen besonders gern und gut mit der ihm eigenen »Zivilisierungsmission« zu verbinden gewusst (Brunner 2016). Auch über Geschlechterfragen wie etwa die aktuell heiß diskutierte feministische Außenpolitik Deutschlands wird betreffend den Krieg in der Ukraine Gewaltfreiheit zur Gewissensverweigerung verharmlost und Antimilitarismus als Gesinnungsethik diskreditiert.
Auf diesem diskursiv-kognitiv-affektiven Terrain bewegt sich auch der französische Präsident, wenn er bei einem Staatsbesuch in den USA Ende 2022 unverblümt von den Waffenbrüdern spricht, die man dies- und jenseits des Atlantiks wieder zu sein habe. Doch auch sich einst als antimilitaristisch oder gar pazifistisch bezeichnenden Politiker*innen sowie Teilen der einstigen Friedensbewegung und daraus hervorgegangener Organisationen gelingt heute der Spagat zwischen dem Bezug auf Menschenrechte und humanistische Werte auf der einen und der bewaffneten Beteiligung an Kriegen sowie der Fortsetzung kapitalistischer Ausbeutungsverhältnisse auf der anderen Seite bemerkenswert leichtfüßig. Helmut Krieger nennt sie, und meint damit vor allem die Grünen, die „Modernisierer*innen imperialer Verhältnisse“ (Krieger 2022).
… und wir sind schon dort/da
In Zeiten global sinkender Lohnquoten, Überakkumulation von Kapital und damit schwächelnder binnenwirtschaftlicher Nachfrage ist Rüstung auch ein Wachstumsmotor – und damit auch im Interesse der EU und vieler ihrer Mitgliedstaaten (Solty 2022). Daher explodieren die europäischen Ausgaben für Rüstung und Militär nicht erst seit einem Jahr. Unter dem Label einer europäischen Globalstrategie in Sachen Sicherheits- und Friedenspolitik – und ganz im Sinne US-amerikanischer und auch eigener ökonomischer Interessen – schichtet die EU seit Ende 2016 zig Milliarden Euro in Richtung Rüstungsforschung um.
Zumal Maßnahmen mit militärischen und verteidigungspolitischen Bezügen laut EU-Vertrag nicht zu Lasten des Unionshaushaltes gehen dürfen, kommen laut Thomas Roithner (2019) dabei drei Kniffe zur Anwendung: Erstens eine Um-Etikettierung von Rüstungsforschung als Industrie- und Wettbewerbsförderung, zweitens eine außerhalb der EU, aber zwischen einzelnen Mitgliedstaaten etablierte Struktur für spezielle Kooperationen zur Rüstungsforschung und -produktion, und drittens die europäische »Friedensfazilität« (der verharmlosende Begriff will sagen: Ermöglichung von Frieden), ein milliardenschweres Budget außerhalb des regulären Unionshaushalts. Mit diesem werden globale Militäreinsätze finanziert, die im Interesse der EU liegen, aber nicht von der EU selbst durchgeführt werden (können). Wie praktisch, wenn sich zur Rechtfertigbarkeit dieser Budgetpolitik ein Krieg vor der Haustür abspielt, an dem einige auch gut verdienen.
… und Europas Rassismus ist kriegslogisch
Europäische Asyl- und Migrationspolitik ist seit jeher von einem klassenbasierten und vergeschlechtlichten Rassismus gekennzeichnet. Ausgerechnet durch die Präsidenten Russlands und Belarus’, die wir ihrerseits gern als rassistisch und menschenverachtend bezeichnen, wird dieser Rassismus – nicht nur in den Wäldern zwischen Polen und Belarus – den vermeintlich wertefesten Europäer*innen heute unübersehbar vor Augen geführt. Denn allzu offensichtlich steht die vor einem Jahr erfolgte Grenzöffnung an der EU-Außengrenze für ukrainische Frauen, Alte und Kinder auf brutal komplementäre Weise der seither noch engmaschigeren Grenzschließung für junge Männer gegenüber, die nicht nur den »falschen« Pass, sondern zumeist auch die »falsche« Haut- und Haarfarbe mit auf die Flucht nehmen müssen.
Auch Menschen, die seit Jahren in der Ukraine leben, arbeiten oder studieren und einen offensichtlich unmittelbaren Grund für ihre Flucht vor Krieg, nämlich jenem in der Ukraine, haben, werden nicht als Kriegsvertriebene mit entsprechenden Rechten in die EU eingelassen. Ihr Schicksal scheint viele EU-Bürger*innen weit weniger aufzuwühlen als jenes von flüchtenden ukrainischen Staatsbürger*innen.
Während Letztere über rassistische, vergeschlechtlichte und kulturalisierte Rahmungen zu quasi-biologischen und »kulturell indigenen« Europäer*innen gemacht werden, wird Ersteren die Kompatibilität mit »europäischem Leben« und demokratischen Werten entlang desselben Schemas abgesprochen.
Helles Haar und helle Haut helfen allerdings wenig, wenn sie zu einem Kriegsdienstverweigerer gehören. Wenngleich ein russischer Deserteur aus Sicht der EU eigentlich dem »Feind« davonläuft und sich um einen hohen Preis nicht nur gegen Putins Politik stellt, sondern unmissverständlich auf die Seite von Demokratie, Menschenrechten und Freiheit, ist er in den meisten Staaten der EU alles andere als willkommen. Ausgerechnet für ihn tritt an deren Grenzbalken ein beinahe automatischer Schließmechanismus in Kraft. Das Dilemma wird noch offensichtlicher, will ein ukrainischer Soldat den Kriegsdienst verweigern und die EU-Außengrenze überschreiten. Als Ukrainer sollten wir ihn willkommen heißen, als Deserteur zurückschicken?
… und wir sagen NEIN!
Auch antimilitaristische Friedensforschung ist nicht in der Lage, Kriege zu beenden. Nicht einmal dann, wenn Politiker*innen bereit wären, ihren Empfehlungen zu folgen. Es braucht eine große und laute Öffentlichkeit, die sich nicht nur der Praxis des Krieges, sondern der gesamten Logik von »Krieg und Frieden« zu widersprechen und zu widersetzen beginnt. „Stoppt den Krieg!“ lautet die erste Botschaft, die man in Friedensbewegungen auf Transparente schreibt. Und „Frieden jetzt!“ ist eine zutiefst legitime Forderung, auch wenn sie häufig kein ausgearbeitetes Programm zur politischen Umsetzung mitliefert. Es ist alles andere als naiv zu sagen, dass eine andere Welt möglich ist und dass Krieg sofort gestoppt werden muss – in der Ukraine, in Syrien, im Jemen und überall. Diese Forderungen sind überlebensnotwendig, nicht nur für jene Menschen, die unmittelbar von Vernichtung und Zerstörung bedroht sind.
Bei (Anti-)Militarismus geht es nicht nur um die heute viel diskutierte Frage, unter welchen Bedingungen welche Art von Gewalt notwendig, welche Art von Militäreinsatz legitim, welches Rüstungsbudget angemessen ist. Wir müssen verstärkt aufzeigen, wie für militärische Gewalt Akzeptanz geschaffen wird, wie ihre Logik in uns selbst einsickert – und was dabei aus dem Raum des Sag- und Verhandelbaren verschwindet, ja bisweilen sogar aus den uns angemessen erscheinenden Affekten.
Ein solcher Antimilitarismus diskutiert eben nicht nur den je aktuellen Krieg, das Militär als Organisationsform des nationalstaatlichen Gewaltmonopols, sondern den internationalen Militarismus in seinem Beitrag zur Aufrechterhaltung von patriarchal-kapitalistischen Herrschafts- und Ausbeutungsstrukturen ebenso wie von Privilegien und Profiten im globalen Maßstab einer anhaltenden Kolonialität und Imperialität.
Wir alle sind diskursiv, kognitiv und affektiv Teil des Krieges in der Ukraine geworden, auch wenn wir in unterschiedlicher Weise und Härte von ihm be- und getroffen sind. Nutzen wir diese unterschiedlichen Positionierungen und das Privileg, (noch) nicht unmittelbar vor Bomben davonlaufen zu müssen, um den Rahmen der Debatte wieder zu weiten für die Arbeit an einer echten Friedenslogik, die diesen Namen auch verdient.
Anmerkung
1) Ich danke der Grazer Initiative für Frieden und Neutralität für eine Vortragseinladung im Dezember 2022, die den Anlass zur Ausformulierung einer Langversion dieser Überlegungen bildete.
Literatur
Brunner, C. (2016): Expanding the combat zone. Sex-gender-culture talk and cognitive militarization today. International Feminist Journal of Politics 18(3), S. 371-389.
Krieger, H. (2022): Krieg und Wissen (KnowWar), Imperialismus, Ressourcen-Kriege, Jemen, Palästina. Interview mit Josef Mühlbauer, Varna Peace Institute.
Pappé, I. (2011): Wissenschaft als Herrschaftsdienst? Der Kampf um die akademische Freiheit in Israel. Hamburg: Laika.
Roithner, T. (2019): Vortrag zur Militarisierung der EU. Videoaufzeichnung, YouTube Zivilklauseltagung 2019.
Solty, I. (2022): Wer verdient am Krieg? RLS News, 31.8.2022
Streeruwitz, M. (2022): Handbuch gegen den Krieg. Wien: bahoe books.
Wolf, C. (1983): Kassandra. Erzählung. Darmstadt: Verlag.
Claudia Brunner ist Professorin am Zentrum für Friedensforschung und Friedensbildung, Institut für Erziehungswissenschaften und Bildungsforschung, Universität Klagenfurt. Zu Person und Arbeitsschwerpunkten siehe www.epistemicviolence.info.