Streit um den Frieden
Die alte Bundesrepublik zwischen Krieg und Frieden
von Claudia Kemper
Ein halbes Jahrhundert im Frieden … Im Vergleich zur deutschen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lässt sich vor allem für die Bundesrepublik eine Erfolgsgeschichte konstatieren – einerseits. Andererseits erlebte die Bevölkerung in beiden deutschen Staaten viele Phasen als einen weder ganz friedlichen, noch kriegerischen Zustand. So warf der Zweite Weltkrieg einen langen Erinnerungsschatten auf beide deutsche Nachkriegsgesellschaften und erstreckte sich in Überresten als Ordnungsmuster zum Teil bis weit in die Zeit nach 1945. Gleichzeitig trat ein neues Ordnungsmodell hinzu: der Kalte Krieg.
Die Neuere Militärgeschichte integriert in ihren mehrdimensionalen Arbeiten zum Krieg Erkenntnisse der Gewaltsoziologie, sodass auch Gewalterfahrungen und Gewaltordnungen jenseits kriegerischer Operationen in den Blick rücken (Kühne und Ziemann 2000; Ziemann 2002). Aus beiden Forschungsrichtungen inspiriert und kulturgeschichtlich erweitert kann auch der Kalte Krieg als eine global wirksame Gewaltordnung definiert werden. Diese schrieb nicht nur in Form der Rüstungsspirale einen totalen Krieg als Zukunftsoption fest, sondern sie drang mit ihren kriegerischen Unterscheidungskategorien von Freund/Feind und Sieg/Niederlage oder mit dem Anspruch auf technische und gesellschaftliche Überlegenheit tief in die gesellschaftlichen Poren ein. In seiner totalen Konfrontationslogik lässt sich der Kalte Krieg auch als Simulation eines Krieges verstehen, bei dem der Einbildungskraft der Menschen Gewalt angetan wurde (Bernhard, Nehring und Rohstock 2012, S. 14; Geyer 1990).
Der Abwurf der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki im August 1945 markiert den Überschneidungspunkt des alten und neuen Krieges. Entwicklung und Bau der Hiroshima-Bombe folgten unmittelbar den Dynamiken im Zweiten Weltkrieg, ihr Abwurf beeinflusste dessen Ende im Pazifik aber kaum. Vielmehr lässt sich für das internationale Mächteverhältnis der Beginn des Kalten Krieges auf diesen August datieren, allein weil die Sowjetunion schon längst damit beschäftigt war, ebenfalls eine Atombombe zu bauen. In der deutsch-deutschen Wahrnehmung begann der Kalte Krieg vor allem in Form zunehmender Drohgebärden am Grenzzaun. Dort wurde die Spannung zwischen sowjetischen und US-Besatzern mit konventionellen Waffen und geschlossenen Toren demonstriert – die erste Berlinkrise 1948/49 war hierfür zentral.
Enger Bezug von Demilitarisierung und Aufrüstung
In der unmittelbaren Nachkriegsphase, als die Alliierten noch eine gemeinsame Politik gegenüber dem besiegten Aggressor vertraten, setzten sie eine nahezu vollständige Abrüstung in Deutschland durch. Die berühmten fünf Ds, darunter »disarmament« (Entwaffnung) und »demilitarization« (Entmilitarisierung), mit denen die westlichen Besatzungszonen überzogen wurden, waren Maßnahmen, um Gewalt zu beenden und neue zu vermeiden (Benz 1989, S. 30 f.). Im November 1945 wurde in Deutschland jede militärische Ausbildung verboten; im August 1946 folgte die offizielle Auflösung der Wehrmacht1; im Dezember 1946 wurden Herstellung, Einfuhr oder Ausfuhr von Kriegsmaterial verboten. Die während der Kriegszeit etablierten »Waffenschmieden« wurden in Ostdeutschland meist komplett demontiert und in Westdeutschland auf zivile Güterproduktion umgestellt (Bontrup und Zdrowomyslaw 1988, S. 129 ff.). All dies sollte zur vollständigen De-Militarisierung beitragen.
Die westdeutsche Nachkriegszeit wäre womöglich deutlich anders verlaufen, u.a. mit einer weitaus früher einsetzenden Aufarbeitung der NS-Verbrechen, wenn sich im Ost-West-Konflikt nicht sogleich eine neue Kriegsordnung herausgebildet hätte. Die CDU unter Konrad Adenauer ließ keinen Zweifel daran, wie sich der so bedrohte Frieden auf eine „wehrhafte Demokratie“ zu stützen habe, die im Kern antikommunistisch ausgerichtet sein musste (Schildt 2015, S. 78 ff.): „Ein Staat, der keine Wehrmacht hat, ist machtlos. Da kann man sagen, was man will. Und Demokratie hin, Demokratie her, wenn Leute da sind, die gegen die Demokratie angehen, und die Demokratie hat nichts, was sie schützt, als ihr Prinzip, dann ist sie eben verloren!“2
Darauf folgte die Phase der »Westernisierung« im Zeichen des Antikommunismus – ein Narrativ, das mit Blick auf den Konflikt um den »inneren Frieden« stärker differenziert werden muss. Denn während der »bedrohte Frieden« seinen Feind im Kommunismus ausmachte, musste der »innere Frieden« vor allem bewahrt werden zur „Stabilisierung einer bestimmten Gesellschaftsordnung bzw. erwünschter Geschlechts- und Geschichtsbilder“ (Rigoll 2014, S. 40). Die Anfeindung, politische Ausgrenzung und Marginalisierung von Pazifistinnen und Pazifisten, Friedensbewegten oder antimilitaristischen Intellektuellen – nicht zuletzt auch eines Bundesinnenministers Gustav Heinemann –, die sich gegen die Wiederbewaffnung einsetzten, zeigten, wie mit dem Label »kommunistische Bedrohung« von offizieller Seite auch sachliche innergesellschaftliche Konflikte übertüncht und stillgelegt werden konnten.
Bei aller antikommunistischen Propaganda wirkten vor allem die Niederschlagung des Aufstands in Ostdeutschland 1953 und der Einmarsch sowjetischer Truppen in Ungarn 1956 auf die öffentliche Meinung zugunsten eines bewaffneten Westdeutschlands. Mit der Berlin-Krise 1961, als sich sowjetische und US-amerikanische Panzer am Checkpoint Charlie gegenüberstanden, und der Kuba-Krise 1962 sollte sich die Mehrheitsmeinung für eine bewaffnete Bundesrepublik endgültig verfestigten. Kurz zuvor noch stand die Bevölkerung konkreten Plänen zur Gründung der Bundeswehr 1955 und der Debatte über ihre atomare Bewaffnung 1957/58 ambivalent gegenüber. Alle Umfrageergebnisse zeigten, dass sich die Mehrheit der Bevölkerung während dieser Zeit zwar gegen die Bedingungen aussprach, unter denen ein deutsches Militär wieder eingeführt werden sollte, aber gleichzeitig einer konservativen Regierung ihre Stimme gab, die sich explizit für die Gründung der Bundeswehr und für die Bündnispflichten in einem westlichen Militärbündnis aussprach (Geyer 2001).
Die Ablehnung einer westdeutschen Armee lag nur zu einem geringeren Teil in der konkreten Ablehnung von Gewaltausübung begründet. Ein größeres Motiv lag in den mehr oder weniger öffentlich diskutierten Regierungsplänen, eine neue Armee fest einzubinden in ein westliches Militärbündnis: Das war bis 1954/55 eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft und, nach deren Scheitern, ab 1955 die NATO. In beiden Fällen war der Preis für die Einrichtung einer westdeutschen Armee der Verzicht auf die Souveränitätsrechte über diese Armee. Die Bundesrepublik hätte keine eigene Armee gründen können, wenn diese nicht auch unter westlicher Aufsicht stand – Beschränkungen, die in der westdeutschen Öffentlichkeit sehr unpopulär waren. Ein Teilnehmer einer Umfrage von 1951 formulierte es so: „Den Dussel möchte ich sehen, der sich jetzt für Ami oder Iwan totschießen lässt. […] Wir haben in einem neuen Krieg nichts zu gewinnen. Für fremde Mächte kämpfen wir nicht. Adenauer etc. sollen sich doch einmal die Köpfe vollhauen.“ (Geyer 2001, S. 287)
Ambivalentes Sicherheitsbedürfnis
Neben den militärpolitischen Neuerungen mit Eintritt in die NATO spielte Mitte der 1950er Jahre vor allem eine neue Form der medialen Berichterstattung über die atomare Bedrohung eine Rolle (Augustine 2012). 1954 verbreitete sich die Nachricht über den außer Kontrolle geratenen Atomwaffentest »Castle Bravo« im Pazifik. Etwa 160 Kilometer vom Bikini-Atoll entfernt und außerhalb der Sperrzone ging auf das japanische Fischerboot »Glücklicher Drache« ein Fallout nieder, der die Besatzung verstrahlte. Die Nachricht vom Unglück verbreitete sich in Japan und auch in Europa und Deutschland. Das Unglück weckte zum ersten Mal Besorgnis, der Umgang mit Atombomben berge unkontrollierbare Gefahren.
Das national gedachte Souveränitäts- und Sicherheitsbedürfnis prägte die Deutschen in den 1950er Jahren auch, als es um die Frage ging, die frisch gegründete Bundeswehr mit Atomwaffen auszustatten. 1956 machte dieses Gerücht die Runde, schon bald bestätigt von Bundeskanzler Adenauer. Die eruptive Mobilisierung gegen diese Pläne verband vor allem der atomare Schrecken, denn etwa zur gleichen Zeit begann eine umfassende Rezeption der Ereignisse von Hiroshima und Nagasaki und ihrer Folgen. Die atomare Bedrohung blieb im deutschen Kontext abstrakt, stand für eine generelle Furcht vor dem »Atomtod« und wurde nicht zum Anlass genommen, konkrete verteidigungspolitische Prämissen in Frage zu stellen (Schildt 2009). Auch wenn sich in dieser Phase die Friedenswissenschaft zu formieren begann, ärgerten ihre kritischen Beiträge zur fatalen Logik der atomaren Abschreckung vor allem die politischen Eliten, stimulierten aber noch nicht in der breiten Öffentlichkeit. Erst mit den veränderten politischen und sozialen Rahmenbedingungen während der 1970er Jahre fanden der friedenswissenschaftliche Diskurs zum Ordnungssystem des Kalten Krieges und neue soziale Bewegungen zusammen.
Ein zunehmendes Sicherheitsbedürfnis bei gleichzeitiger Abwehr militärischer Einrichtungen: Die neu etablierte Friedensordnung der Bundesrepublik wurde mit sehr unterschiedlichen Erfahrungsschichten und Erwartungshorizonten ausgestattet, verband sich mit der unmittelbaren Kriegserfahrung, mit dem Bombenkrieg und den Gewalterfahrungen bei Kriegsende und danach und gleichzeitig mit einem wachsenden Verständnis für die atomare Waffentechnologie.
Für die Frage, unter welchen Bedingungen Friedensideen und Friedenspolitik die Bundesrepublik prägten, darf zudem nicht vergessen werden, dass die Rüstungsindustrie (in beiden deutschen Staaten) seit den 1950er Jahren wieder Fahrt aufnahm, in Westdeutschland vor allem im Rahmen des europäischen Wirtschaftsaufbauprogramms. In Europa hatte im Wesentlichen nur die britische und schwedische Rüstungsindustrie den Krieg überdauert. Nun profitierte die gesamte europäische Rüstungsindustrie von der amerikanischen Unterstützung, die nach dem Ausbruch des Korea-Krieges in Gang gesetzt wurde und auch in Deutschland wirkte. „Der Traum jedes europäischen Herstellers war es, einen Teil des großen amerikanischen Marktes zu erobern.“ (Kaldor 1977, S. 49) Wurden in der Bundesrepublik bis 1955 überwiegend Textilien, optische Geräte und Fernmeldeeinrichtungen produziert, kamen in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre und mit Gründung der Bundeswehr »harte Rüstungsgüter« hinzu, die per Lizenz in Deutschland hergestellt werden konnten (Geyer 2001, S. 211). Bis 1973 folgten technisch komplexe Lizenzproduktionen, darunter der Starfighter F-104G, und erste Eigenproduktionen. Bis Mitte der 1980er Jahre schloss die deutsche Rüstungsindustrie mit der Entwicklung komplexer Waffensysteme in Eigenregie an das internationale Waffenniveau an (Leopard II, Kampfflugzeuge MRCA-Tornado, Panzerabwehrwaffen Milan, Hot, Roland) (Wenzke und Zündorf 2008, S. 106 u. 114 ff.; Kollmer 2002).
Stabilisierung und Unfriede
Die atomare Kriegsordnung zog noch weitere Kreise: Seit der atomaren Waffengleichheit zwischen den USA und der Sowjetunion Anfang der 1950er Jahre war klar war, dass Atombomben keine Siege herbeiführen würden, wie man sie aus konventionellen Kriegen kannte. Deshalb mussten der anderen Seite von nun an zwei Dinge glaubhaft vor Augen geführt werden: die permanente Einsatzbereitschaft atomarer Waffen sowie die eigene Fähigkeit, auf allen, auch konventionellen Ebenen, verteidigungsbereit zu sein. Alle Verteidigungskonzepte – von »massive retaliation« bis »flexible response« – kalkulierten mit der Atombombe und werteten gleichzeitig die konventionellen Streitkräfte wieder auf. Letztlich waren die deutsche Rüstungsindustrie und die Bundeswehr auch ohne atomare Ausstattung von Beginn an ein dynamischer Teil des Wettrüstens und der Bedrohungslagen im Kalten Krieg.
Dies sollte im Hinterkopf behalten, wer auf die Stabilisierung des Ost-West-Konflikts durch die atomaren Waffenarsenale verweist. Die Zeit des Kalten Krieges als „langen Frieden“ (John Lewis Gaddis) zu bezeichnen, ist längst umstritten, teils obsolet, sowohl was die außenpolitische und militärische Bedrohungskonstellation anging als auch die innere Beschaffenheit einer Gesellschaft in ständiger Alarmbereitschaft. Zeitgenössische Kritiker, wie Karl W. Deutsch (Deutsch und Kaiser 1971) oder Dolf Sternberger (1986), prägten Einschätzungen, die auch einer zu stark an binären Codes orientierten Zeitgeschichtsschreibung zu denken geben könnten: „[…] wir wollen den Zustand der Kampflosigkeit bei gleichzeitiger Hochrüstung nicht als einen Zustand des Friedens, eher schon, wie man gesagt hat, des »Schreckensfriedens« oder des »Zitterfriedens«, aber gewiss ebenso wenig als einen Zustand des Krieges bezeichnen, sondern als einen solchen des Unkrieges, wenn die Prägung erlaubt sei; sie entspricht und antwortet dem älteren und vertrautem Wort »Unfriede«.“3
Auf der Makroebene entfaltete sich der Kalte Krieg als eine »Kriegsführungs-Abschreckung«, die sich vorrangig auf den abgestuften Gebrauch von Atomwaffen stützte und schließlich in Wissenschaft, Kultur und öffentlicher Rede fortsetzte: Weder begrenzte Ziele noch begrenzte Mittel bestimmten das strategische Denken (Senghaas 2003, S. 309). Diese brisante Konstellation retrospektiv als Stabilität zu bezeichnen, offenbart eine geradezu den Atem verschlagende geschichtspolitische Hybris.
Friedensordnungen nach 1945
Nicht nur für die unmittelbare Nachkriegszeit und nicht nur mit Blick auf die Friedensbewegung muss gefragt werden: „Wie veränderte sich durch die Erfahrung des Krieges [und seiner Gewalt, CK] das Gefühl für den Zustand des Friedens?“ (Wolfrum 2003, S. 31) Die Sicherheitsbedenken in Ost und West und das Ziel, eine kalkulierbare geostrategische Situation einzurichten, reichen jedenfalls nicht aus, um den zeitgenössischen Begriff des Friedens in Europa und in der Bundesrepublik zu erklären. In der Tat hätte es keinen westdeutschen Staat gegeben ohne eine strikte friedenspolitische Festlegung (Niedhardt 2000, S. 184). Aber im Reden über die eigene Friedlichkeit drückten sich in der Bundesrepublik von Beginn an sowohl die kaum zu hintergehenden außenpolitischen Verpflichtungen im westlichen Bündnis als auch die verfassungsgemäße Selbstvergewisserung angesichts der kriegerischen Vergangenheit aus. In dieser logischen Doppelhelix konnte der „Friedenstreiber“ (Niedhardt 2000, S. 183) Bundesrepublik wieder mit Militär und Waffen ausgestattet und in die NATO integriert werden.
Das bundesrepublikanische Friedensnarrativ wurde durch den Umstand gestärkt, dass die alte Bundesrepublik eine außerordentliche, zeitliche begrenzte Rolle in der internationalen Politik einnahm. Die Friedensordnung der Bundesrepublik hing von der historisch spezifischen Situation nach 1945 ab, die aber keineswegs einen Normalzustand darstellte. Hieraus konnte sich eine Art Traumblase immerwährender autarker Friedlichkeit bilden, wodurch der Blick auf die immer existente gewalttätige und kriegerische Kehrseite des zivilen Lebens nur langsam frei wurde.
Diese Deutung stellt die faktische Kraft von Friedensnormen keineswegs in Abrede, die aber an anderer Stelle wirkten als vordergründig angenommen werden könnte. In ganz Westeuropa verbanden sich nach 1945 mit den Friedensideen die politischen Ziele persönliche Freiheit sowie materielle und soziale Sicherheit (Nehring und Pharo 2008, S. 291). Ein solches Friedensverständnis prägte das gesellschaftliche Zusammenleben nach 1945, individualisierte und naturalisierte sich zunehmend und wirkte wiederum auf gesellschaftliche Normen zurück. Materielle Sicherheit als Grundlage für politische Stabilität war wiederum eine Idee, die bis in die 1930er Jahre zurückreichte und seitdem den Konsumerismus zum Markstein für gute Regierungsfähigkeit und inneren Frieden (good governance) auswies. Neben der sozialen setzte sich eine politische Dimension des Friedens durch, denn der langsame Übergang in ein demokratisches Gemeinwesen, das Einüben demokratischer Praktiken in Form von Wahlen, Einhaltung des Presserechts oder Durchsetzung von Gleichberechtigungsgesetzen festigten die Überzeugung, Frieden könne sich nur in einer Demokratie entwickeln. In gewohnter Dynamik stellte diese in der Bundesrepublik eben jene Freiräume bereit, in denen dann ausgiebig über den Frieden gestritten wurde, wodurch sich wiederum das demokratische Gemeinwesen veränderte.
Auch der anti-atomare Friedenskonsens wies schon während der Hochphase der Friedensbewegung in den 1980er Jahren deutliche Risse auf: Erstens erlebte die Debatte um Frieden und Sicherheit eine bis dahin nicht gekannte Verwissenschaftlichung, vorangetrieben von regierungsunabhängigen Expert*innen aus Natur- und Sozialwissenschaften. Zweitens wirkte die durch die Deutsche Kommunistische Partei und die Deutsche Friedens-Union mitten in die Bewegung hineingetragene DDR-Friedensrhetorik stark zerrüttend auf den überparteilichen Friedenskonsens. Drittens bot Letzterer genug Stoff, um die atomare Bedrohung zum Bunsenbrenner unter einem neuen deutschen Nationalismus werden zu lassen, stand doch ganz Deutschland vermeintlich vor der Apokalypse. Viertens stand die Gewaltfrage unvermindert im Raum. Auch wenn die Großdemonstrationen friedlich verliefen und der gewaltlose Widerstand zur bevorzugten Protestform wurde, bedeutete dies keineswegs Einigkeit in der Sache. Zum einen musste sich seit der Zersplitterung der außerparlamentarischen Opposition im Jahrzehnt zuvor jeder Protest mit dem eigenen Verständnis von Gewalt auseinandersetzen. Zum anderen war die Gewaltfrage in der Friedensbewegung Ausdruck eines Generationenkonflikts: Jüngere, militante oder autonome Protestierer*innen sahen sich keineswegs vom Stil und Vorgehen der Mehrheitsbewegung repräsentiert (Balz 2015).
Friedensproteste in der Bundesrepublik können somit als Teil von Sicherheitsdiskursen, als Prozesse gesellschaftlicher Selbstanerkennung oder als Abgrenzungsversuche innerhalb des Bündnissystems gedeutet werden. Im Protest gegen Aufrüstung und Krieg kommt in der Regel so viel zusammen, dass sich die verschiedenen Beteiligten selten darüber einig sind, wofür das Friedenszeichen eigentlich stehen soll.
Fazit
Das Narrativ einer alten Bundesrepublik im Frieden muss nicht aufgegeben werden, um es kritisch zu hinterfragen. In einer solchen Annäherung gehören atomare Bedrohung, Militär, Rüstung, demokratische Praxis, Friedensbewegung und Streit um Friedenspolitik zusammen. Außerdem barg der Ost-West-Konflikt vor allem aus deutscher Sicht die Gefahr, wieder zum konventionellen Krieg zu führen. Bedrohung allerorten: Die junge Bundesrepublik rekurrierte deshalb nicht nur auf einen von außen bedrohten Frieden, sondern auch auf das Ideal eines inneren Friedens.
Aus der generellen Angst, zum Opfer in einem fremdbestimmten Krieg zu werden, entwickelte sich in der Bundesrepublik die Präferenz, eine sichere Option im militärischen Westbündnis zu favorisieren. Die Angst vor einem konventionellen Krieg nahm ab, aber keineswegs die vor einer gewalttätigen Vernichtung. Die Akzeptanz einer militärischen Ausstattung der Bundesrepublik stieg, aber nicht die für militärische Einsätze. Ähnlich ambivalent zeigte sich die Bevölkerung lange Zeit hinsichtlich der militärischen und zivilen Nutzung der Atomenergie. Erst in den 1970er und 1980er Jahren wurden dieser Spagat, die Komplexität und die inneren Zusammenhänge einer höchst ambivalenten »Friedenspolitik« thematisiert. Alles in allem dürften sich mit einer stärkeren Berücksichtigung des Streits um den Frieden einige Narrative zur Bundesrepublik differenzieren. Pragmatisch empfohlen sei bei der gesamten Frage nach Krieg und Frieden in der Bundesrepublik, die Erzählung weniger eindeutig, sondern mit einem beherzten »Dazwischen« zu beginnen.
Anmerkungen
1) Die entsprechende (offizielle) Auflösung der Wehrmacht erfolgte durch das Kontrollratsgesetz Nr. 34 vom 20. August 1946. Die militärische Ausbildung wurde durch das Gesetz Nr. 8 vom 30. November 1945 untersagt.
2) Geyer 2001, S. 269; zitiert nach Buchstab, G. (1989): Adenauer: „Wir haben wirklich etwas geschaffen“ – Die Protokolle des CDU-Bundesvorstandes 1953 bis 1957. Düsseldorf: Droste, S. 469.
3) Sternberger, D. (1986), S. 13, zitiert nach Wolfrum 2003, S. 16.
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Dr. phil. habil. Claudia Kemper ist Zeithistorikerin aus Hamburg.
Dieser Artikel ist eine gekürzte Version des Aufsatzes »Alles so schön friedlich hier!? Die Geschichte der Bundesrepublik zwischen Krieg und Frieden«. In: Bajohr, F.; Doering-Manteuffel, A.; Kemper, C.; Siegfried, D. (Hrsg.) (2016): Mehr als eine Erzählung – Zeitgeschichtliche Perspektiven auf die Bundesrepublik. Göttingen: Wallstein, S. 361-375.