W&F 2010/3

Sturm auf die Mavi Marmara

Eine Reise und ihre Folgen

von Matthias Jochheim

Wohl selten hat eine einzelne Aktion für Frieden und für Solidarität mit einer bedrängten Bevölkerung eine so rasche und effektive Wirkung gehabt wie der Versuch von über 600 Aktiven aus 30 Ländern, auf Schiffen und Booten den 1,5 Millionen Menschen im abgeriegelten Gaza-Streifen zu Hilfe zu kommen, indem sie die umfassende Blockade durchbrechen.

Dabei ging es nicht nur um die konkrete Unterstützung durch 10.000 Tonnen dringender Bedarfsgüter und Baumaterialien, sondern auch um ein Zeichen des Protests und zivilen Ungehorsams gegenüber der völkerrechtswidrigen Kollektivbestrafung der Palästinenser dort, die von Israel im Zusammenwirken mit Ägypten und mit Duldung der westlichen Verbündeten nun schon seit 2007 aufrecht erhalten wird. Die Menschen in Gaza sind traumatisiert durch wiederholte Militärinvasionen, durch dauernde Bombardierungen aus der Luft, durch ein fast vollständiges Ausreiseverbot – Maßnahmen, die kaum durch das Sicherheitsbedürfnis Israels zu legitimieren sind, zumal ein bis dahin über Monate weitgehend eingehaltener Waffenstillstand im November 2008 scheiterte, als die israelische Armee ihn massiv verletzte.

Wir, die Aktiven auf der Mavi Marmara und den anderen Schiffen, wussten uns also im Einklang mit dem internationalen Recht bei unserem Versuch, den freien Zugang und die Versorgung mit Lebensnotwendigem mit unserer kleinen »Flotilla« demonstrativ und durch eigene Initiative zu ermöglichen. Und offenbar hat auch die internationale Öffentlichkeit diese Legitimität wahrgenommen, bis hin zum UN-Sicherheitsrat. Sicher nicht ohne Einflussnahme ihrer westlichen Verbündeten sah sich die israelische Regierung genötigt, die Blockade zunächst einmal zu »lockern«, ein Begriff, der aus dem Strafvollzug für Hafterleichterungen geläufig ist.

Neun Mitreisende haben diesen Erfolg mit ihrem Leben bezahlt, getötet sämtlich durch den Schusswaffengebrauch des israelischen Kaperungskommandos. Rasch hat eine Medienkampagne eingesetzt, um die Deutungshoheit über die Ereignisse zu gewinnen und die Interpretation der Angreifer, sie seien die wahren Opfer, durchzusetzen.

Zum Beispiel der Artikel „Verletzte Soldaten sehen wir nicht“ von Joseph Croitoru, der in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) vom 15.6.2010 erschien. Die Sicht- und Sprechweise des israelischen Militärs wird hier ohne kritische Distanz übernommen, und die IHH-Aktiven werden in die Ecke des Feindbilds »gewalttätiger Islamismus« gestellt. (IHH ist ein türkischer Verein für Menschenrechte und humanitäre Hilfe mit Beraterstatus bei den Vereinten Nationen). Selbst logische Brüche verlieren im Eifer des Propaganda-Gefechts offenbar ihre Bedeutung, wenn z.B. die vorgeblichen »Kämpfer« laut Croitoru mühsam die Schiffsreling zu Eisenstangen umarbeiten, obwohl sie solche doch angeblich schon in Istanbul an Bord gebracht hatten.

Ich selber, nebenbei gesagt nicht Muslim sondern Agnostiker, war bis etwa eine halbe Stunde vor dem israelischen Überfall auf dem zweiten Deck, und zwar ohne zum Verlassen aufgefordert zu werden oder irgendwelche »militärischen« Vorbereitung zu bemerken. Ich habe dann die angstvolle Erregung der Helfer angesichts der verletzten und toten Opfer des israelischen Schußwaffengebrauchs unmittelbar erlebt.

Die Umdeutungen des Überfalls auf die Mavi Marmara passen in eine ideologische Sichtweise, die sich so zusammenfassen lässt: Von Israel-Palästina über Irak und Afghanistan bis zunehmend auch Pakistan muss der demokratische und an den Menschenrechten orientierte Westen seine Werte und Ideale gegen militante Islamisten eben auch mit militärischen Mitteln verteidigen – so wird uns nicht nur von israelischen Verantwortlichen erläutert. Samuel Huntingtons »Kampf der Kulturen« steht Pate auch bei einer bestimmten Form der Berichterstattung über die Ereignisse auf der Mavi Marmara.

In der gemeinsamen Aktion von Menschen aus über 30 Ländern wurde über alle kulturellen Unterschiede hinweg für einen kurzen Zeitraum die Erfahrung spürbar: Eine andere, eine friedliche Welt ist möglich. Es gibt Kräfte in Israel, in den USA und Europa (aber natürlich nicht nur dort), die offensichtlich ganz Anderes betreiben: Sie verfolgen ihr machtpolitisches und ökonomisches Interesse mit gewaltsamen militärischen Mitteln, und nach dem Motto: „Teile und herrsche!“

Die Auseindersetzung zwischen den »Zivilisationskriegern« einerseits, den Verfechtern friedlichen und gleichberechtigten Zusammenlebens auf der anderen Seite werden wir nicht zuletzt auf dem Feld der Informationspolitik und der medialen Deutungshoheit mit Klugheit und Ausdauer weiter führen müssen. Auch das lehrt uns die gleichermaßen großartige wie tragische Reise der Free-Gaza-Flotilla.

Matthias Jochheim, von Beruf Arzt und Psychotherapeut, ist stellvertretender Vorsitzender der deutschen Sektion der Ärzte für die Verhütung eines Atomkriegs (IPPNW). Er engagiert sich seit längerem zum Thema des israelisch-palästinensischen Konflikts.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2010/3 Afghanistan: Krieg ohne Ende, Seite 5