W&F 1992/2

Technologietransfer oder Technologieblockade?

von Achim Seiler

Der folgende Aufsatz versucht sich der Frage zu nähern, ob eine Verhinderung der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen (horizontale Proliferation) am besten durch eine umfassende und im Idealfall totale Beschränkung und Kontrolle der Weitergabe von relevanten Technologien zu erreichen ist, oder aber vielmehr durch eine massive und relativ bereitwillige Zurverfügungstellung der im Norden generierten wissenschaftlich-technischen Erkenntnisse. Ziel des letztgenannten Ansatzes ist die baldmögliche Schließung der politischen und sozio-ökonomischen Gegensätze zwischen Nord und Süd unter Inkaufnahme der Beschleunigung der Weitergabe des Wissens um massenvernichtungswaffenrelevante Technologien. Der Ansatz dieses Beitrages wird somit überraschen, impliziert er doch offensichtlich eine Infragestellung der politischen Gültigkeit der gegenwärtigen Bemühungen um konzertierte Aktionen zur Eindämmung der Proliferationsgefahr. Um es gleich vorwegzunehmen: dies ist nicht die Intention dieses Artikels. Ziel dieses Aufsatzes ist vielmehr, aus technologie- und entwicklungspolitischer Sicht auf Defizite bei der Analyse der Proliferationsproblematik hinzuweisen, die sich vor allem aus einer nicht-adäquaten Berücksichtigung der Süd-Dimension der Problematik ergeben.

Das Problemverständnis, mit welchem die politischen Entscheidungsträger in den westlichen Industrienationen gegenwärtig versuchen, die deutlich gestiegene Proliferationsgefahr politisch in den Griff zu bekommen, ist technisch verkürzt und zielt hauptsächlich auf die Etablierung symptombekämpfender Kontrollmöglichkeiten, wie die Einrichtung von safeguard-Systemen oder neuerdings multinationale Beschäftigungsprogramme für Atomwissenschaftler aus der ehemaligen UdSSR. Nicht-Weiterverbreitungspolitik ist nach diesem Verständnis status-quo-orientiert und somit lediglich Teil eines global wirksamen Politikmusters, welches versucht, das internationale System der ungleichen Verteilung politischer und ökonomischer Nutzen und Lasten bei der Neugestaltung der politischen Weltordnung zu reetablieren und so lange wie zeitlich noch möglich, zugunsten der im Westen gewohnten Konsum- und Lebensgewohnheiten aufrechtzuerhalten. Folglich überrascht es nicht, daß die westlichen Industriestaaten – alarmiert durch die im Irak aufgebaute Kombination von Träger- sowie Nukleartechnologien bzw. ein umfangreiches Spektrum an Massenvernichtungswaffen – zwar schnell bereit sind, im Rahmen von lancierten UN-Aktionen aktiv an der Zerstörung dieser bedrohlichen Potentiale mitzuwirken, sich aber weiterhin sehr zurückhaltend zeigen, was die Einlösung ihrer eigenen Abrüstungsverpflichtungen gemäß dem NPT-Vertrag anbetrifft. Durch die Weigerung zum Abbau der eigenen Arsenale an Massenvernichtungswaffen, wie auch zu einem umfassenden Teststop soll die alte Nuklearlogik weiterhin aufrechterhalten werden, auch wenn der unmittelbare Gegner zur Zeit abhanden gekommen zu sein scheint.

Vor allem hinsichtlich der hier angelegten Verengung auf die militärische Dimension von Sicherheit, die zudem entschieden einseitig ausgelegt wird, besteht die Gefahr der Etablierung eines „verteidigungspolitischen Fundamentalismus“ (Till Bastian) der reichen Industriestaaten als einer Grundkonstante bei der anstehenden Neuordnung der politischen Welt.

Ein weiteres gravierendes Defizit des etablierten Non-Proliferationsansatzes ist, abgesehen von der Eurozentriertheit und der Fixierung auf die militärpolitische Dimension von Sicherheit, daß die hier unternommenen Anstrengungen in erster Linie Symptome bekämpfen und der faktischen Weiterverbreitung von Technologien und Kenntnissen, die zum Aufbau von Massenvernichtungswaffen relevant sind bzw. relevant werden, systematisch hinterherhinken. Wurde unter »Proliferation« zunächst nur die horizontale Weiterverbreitung von militärisch relevanter Nukleartechnologie verstanden – die vertikale Aufrüstung stand nie zur Disposition – so wurde der Begriff allmählich auch auf den Bereich der B- und C-Waffen ausgedehnt und umfaßt, seit dies aus der Sicht des Nordens akut geworden ist, mit den dazugehörigen Trägertechnologien seit wenigen Jahren zum ersten Mal auch ein Segment »konventioneller« Rüstung (MTCR).

Blickt man zurück auf ca. 20 Jahre mehr oder minder erfolgreiche Geschichte der Nicht-Weiterverbreitungsbemühungen seit Existenz des NPT-Vertrages, so bleibt zunächst festzuhalten, daß sich die Zahl der Atomwaffenstaaten in diesem Zeitraum faktisch verdoppelt hat. Trendprojektionen, so problematisch sie auch sind, gehen für das Jahr 2030 von weltweit 40 Kernwaffenstaaten aus – das hieße, daß somit jeder vierte souveräne Staat in der Völkergemeinschaft zu jenem Zeitpunkt im Besitz nuklearer Sprengkörper sein würde1. Es handelt sich also bei dem Begriff der Non-Proliferation – wie auch vermutlich dem dazugehörigen Gedankengebäude – um einen sich selbst und die Öffentlichkeit irreführenden Euphemismus. Es sollte daher besser von Proliferationsverzögerung gesprochen werden. Damit würde auch der Weg frei gemacht werden, den Blick endlich stärker auf die Ursachen und Mechanismen der Weiterverbreitung zu legen: Rüstungsexporte, vermeintlicher politischer Status-Gewinn nach innen und außen, sowie die Möglichkeit, sich im Hinblick auf die kommenden Auseinandersetzungen um lebenswichtige Ressourcen frühzeitig ausreichende Optionen in der jeweiligen Region zu sichern.

Die ökonomische und ökologische Dimension der Proliferation

Vor allem im Hinblick auf die offensichtlich verdrängte Frage nach den politischen und ökonomischen Ursachen für das massive Interesse vieler Regierungen in der 3. Welt am Erwerb von Massenvernichtungswaffen, liegt der zentrale Schwachpunkt der etablierten Non-Proliferationsbemühungen. Nicht-Weiterverbreitung wird, aufs Technische reduziert, zu einem Baustein bei der Rekonstruktion einer alten Weltordnung gemacht, die die ökonomischen und ökologischen Dimensionen globaler Sicherheit geflissentlich ignoriert. So ist bezeichnenderweise keine Rede davon, bei der politischen Neuordnung der Welt ein Junktim herzustellen zu den legitimen Bedürfnissen der Länder in der 3. Welt nach einer längst überfälligen Neuordnung der Weltwirtschaft. Konkrete Maßnahmenkataloge, die seit über 20 Jahren auf den Foren der Vereinten Nationen verhandelt wurden, die in vielen Dokumenten in schriftlicher Form fixiert sind, und die von den Industrieländern gerade auch im Hinblick auf ihre Mitverpflichtung am ökonomischen und damit auch sozialen und politischen Wohlergehen der Völker im Süden, mitunterzeichnet wurden, werden nach dem Zerfall der UdSSR mehr denn je in unverhohlen neokolonialistischer Attitüde als politische Makulatur behandelt.

Dabei zeigen die inzwischen nicht mehr zu ignorierenden Katastrophentrends weltweit an, wie berechtigt die hier aufgestellten Forderungen auch heute noch sind, und gerade angesichts der zunehmend erkannten Verflechtung ökonomischer und ökologischer Entwicklungen in ihrem Kern dringender denn je auf der weltpolitischen Agenda stehen müßten. Hierzu gehören die Forderungen nach einer massiven Unterstützung der 3. Welt beim Aufbau eigener wissenschaftlich-technischer Kapazitäten; nach einem kostengünstigen Zugang zu Patenten und Lizenzen; nach verringerten globalen Rüstungsausgaben und der Umwidmung der hierdurch freiwerdenden Mittel zugunsten entwicklungspolitischer Ziele; nach einer Stabilisierung der Exporterlöse für Rohstoffe und die allgemeine Einhaltung von Ethik-Standards im wirtschaftlichen Umgang der Staaten miteinander (code of conduct); nach einer Erhöhung der Entwicklungshilfe auf 0,7% (bzw. 1%) des Bruttosozialprodukts der Industrieländer und einer Erhöhung des Anteils der Entwicklungsländer auf 25% der Weltindustrieproduktion bis zum Jahre 2000. Demgegenüber läßt sich feststellen, daß die Industrieländer, abgesehen von verbalen Zugeständnissen, bislang nicht bereit waren – und dies vor dem Hintergrund der Schuldendekade heute weniger denn je sind – den legitimen Forderungen der Entwicklungsländer nach strukturellen Reformen der globalen Wirtschafts- und Finanzmechanismen substantiell entgegenzukommen.

Vielmehr ist seit Beginn der 80er Jahre, im wesentlichen mitverursacht durch die Hochzinspolitik der amerikanischen Regierung, mit welcher die überzogenen Rüstungsanstrengungen der USA finanziert werden sollten, eine Entwicklung eingetreten, die aus entwicklungspolitischer Sicht grotesker nicht sein könnte. Durch den weltweiten Anstieg der Zinsen sahen sich immer mehr Länder nicht mehr in der Lage, die zu variablem Zins auf dem freien Kapitalmarkt aufgenommenen Kredite (mit denen sowohl Importinvestitionen, als auch der Kauf von Großwaffensystemen aus den Industrieländern finanziert wurden), termingerecht zu bedienen. Die Folge waren und sind regelmäßige Umschuldungsverhandlungen, bei welchen die Regierungen der verschuldeten Länder ihre nationale Souveränität partiell aufgeben und die harten, ausschließlich an der Wiederherstellung der Zinsendienstfähigkeit orientierten wirtschaftspolitischen Auflagen des Internationalen Währungsfonds akzeptieren müssen. Da sich immer mehr Länder im gleichen Zeitraum somit gezwungen sehen, immer größere Mengen – hauptsächlich agrarischer – Rohstoffe auf dem Weltmarkt abzusetzen, um mit den hier erzielten Verkaufserlösen die hohen Zinsen und Umschuldungsgebühren bezahlen zu können, sind die Rohstoffpreise seit Beginn der 80er Jahre real um ca. 40% gefallen. Mit den immer niedrigeren Erlösen sollen aber Verbindlichkeiten gegenüber dem Norden bedient werden, die sich mittlerweile auf 1,3 Billionen US$ belaufen, ohne daß der Norden jedoch bereit wäre, in entsprechendem Umfang seine Märkte für höherwertige Exportgüter aus den Entwicklungsländern zu öffnen. Jährlich findet somit, insbesondere durch Schulden- und Zinsendienst, ein Nettokapitaltransfer von Süd nach Nord in Höhe von 60 Milliarden US$ statt. Sowohl indirekt infolge des Rohstoffdumpings, als auch durch den direkten Kapitaltransfer von Süd nach Nord, finanzieren somit die Armen den ökologisch ruinösen Wohlstand der Reichen, der nun seinerseits wieder dazu verwendet wird, durch den Aufbau und die latente Drohung mit dem Einsatz eines hochtechnisierten und vielseitig differenzierten Militärapparates (AirLandBattle) den Status Quo der ungleichen globalen Nutzen-Lasten-Verteilungen militärpolitisch abzusichern.

Der Aufbau und die Finanzierung der hierfür notwendigen, immer teureren, Waffen- und Logistiksysteme wird nun, da dies über eine Ausweitung der Militärbudgets innenpolitisch in den Industriestaaten nicht mehr möglich erscheint, durch eine Erhöhung der Produktionsstückzahlen und den umfangreichen, gerne auch kreditfinanzierten Export eben dieser Waffen in die 3. Welt gesehen. Hierdurch ergibt sich die Paradoxie, daß einerseits die mühsam und teuer generierten Rüstungstechnologien aus Kostengründen transferiert werden müssen, damit gleichzeitig jedoch, in Abhängigkeit von der wissenschaftlich-technischen Absorptionsfähigkeit des jeweiligen Empfängerlandes, der Innovationsvorsprung des Nordens bei Rüstungsgütern, d.h. also auch der Herrschaftsvorsprung, durch überlegene Aufklärungs- und Zerstörungsmechanismen tendenziell wieder preisgegeben wird.

Politische Exportkriterien

Am Wettlauf um die »nachholende Entwicklung« bei Rüstungstechnologien können auch politische Exportbestimmungen der Industrieländer, die etwa wie die Endverbleibsklauseln nach »guten« und nach »schlechten« Abnehmerländern zu unterscheiden versuchen, prinzipiell nichts ändern. Der Transfer des in die Waffensysteme eingebauten Wissens und die inkorporierte Technologie wird sich auf diese Weise nicht regulieren, sondern allenfalls zeitlich etwas verzögern lassen, zumal »verbündete« Regierungen in der 3. Welt oftmals auf den schwächsten sozialen Füßen stehen und ihre innen-, außen- sowie bündnispolitische Konstanz von daher in vielen Fällen mehr als fraglich ist. Ferner kann die von einem Abnehmerland als vertraulich zu behandelnde Waffentechnologie in sich bereits einen ausreichenden Anreiz für ihre Regierung darstellen, diese Technologie im Wissen um die ohnehin zeitlich befristete Dauer der technischen Brisanz auf dem grauen Markt halbstaatlicher Tauschgeschäfte gegen andere, z.B. unmittelbar proliferationsrelevante Technologien und Materialien zu tauschen, an die man ohne adäquates »Eintrittsticket« sonst nicht herankäme (Uran gegen Know How bei Trägertechnologien). Darüberhinaus steht die Rüstungslobby in den Industrieländern mittlerweile unter so starken Exportzwängen, daß die Empfängerländer vor dem Hintergrund einer inzwischen immer breiter gefächerten Palette von Anbietern durchaus in der Lage sind, als Vorbedingung für die Öffnung des eigenen militärischen Beschaffungsmarktes – etwa für Kampfpanzer aus amerikanischer Produktion – die gleichzeitige Aufnahme der Lizenzproduktion von amerikanischen Kampfjets (F-15) im eigenen Land zu fordern (Ägypten).

Dies gilt nun vor dem Hintergrund der verstärkten Non-Proliferationsbemühungen umso mehr, als Staaten im Austausch gegen den Verzicht beispielsweise auf die Weiterentwicklung von Nuklearwaffen klare Bedingungen stellen können, welche Gegenleistungen finanzieller, politischer, diplomatischer oder – immer wichtiger – technologischer Art, von ihnen im Austausch erwartet werden. Oftmals werden die tatsächlich geleisteten Transfers ziviler (Weltraumforschung) oder militärischer Technologien lediglich dazu benutzt, um unmittelbar an anderen proliferationsrelevanten Feldern, etwa im Bereich der Trägertechnologien, weiterzuarbeiten. Schließlich ist mit jeder Übertragung von Wissen oder Technologie in ein anderes Land, sei es in Form von (Rüstungs)exporten, Lizenzen, schlüsselfertigen Produktionsanlagen, Blaupausen oder Know How, irreversibel die Stärkung und Weiterentwicklung der dortigen bodenständigen Technologiekapazitäten verbunden. Damit entfallen aber ebenso irreversible nichtmilitärische Steuerungs- und Eingriffsmöglichkeiten zur Kontrolle mißliebiger Verwendungs- und Nutzungszusammenhänge gegen den Willen der dortigen Regierungen. Es entfällt, technologisch bedingt, in der Tendenz natürlich ebenso die Möglichkeit des Einsatzes militärischer Mittel, um unbotmäßige Staatsführungen zur Einhaltung der von den Industrieländern gewünschten Bestimmungen zu zwingen. Der vermeintliche Ausweg, der von den Industrieländern auch offensichtlich gangbar gemacht werden soll, um – abgestützt durch überlegene militärische Optionen – innerhalb oder außerhalb der UNO, neue politische Instrumente zur Kontrolle unerwünschter Entwicklungen zur Verfügung zu haben, ist daher die permanente Weiterrüstung in der vollen militärischen Bandbreite offensiver und defensiver Potentiale.

GPALS als falscher Lösungsweg

Gerade jedoch der Aufbau weltraumgestützter Verteidigungssysteme (GPALS) als einseitiger technischer Ausweg aus dem politischen Dilemma, die Staaten der 3. Welt zumindest hinsichtlich ihrer Militärpotentiale und der von ihnen ausgehenden Bedrohung inzwischen als vollwertige Mitglieder der Staatengemeinschaft anerkennen zu müssen, läuft auf ein aberwitziges Wettrennen hinaus. Die teuer erworbenen technologischen Vorsprünge im Norden werden durch den Zwang zu kostensenkenden Rüstungsexporten jeweils wieder zunichte gemacht. Unter Kostenaspekten dürften bei der hier angelegten Etablierung eines militärischen Nord-Süd-Gegensatzes dieselben Argumentationsmuster gelten, die auch in der SDI-Debatte von den Befürwortern nicht widerlegt werden konnten: weltraumgestützte Verteidigungsanstrengungen stehen in keinem wie auch immer vertretbaren Verhältnis zu den relativ preiswert zu modifizierenden Angriffstechnologien.

Unter dem Aspekt der Bindung gigantischer Ressourcen in einem neuen, uferlosen Rüstungswettlauf, wird sich der ökonomische Graben zwischen Nord und Süd nur vertiefen, die inzwischen dringendst gemeinsam zu lösenden Menschheitsprobleme hingegen werden sich auf absehbare Zeit weiter vergrößern. Daß aus bündnispolitischen Gründen offensichtlich einzelne ausgewählte Länder der 3. Welt (z.B. Israel) beim Aufbau eines weltraumgestützten Abwehrsystems von vornherein miteinbezogen werden – somit auch ein Technologie-Sharing stattfindet –, kann die Geschwindigkeit nur erhöhen, mit welcher militärtechnologische Vorsprünge auf der Verteidigungsseite durch Verbesserungen der Offensivkapazitäten obsolet werden. So berechtigt dieses Vorgehen gerade im Falle Israels auch sein mag, politisch wird damit die Spannung des Nahen Ostens in eine militärtechnische Rückversicherung der Stabilisierung des gegenwärtigen Status Quo eingebaut. Die ohnehin eurozentristisch und symptombekämpfend angelegten Non-Proliferationsbemühungen werden hierdurch sicherlich nicht schlüssiger.

Defizite der etablierten Non-Proliferationsansätze

Selbst wenn man dem eurozentristisch verkürzten Ansatz der etablierten Non-Proliferationsbemühungen folgt, und auf ein dringend gebotenes Junktim zwischen der Etablierung einer alten Neuen Weltordnung und den Forderungen nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung verzichtet, ergeben sich aus dem bislang skizzierten folgende immanente Widersprüche, an denen die »Non-Proliferation« letztlich scheitern dürfte:

  1. Die Regierungen in den Industrieländern werden erkennen müssen, daß sie die Entwicklung bodenständiger Fähigkeiten zum Bau von Massenvernichtungswaffen in den Ländern der 3. Welt nicht werden verhindern können, mit ihren eigenen Rüstungsexporten aber sehr wohl zu einer Beschleunigung der Verbreitung proliferationsrelevanter Technologien (etwa bei Trägertechnologien) beitragen.
  2. Der Versuch, bei Beibehaltung der eigenen militärisch-offensiven Optionen im Norden zur Einrichtung einer einseitigen Sicherheitszone zur Abwehr begrenzter Angriffe mit Massenvernichtungswaffen zu kommen, um sich auf diese Weise den erwünschten machtpolitischen Spielraum erhalten zu können, dürfte die politische Bereitschaft im Süden zur horizontalen, aber auch zur vertikalen Proliferation nur vergrößern.
  3. Eine lückenlose Kontrolle der in die Entwicklungsländer exportierten Technologien bzw. der Rüstungsrelevanz der dort generierten Wissensbasen wird nicht möglich sein. Schließlich würde dies darauf hinauslaufen, durch Technologieblockaden die Staaten in der 3. Welt an der Erreichung des industriellen Entwicklungsstandes des Deutschen Reiches von 1914 (C-Waffen) oder der USA Anfang der 40er Jahre (A-Waffen) zu hindern.
  4. Bei der Überwachung des Transfers proliferationsrelevanter Rüstungsgüter in die Entwicklungsländer darf also nicht nur nach dem waffentechnologischen Leistungsstand der Industrieländer zu Beginn der 90er Jahre ausgegangen werden. Auch der Export oder die eigenständige Produktion von Komponenten und Bauteilen der vorletzten Generation müßte weiterhin kontrolliert werden, um Umwegstrategien zu verhindern. Damit werden in der Tendenz immer mehr Technologien aus ungleichzeitigen Technologieentwicklungen proliferationsrelevant. Die politischen Bemühungen, Inspektionen und technische Kontrollen bei allen in den Entwicklungsländern installierten chemischen Anlagen – etwa zur Produktion von Pflanzenschutzmitteln – einzuführen, werden von den Staaten der 3. Welt mit dem Verweis abgelehnt werden, daß es sich hierbei lediglich um den neokolonialen Versuch handele, den Aufbau eigenständiger Industriestrukturen im Süden behindern zu wollen. Dies gilt insbesondere solange die Kernwaffenstaaten im Norden ihrerseits nicht zur umfassenden Abrüstung bei Kernwaffen bereit sind und darüberhinaus reziproke Kontrollen ihrer eigenen Anlagen durch Vertreter des Südens akzeptieren.
  5. Das selbst in den Industrieländern erst rudimentär wahrgenommene zivil/militärische Wechselverhältnis (dual use/dual purpose) trifft selbstverständlich auch für die in die Entwicklungsländer exportierten Hochtechnologien zu. In Abhängigkeit vom jeweils erreichten wissenschaftlich-technischen Standard, wird es insbesondere den Schwellenländern möglich sein, unter zivilen Vorzeichen akquirierte Technologien aus dem Ausland für militärische Belange einzusetzen (Weltraumforschung/Kernenergie).
  6. Die Forderungen der Industrieländer an die Schwellenländer, den Export bodenständig entwickelter Rüstungsgüter mit hoher Proliferationsrelevanz (Kampfflugzeuge/Raketen) einzustellen, wird von den entsprechenden Regierungen unter sarkastischem Verweis auf haushaltstechnische Notwendigkeiten angesichts der drückenden Schuldenlast abgelehnt (Brasilien/Indien) oder aber zum Hebel für den Transfer hochsensibler dual use-Güter gemacht, die mittlerweile strikten Ausfuhrkontrollen im Norden unterliegen.

Gemeinsame Sicherheit durch Entwicklung

Es ist vielmehr notwendig, die Welt am Ende eines an Fanatismus und ideologischen Fehleinschätzungen reichen Jahrhunderts als das wahrzunehmen, was sie ist: interdependent und verletzlich. Es waren lange Jahre des Wettrüstens im Norden erforderlich, um hier die Erkenntnis reifen zu lassen, daß ein einseitiger Gewinn an Sicherheit schließlich lediglich die Unsicherheit der anderen Seite erhöht und somit als zentrale Triebkraft für gegenseitiges Wettrüsten fungiert; »Sicherheitspartnerschaft« und »Kooperation statt Konfrontation« waren und sind die Ergebnisse. Angesichts der realen Gefahr der Etablierung eines neuen, weltweit wirkenden Gegensatzes zwischen Nord und Süd, wobei Verbalradikalismus und terroristische Aktivitäten in südlichen Ländern zum Anlaß für einen »verteidigungspolitischen Fundamentalismus« im Norden genommen werden, ist es dringend geboten, von Seiten der Friedensforschung verstärkt darauf hinzuweisen, daß es sich die Menschheit angesichts der alarmierenden wirtschaftlichen und ökologischen Schieflagen auf dem Globus nicht mehr leisten kann, noch einmal 40 Jahre durchzurüsten, bis sich die Erkenntnis der Sicherheitspartnerschaft auch im Nord-Süd-Verhältnis durchgesetzt haben wird. Anstatt im Norden nun einen Weg zu gehen, der – abgestützt durch astronomisch teure Weltraumsysteme – politisch ans Ende des 19. Jahrhunderts zurückführt und auf (einseitige) militärische Sicherheit statt globale Entwicklung setzt, wären die Länder im Norden besser beraten, gemeinsame Sicherheit durch Entwicklung anzustreben. Das notwendig gewordene neue Verständnis von globaler Sicherheit muß in Zukunft neben der militärischen auch gleichermaßen die ökonomischen und ökologischen Dimensionen von Sicherheit miteinbeziehen. Nur so kann gewährleistet werden, daß Massenvernichtungswaffen von den Staaten der 3. Welt nicht als politische Instrumente erworben und regional eingesetzt werden, um sich angesichts der Verknappung der Ressourcen frühzeitig angemessene Entwicklungs- und Zugriffsoptionen – etwa auf umstrittene Trinkwasservorkommen – sichern zu können.

Die Einlösung der vor allem auch ökologisch gebotenen Forderungen der 3. Welt nach einem ökonomischen Ausgleich und nach gerechteren Strukturen in der Weltwirtschaft, wird die soziale und wirtschaftliche Situation vieler hundert Millionen Menschen signifikant verbessern. Damit schwindet aber auch der soziale Nährboden für Fanatismus und religiösen Fundamentalismus, und Potentaten vom Schlage eines Saddam Hussein wird der politische Rückhalt im eigenen Land entzogen. Der mit der globalen ökonomischen Umverteilung anstehende – aus ökologischen Gründen aber mittlerweile ohnehin nicht mehr zu vermeidende – Konsumverzicht im Norden, dürfte ein relativ moderater Preis sein, um die Verfestigung einer konfrontativen Konstellation zu vermeiden, in welcher bei permanenter Gefahr des Einsatzes von Massenvernichtungswaffen, die Industrieländer in immer kürzeren Zeitabständen mit militärischen Mitteln eingreifen müßten, um ABC-Waffenpotentiale ihnen unliebsamer Regime überfallartig zu vernichten.

Die durchaus sinnvollen und notwendigen Bemühungen um eine Verlangsamung der Weiterverbreitung, insbesondere um eine weltweite Ächtung aller Kategorien von Massenvernichtungswaffen, sollten daher weitergeführt werden – allerdings unter der Regie einer supranationalen Organisation und eingebettet in ein Politikmuster, welches nach der gemeinsamen Lösung der anstehenden Menschheitsprobleme fragt. Nur so kann vermieden werden, daß die »Non-Proliferation« – in Verbindung mit GPALS und Air Land Battle – von vornherein als Instrumente neokolonialer Machtprojektion des Nordens mißinterpretiert und konterkariert werden können. Ferner müßte sich der Norden zu einer umfassenden und bedingungslosen Abrüstung bei ABC-Waffen bereiterklären, ein kleiner Restbestand könnte bei der UNO als Minimalabschreckung eingelagert werden.

Werden auf diese Weise erst einmal die gröbsten Zonen der Ungleichverteilung militärischer Sicherheit beseitigt, kann gleichzeitig der Ausgleich der ökonomischen und ökologischen Lasten-Nutzen-Verteilungen politisch in Angriff genommen werden. Ein in dieses Gesamtpaket eingebundenes – supranational angesiedeltes – Non-Proliferationsregime wird vermutlich die uneingeschränkte Resonanz der Staaten in der südlichen Hemisphäre finden. Schließlich darf man den dort lebenden Völkern unterstellen, daß sie ebenso wie wir am persönlichen, sozialen und ökonomischen Wohlstand Interesse haben und lediglich die Hoffnungslosigkeit und Perspektivlosigkeit den Boden für extremistische, religiös-fundamentalistische Terrorregime abgeben.

Literatur

Aspen Strategy Group: New Threats, Responding to the Proliferation of Nuclear, Chemical, and Delivery Capabilities in the Third World, Lanham, Maryland 1990
Bastian, Till: Naturzerstörung – Die Quelle der künftigen Kriege, Studie im Auftrag der IPPNW, Berlin, o.J
Carus, W. Seth: Ballistic missiles in modern conflict; Center for Strategic and International Studies, Washington 1991
Nolan, Janne E.: Trappings of Power: ballistic missiles in the Third World, Washington 1991
Liebert, W.: Proliferationsgefahren durch moderne Nukleartechnologien, in: E. Müller, G. Neuneck: Rüstungsmodernisierung und Rüstungskontrolle, Baden-Baden 1991
Liebert, W., M.Kalinowski, G.Neuneck: Technologische Möglichkeiten des Irak für eine Kernwaffe, IANUS-Schriftenreihe Nr. 13,1990
Scheffran,J., G.Neuneck: Ist der Geist schon aus der Flasche?, in: Informationsdienst Wissenschaft und Frieden, Heft 3-4; 1990
Scheffran,J.; J.Altmann, W.Liebert: Keine Mauer zwischen Nord und Süd – SDI kann das Proliferationsproblem nicht lösen, Stellungnahme der Naturwissenschaftler-Initiative für den Frieden v. 19.02.1992, Hamburg

Anmerkungen

1) vgl: Commission on Integrated Long-Term Strategy (Ikle-Wohlstetter-Commission), Washington, 1988 Zurück

Achim Seiler, Dipl.-Pol., ist Mitarbeiter der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik, Sicherheit (IANUS) an der TH Darmstadt.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1992/2 Nord-Süd Dialog?, Seite