W&F 1999/3

Totaliter aliter

Nichts ist mehr, wie es war

von Johannes M. Becker

Der Jugoslawien-Krieg, dessen Bombardierungsphase nun beendet scheint, hat das sicherheitspolitische Gefüge der Bundesrepublik, Europas und der Erde vielfältig verändert. Keine dieser Veränderungen indes ist ohne Vorgeschichte.

Beginnen wir mit dem Entscheidenden. Die FAZ, das direkte Sprachrohr der Herrschenden in unserem Lande, brachte am 16.06.1999 eine unscheinbare Nachricht mit dem Titel „Krisenreaktionskräfte sollen um etwa ein Drittel verstärkt werden“. Das Blatt berichtete hierin über die Ankündigung Minister Scharpings, die Krisenreaktionskräfte des Heeres von derzeit 37.000 auf 50.000 Mann aufzustocken. „Der Umfang der KRK-Kräfte, sagte Scharping, müsse so bemessen sein, dass die Soldaten der Bundeswehr nicht gezwungen würden, innerhalb von zwei Jahren mehr als einmal einen Einsatz wie jetzt im Kosovo mitzumachen.“ Diese Ankündigung, zwölf Monate zuvor in der bundesdeutschen Presse veröffentlicht, hätte einen Sturm der Empörung hervorgerufen. Im Juni 1999 ist sie Ausdruck eines gelebten sicherheits-, sprich: interventionspolitischen Alltags des »neuen« Deutschland.

Im Kern: Die BRD ist ein ganz »normaler« Staat geworden. Was die Historikerdebatte der 80er Jahre noch nicht vermochte, was bei dem Schriftsteller Martin Walser noch vor Jahresfrist vielfältige Proteste hervorrief, ist heute Realität. Deutschland (ein Wort das manchen Menschen hierzulande noch immer schwer über die Lippen geht) hat das Stigma »Auschwitz«, durch die »Wehrmachtsausstellung« unbequemerweise unlängst vorübergehend noch einmal angemahnt, abgestreift. Der „ökonomische Riese“, so Kanzler Schmidt in den 70er Jahren, ist nun auch eine politische und sogar eine militärische Größe geworden.

Als Kriegsgegner muss man den Hut ziehen vor den Public-Relations-Spezialisten dieser Republik. Über eine fein abgestufte Eskalierungsstrategie haben sie das vor einem Jahrzehnt »wiedervereinte« Volk militärfähig und -willig gemacht: Das fing (humanitär!) an mit der Entsendung eines Bundeswehrlazaretts nach Kambodscha, ging über die nur finanzielle und logistische Unterstützung der NATO im zweiten Golfkrieg, über den »friedenstiftenden« Einsatz in Somalia (wie ereiferten sich die oppositionellen Grünen und die Sozialdemokratie damals noch über dessen Kosten von 0,5 Milliarden DM!), über die Luftüberwachung im Bosnienkrieg bis hin zum heutigen gleichberechtigten Bombardieren in Jugoslawien. Mich erinnert diese PR-Leistung an die Remilitarisierung der BRD, als man bereits vier (!) Jahre nach der Kapitulation der Wehrmacht wieder Stimmen lancierte, die einen „Westdeutschen Beitrag zur Verteidigung des Westens“ gegen die als aggressiv apostrophierte Sowjetunion zunächst erwogen, dann offensiv forderten. 1954, nur neun Jahre nach dem Nazi-Verbrechen und dem militärischen Desaster, war die Sache dann unter Dach und Fach. Die Adenauer-Republik hatte eine Armee. 100 Prozent ihrer Generalität kamen aus der faschistischen Wehrmacht.

Nur neun Jahre nach dem Ende der deutschen Teilung bombardierten heute Bundeswehrkampfflugzeuge den „Menschenrechtsverletzer Milosevic“, den „neuen Hitler“, den „Anstifter eines neuen Holocaust“, den „schurkenhaften Betreiber großserbischer Imperialgelüste“. Auch wenn sich die rosa-grüne Bundesregierung heute noch auf die Verteidigung der Menschenrechte berufen muss und (noch) nicht wie die USA, wie Frankreich und Großbritannien offen die erdumspannende Verfolgung ihrer Interessen einklagt, muss gesagt werden: Genial gemacht.

Was sich noch entscheidend verändert hat in unserem Lande ist die Tatsache, dass uns in der Friedensbewegung das Gros der bisherigen Opposition verlorengegangen ist. Nicht dass dies überraschend gekommen wäre! Konstatieren muss man es dennoch. Ich erinnere an die Haltung der Sozialdemokratie in der Remilitarisierungsdebatte eben der 50er Jahre, erinnere an das Taktieren der SPD in der NATO-Stationierungspolitik der 70er und 80er Jahre (wo sie erst in der Opposition die Kraft zur Ablehnung fand). Ich erinnere des Weiteren an die Diskussionen der Grünen während des Jugoslawienkrieges, als sie sehr rasch den Blick für die Ursachen des Krieges verloren und die Rede von der „Bewahrung der Menschenrechte“ als Grund für die Verabschiedung pazifistischer Strömungen nutzten. Heute bleibt neben der kleinen Friedensbewegung einzig die PDS, die an der Ablehnung des Krieges als Politikersatz festhält.

Bei der Analyse des Verhaltens der Grünen fühle ich mich unweigerlich an die Analyse Max Webers über die Sozialdemokratie der Weimarer Republik erinnert, wo er schreibt, dass durch deren Regierungsbeteiligung nicht nur die Sozialdemokratie in den Staat eindrang, sondern auch der Staat in die SPD. Die heutige BRD, das »neue Deutschland« also, ist der Staat der Grünen geworden, sie sind Bestandteil und Träger des Normalitäts- und Machtdiskurses dieses interventionistischen Landes mit seinen, noch einmal sei die FAZ zitiert, acht Millionen Arbeitslosen, mit seiner Verarmung weiter Bevölkerungsteile vor allem im Osten, mit seinen xenophoben Tendenzen usw.

Das war schon ein seltsames Gefühl, in Marburg (als Nicht-Christ!) mit wenigen Dutzend Christinnen und Christen gegen den Krieg zu demonstrieren und die grünen und sozialdemokratischen FreundInnen und GenossInnen sich abwenden sehen! Wo noch im Irak-Krieg Hunderte, ja Tausende die Straßenkreuzungen blockiert hatten! Auch das gesamte »autonom« sich nennende jüngere politische Spektrum, das ansonsten keinen Castor-Transport, keine drohende Hüttendorf-Räumung u.v.m. auslässt, war und ist paralysiert. In zahlreichen Gesprächen gewann ich den Eindruck, dass viele der jüngeren Menschen keine Vorstellung von der Gewalt und von dem Grauen eines realen Krieges haben; zum Zweiten ist er für ihre Vorstellungen weit weg, schließlich fielen sie dem medialen Unisono zum Opfer.

A propos Medien: Neben den intellektuellen Umfallern (wie Habermas) war die weitgehende Unilateralität der maßgeblichen bundesdeutschen Medien vielleicht das beunruhigendste Phänomen. Sieht man von einsamen Aufklärern wie Klaus Bednarz, von »Konkret«, von kleinen Unternehmen wie dem »Freitag«, der »Jungen Welt« oder dem PDS-nahen »Neuen Deutschland« ab (alle drei wohl nicht zufällig im Osten des Landes angesiedelt), konnte einem schon Angst und Bange werden. Und man konnte in tiefe Zweifel an der eigenen Haltung geraten. Sehr deutlich wurde hier, was es heißt, wenn ein Land im Krieg ist. Fakten interessierten nur noch wenig, Bestätigungen des Feindbildkonstruktes Serbien/Milosevic wurden präferiert. (Dass nun – nach dem Ende des Bombardements – eine endlose Kette von Berichten über angebliche oder tatsächliche Greueltaten der jugoslawischen Kräfte folgt, gleichsam als nachgeschobene Legitimierung der Pro-Kriegs-Haltung, darf nicht überraschen. Wobei sich eine Überprüfung der während des Bombardements gemachten Angaben anhand der heutigen durchaus lohnt…) »Die Wahrheit ist das erste Opfer des Krieges« – nun konnte man es auch hierzulande erfahren. Man erinnert den Irak-Krieg. Die Schäden an der Demokratie sind erheblich.

Die zentralen Slogans von der „Verhinderung einer humanitären (!) Katastrophe (!)“ bzw. von der „Verteidigung der Menschenrechte“ waren ausgesprochen werbewirksam ausgewählt. Wer mag sich schon dagegen aussprechen? Und bei diesen Slogans wird allzuleicht übersehen, dass die militärische Kriegführung der NATO selbst erst eine neue Quantität und Qualität der Probleme schufen.

Die supranationalen Organisationen UNO und OSZE haben schweren Schaden genommen. Dies ist nicht zufällig. Die US-Politik, der sich die westeuropäischen (mehrheitlich sozialdemokratisch regierten) Staaten in vollem Wissen unterwarfen, legte es darauf an. Die USA wollen sich fürderhin nicht stören lassen bei der Wahrnehmung ihrer Interessen, wo auch immer auf unserer Erde.

Gleichsam als Nebenwirkung haben die USA an das Minderwertigkeitsgefühl der (West)Europäer gerührt, die sich ja wieder einmal sichtbar der US-Dominanz unterworfen sahen und nun mit Nachdruck auf den Aufbau eigenständiger Militärstrukturen drängen. Die Mehrzahl der politischen BeobachterInnen sieht im Aufbau einer »sicherheitspolitischen Identität« der EU (so wird die Militarisierung der Europäischen Union in feiner Semantik feilgeboten) etwas Positives: Diese könne, der Patt-Situation zu Zeiten des Kalten Krieges ähnlich, das weltweite Hegemoniestreben der USA eindämmen. Nicht nur die Ernennung des (NATO-Generalsekretärs!) Javier Solana zum Mister GASP muss da nachdenklich stimmen.

Man lasse sich auch nicht täuschen von der tendenziellen Aufweichung der kriegstreiberischen Haltung einiger Medien im Verlaufe des Krieges: Diese war nicht der Einsicht in einen Irrtum geschuldet, sondern Ausfluss der Kritik an der Art der Kriegsführung durch die NATO. Nicht mehr und nicht weniger.

Wie es friedenspolitisch weitergeht in unserer Republik? Mit Blick auf die Parteienlandschaft bleibt abzuwarten, ob die rosa-grüne Regierung um den Populisten Schröder von ihrer Klientel aus Gründen der Selbsterhaltung zum Rücktritt genötigt wird. Für eine Verfeinerung von Sozialabbau und Neoliberalismus wurden die Regierungsparteien nämlich nicht gewählt. Dann könnte es in beiden Parteien eine Aufarbeitung auch der Kriegspolitik geben. Und ähnlich dem Regierungswechsel von 1982 könnte die Friedensbewegung dann quantitativ wieder an Kraft gewinnen. Die wirklich in diesem Lande Herrschenden werden dann allerdings weitaus weniger Probleme haben, die von der rosa-grüne Koalition betriebene Interventionspolitik nahezu beliebig zu reproduzieren. Der Rubicon ist überschritten!

Aktuell bleibt den AufklärerInnen nichts als die Aufklärung. Die gewaltfreie Konfliktlösung muss in den Vordergrund gerückt werden, die Stärkung und Demokratisierung supranationaler Organismen, die Stärkung der Nicht-Regierungs-Organisationen. Die Friedensforschung muss gestärkt, Früherkennungsstrategien für Konflikte ausgearbeitet und wirksam gemacht werden. Die weitere Militarisierung Europas und der EU, dies ist ein ganz dringliches und höchstaktuelles Anliegen, muss verhindert werden!

PD Dr. Johannes M. Becker ist Mitbegründer der Marburger Interdisziplinären Arbeitsgruppe Friedens- und Abrüstungsforschung (IAFA) und lehrt Politikwissenschaften.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1999/3 Tödliche Bilanz, Seite