W&F 2000/3

Türkei: Widerstand gegen Menschenrechtsverletzungen

von Barbara Dietrich

Seit Dezember 1999 hat die Türkei in der EU Kandidatenstatus. Doch während mit sechs anderen Ländern Ost und Mitteleuropas bereits an Modalitäten und Zeitplänen für einen Beitritt gearbeitet wird, liegt der weitere Weg der Türkei in die EU noch im Dunkeln. Nur eine Minderheit unter den europäischen PolitikerInnen setzt sich dafür ein die Türkei aufzunehmen um damit Voraussetzungen zu schaffen für eine größere Akzeptanz der Menschenrechte, die große Mehrheit sieht allerdings in weniger Menschenrechtsverletzungen (und sicherlich auch in der Verbesserung einer Reihe ökonomischer Faktoren) die Voraussetzung für eine EU-Mitgliedschaft der Türkei.
Vor diesem Hintergrund sind die Eindrücke von besonderem Interesse, die eine Delegation der IPPNW über die Menschenrechtsverletzungen und den Widerstand gegen selbige im April des Jahres gewann.1
Barbara Dietrich berichtet.

Die türkische Menschenrechtsstiftung (Türkiye Insan Haklari Vakfi) wurde im Jahr 1990 vom Menschenrechtsverein der Türkei mit Unterstützung Intellektueller und der Türkischen Ärztevereinigung gegründet, um Verletzungen der Menschenrechte zu dokumentieren. Zusätzlich wurden Zentren zur Behandlung und Rehabilitation von Folterüberlebenden in Ankara, Adana, Istanbul und Izmir etabliert, denen im Jahre 1998 eines in Diyarbakir folgte (2, S. 7 ff., 21). Außerdem implementiert die Stiftung ein weiteres sogenanntes »5-Städte-Projekt« in den Südost-Provinzen Gaziantep, Sanliurfa, Hatay, Malatya und Adyaman: Folterüberlebende, die nicht in Reichweite der bisher existierenden Zentren leben, sollen über die dort vorhandenen Hilfeangebote informiert und es soll ihnen soziale und finanzielle Unterstützung für Fahrtkosten und Unterkunft gewährt werden, wenn sie Hilfe in Anspruch nehmen wollen. (2, S. 8; 22).

MitarbeiterInnen in der Stiftung sind jeweils ÄrztInnen, PsychiaterInnen, SozialarbeiterInnen, RechtsanwältInnen, die den Folteropfern bei der Lösung ihrer medizinischen, psychischen und sozialen Probleme Hilfe leisten (9, S. 19; 15, S. 7f.; 2, S. 22). Das erste Gespräch mit der Patientin/dem Patienten wird von einem Arzt oder Sozialarbeiter durchgeführt, der alle einschlägigen Beschwerden aufnimmt. Anschließend folgt ein Gespräch mit einem Psychiater. Erweisen sich Untersuchungen als notwendig, die in dem jeweiligen Zentrum nicht durchführbar sind, wird die Patientin/derPatient an FachärztInnen überwiesen, welche die Untersuchungen kostenlos oder gegen Kostenerstattung durchführen und die jeweiligen Ergebnisse an das Zentrum rückvermitteln. Im Zentrum selbst wird schließlich individuell für jede Patientin/jeden Patienten ein Therapie- und Rehabilitationsplan aufgestellt. Nicht nur Folterüberlebende, sondern auch deren Angehörige, die mit den traumatischen Erfahrungen ihrer Verwandten konfrontiert sind, werden in die Arbeit einbezogen. Alle Kosten für Diagnose, Behandlung und Rehabilitation werden von der Stiftung getragen (0; 2, S. 22; 13, S. 6).

Seit Gründung der Stiftung bis Anfang 1998 haben landesweit insgesamt 4.010 Personen in den Zentren Hilfe wegen ihrer physischen, psychischen und sozialen Probleme gesucht (2, S. 7). Unmittelbar nach erlittener Folter kommen in das Zentrum in Izmir relativ wenige Patienten/innen, die meisten kommen etwa 6 Monate bis 2 Jahre später (0). Der ersten Gruppe von PatientInnen geht es meist darum, ein Alternativ-Gutachten zu bekommen zu der Frage, ob sie/er gefoltert worden ist. Sie können es in ihrem eigenen oder in einem Strafprozess gegen jemanden, der der Folter beschuldigt wird oder im Falle einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vorlegen.

Der anderen Gruppe von PatientInnen geht es darum, medizinische/psychotherapeutische Behandlung im Zentrum oder durch es vermittelt zu bekommen (0).

Neben den beiden Aufgabenbereichen – Therapie für Folteropfer und Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen – unterstützt die Stiftung Forschungen und andere wissenschaftliche Aktivitäten: So fand im März 1999 z.B. in Istanbul ein internationales Symposium statt, auf dem ein Handbuch über Folterpraktiken, ihre Erforschung und Dokumentation beraten und als sogenanntes »Istanbul-Protokoll« verabschiedet wurde. Das Symposium war u.a. von der Stiftung vorbereitet und ausgerichtet worden. Derzeit wird angestrebt, dieses Handbuch als ein solches der Vereinten Nationen autorisieren zu lassen (14; 0; 2, S. 8).

Kurz vor unserem Besuch war in den Räumen der Menschenrechtsstiftung in Izmir eine Ausstellung über Folterpraktiken an PatientInnen des Zentrums gezeigt worden: Die Fotos dokumentieren die Folgen der falaka (Schläge auf die Fußsohlen), Spuren der Folter mit Elektroschocks, Wunden von ausgedrückten Zigaretten auf der Haut – es sind dies nur Beispiele für die in der Türkei angewandten Foltermethoden: In den Jahresberichten der Stiftung werden sie detailliert und ihrer Häufigkeit nach aufgelistet (2, S. 31-34).

Dabei wird die Definition von Folter zu Grunde gelegt, wie sie in der Tokyo-Deklaration des Weltärztebundes formuliert wurde: „Folter ist die vorsätzliche, systematische oder mutwillige Zufügung von körperlichen oder geistigen Leiden durch eine oder mehrere Personen, die nach eigenem Gutdünken oder auf Befehl irgendeiner Autorität handeln, um eine andere Person dazu zu zwingen, Informationen preiszugeben, ein Geständnis abzulegen oder zu irgendeinem anderen Zweck.“ (2, S. 22; Übers. d. Verf.).

Im Jahresbericht 1998 weisen die MitarbeiterInnen der Stiftung daraufhin, dass Folter in der Türkei nicht nur während der Untersuchungshaft und in den Gefängnissen praktiziert wird, sondern z.B. auch bei Razzien in Dörfern, bei Hausdurchsuchungen oder wenn die Polizei das Haus eines Verdächtigen besetzt und alle Anwesenden ausfragt bzw. festnimmt oder wenn Zivilpolizisten Personen entführen (2, S. 22).

Nach einem Besuch u.a. der Anti-Terror-Abteilung der Polizei in Istanbul im Jahre 1996 hatte das »Europäische Komitee zur Verhinderung von Folter« des Europarats festgestellt, dass dort schwere Formen von Folter angewendet werden: Schläge auf die Fußsohlen und Handflächen, Aufhängung an den Armen (31, S.1). Anlässlich eines Besuches dort Anfang 1999 fanden VertreterInnen des Komitees dieselben unerträglichen Foltermethoden vor (32, S. 6; 24). Von der Menschenrechtskommission des türkischen Parlaments wird Folter seitens der Polizei mittels Elektroschocks, Verprügeln, Abspritzen mit Wasserhochdruckschläuchen angegeben (23). Auch von amnesty international werden derartige Folterpraktiken sowie sexuelle Folter und Todesfälle als Folge von Folterungen bis 1999 bestätigt (16, S. 557 ff.; 17, S. 540 ff.; 20, S. 33).

Durch die Arbeit in den Zentren der Menschenrechtsstiftung wird nur ein Bruchteil all jener erfasst, die in der Türkei Opfer von Folter geworden sind: Man schätzt ihre Zahl auf etwa eine Million Personen (15, S. 4; 9, S. 20).

Nach Angaben von ÄrztInnen der Stiftung in Diyarbakir haben Folterungen im Polizeigewahrsam und in der Untersuchungshaft im letzten Jahr noch zugenommen: Sie werden von ihnen als „üblich“ bezeichnet (0). Im Jahresbericht 1998 der Stiftung heißt es : „Torture continued in a systematic manner“ (2, S.12, 15; s.a. S. 28). Amnesty international spricht in einem Bericht vom Juni 1999 ebenfalls von der „systematischen und weitverbreiteten Anwendung der Folter“ und anderen Menschenrechtsverletzungen, denen gemeinsam sei, dass die staatlichen Täter in der Regel nicht zur Rechenschaft gezogen würden (25, S. 28 f.) – eine Einschätzung, die von derselben Organisation im April diesen Jahres wiederholt wurde (20, S.32 f.). Selbst die Menschenrechtskommission des türkischen Parlaments spricht davon, dass Folter bei der türkischen Polizei „gängige Praxis“ sei (23). Ebenso urteilt die Rechtsanwältin Eren Keskin, Stellvertretende Vorsitzende des Menschenrechtsvereins der Sektion Istanbul und eine der führenden Menschen- und Bürgerrechtlerinnen in der Türkei: „Die Folter wird in der Türkei als Staatspolitik noch immer in systematischer Weise angewendet“ (21, S.104; s.a. 22).

Angesichts dieser klaren Aussagen von kompetenter Seite ist es unverständlich, dass die Kommission der Europäischen Union in ihrem »Bericht 1999 (…) über die Fortschritte der Türkei« resumiert, dass „Folterungen (…) zwar nicht mehr systematisch auftreten, aber weiterhin existieren“ (3, S. 12). Einige Zeilen später nimmt sie allerdings auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) vom Juli 1999 Bezug, in dem anhaltende Folter festgestellt wird und resümiert, dass sich die Lage in der Türkei „nicht wesentlich geändert (hat)“ ( 3, S. 12).

Die MitarbeiterInnen der Stiftung sind immer wieder staatlichen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt. In Izmir beobachteten wir einen Strafprozess gegen den Gynäkologen und langjährigen Mitarbeiter des Zentrums, Dr. Zeki Uzun. Er war angeklagt, ohne Honorar bei zwei Frauen – Kurdinnen und Mitglieder der PKK – Abtreibungen vorgenommen und dadurch eine terroristische Organisation unterstützt zu haben (Art. 196 tStGB). Das Verfahren, das wir beobachteten, fand vor dem Staatssicherheitsgericht in Izmir statt und hatte den politischen Teil, also die Unterstützungshandlung zum Gegenstand. Es basierte auf Aussagen eines Mannes, der wegen seiner Mitgliedschaft in der PKK angeklagt war und durch seine Aussagen gegen Dr. Uzun, den er kannte, Strafreduzierung nach dem sogenannten »Reuegesetz« (28, S. 8; 29, S. 10 f.) erreichen wollte .

Die Staatssicherheitsgerichte (SSG) in der Türkei sind u.a. zuständig für Straftaten, welche „gegen die unteilbare Einheit von Staatsgebiet und Staatsvolk begangen werden“: Art. 143 TV (6, S. 363). Sie tagten jahrelang in der Besetzung mit zwei Zivil- und einem Militärrichter. In mehreren Urteilen der Jahre 1998/9 hatte der EGMR entschieden, dass die Beteiligung aktiver Militärrichter an Staatssicherheitsprozessen gegen das Recht der Angeklagten auf ein unabhängiges und unparteiliches Gericht verstoße, ein faires Verfahren (Art. 6 EMRK) also nicht gewährleistet sei (1, S. 341; 10, S. 24 ff.; 3, S.10; 5, SS.C 301/32 f).Die Verfassung der Türkei wurde daraufhin am 22. 6. 1999 geändert und die Militärrichter an den SSG durch zivile Richter ersetzt (3, S. 10).

Die Gerichtsverhandlung gegen Dr. Uzun war äußerst kurz: VerteidigerInnen und auch der Staatsanwalt (!) plädierten auf Freispruch vom Vorwurf der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. Dr. Uzun selbst wies in einem knappen Schlusswort darauf hin, dass er seinen Beruf frei ausüben, PatientInnen ohne Ansehen der Person behandeln wolle. Die Urteilsverkündung wurde vertagt.

Zuvor, Ende Oktober 1999 war der Arzt von der Anti-Terror-Polizei Izmir in Handschellen in seine voll besetzte Krankenhaus-Praxis geführt und waren Patientenakten beschlagnahmt worden (0). Unter dem Verdacht der Unterstützung und Behandlung von Mitgliedern terroristischer Organisationen war er verhaftet und 6 Tage lang gefoltert worden. Dabei wurden ihm die detaillierten Berichte, die er über Folter an Patienten angefertigt hatte, vorgeworfen (0; 7, S. 46). Seine Anzeige gegen die Folterer hat er nach massiven Drohungen gegen seine Familie wieder zurückgezogen (0).

Ein weiterer Strafprozess fand vor einem SSG etwa 100 km von Izmir entfernt, in Aliaga statt. Ausgangspunkt dieses Prozesses war ein Massaker an Gefangenen im Zentralgefängnis von Ankara im September 1999, bei dem 10 Gefangene ermordet und viele verwundet worden waren. Eines der Opfer sollte einige Tage später in seinem Heimatdorf beerdigt werden. Der Trauergesellschaft, etwa 150 Personen, stellten sich auf dem Gang zum Friedhof Gendarmen in den Weg. Dr. Ayan bemühte sich, wie er uns sagte, die Gruppe ruhig zu halten. Bei dem Versuch weiterzugehen wurden die TeilnehmerInnen der Beerdigung von den Gendarmen brutal attackiert. 76 Personen wurden verhaftet, davon kamen 14 in Untersuchungshaft, unter ihnen Dr. Alp Ayan, Psychiater im Zentrum, Günseli Kaya und Berrin Esin Akan, Sekretärinnen der Stiftung.

Auch diese Verhandlung war nur von kurzer Dauer: Das örtliche SSG war von einem übergeordneten Gericht für zuständig erklärt worden, die diesbezügliche schriftliche Anordnung lag nicht vor, sodass auch dieser Prozess vertagt wurde. Damit verlängert sich für die Betroffenen das Warten in Angst und Ungewissheit und der Einsatz – Busmiete und -fahrt, verlorene Arbeitszeit etc. – war vergeblich. Außerdem werden beim nächsten Prozesstermin möglicherweise keine ausländischen BeobachterInnen teilnehmen.

So weit die mündlichen Informationen, die ich nunmehr ergänzen will durch Informationen aus einem urgent-action-Aufruf der Stiftung, in dem der vorausgegangene Verfahrensablauf detailliert geschildert wird:

Die Gendarmerie hatte in ihrem Protokoll behauptet, die festgenommenen BeerdigungsteilnehmerInnen hätten Widerstand geleistet und anlässlich der Beerdigung eines Mitglieds einer illegalen Organisation Propaganda für diese gemacht. Aus diesen Protokollen ergibt sich außerdem, dass Dr. Ayan und Frau Kaya – für ihre menschenrechtlichen Aktivitäten bekannt – als ProvokateurInnen identifiziert seien. Seitens des SSG in Izmir verlautete, die Inhaftierten müssten wegen Ungehorsams gegen eine rechtmäßige Anordnung zum Schutz der öffentlichen Ordnung angeklagt werden, worauf eine Strafe von 3 bis 6 Monaten stehe (Art. 526 tStGB). Als Ergebnis einer Anhörung vor dem Kriminalgerichtshof in Aliaga wurde entschieden, dass Dr. Ayan und Frau Kaya ebenso wie die 12 anderen Untersuchungsgefangenen vor das SSG gebracht werden müssten und nach Art. 32-3 des Versammlungs- und Demonstrationsgesetzes anzuklagen seien, der diejenigen mit Strafe bedroht, die auf die Entscheidung der Sicherheitskräfte, eine Versammlung aufzulösen, mit Zwang, Gewaltanwendung, Drohung, Angriff oder Widerstand reagieren. Zusätzlich sei eine Anklage wegen Unterstützung von Mitgliedern terroristischer Vereinigungen und Verbreitung von deren Propaganda (7-2 AntiTerrorGesetz) angezeigt. Das erste dieser beiden Delikte wird mit Gefängnis zwischen 3 und 5 Jahren, das letztere mit Gefängnis zwischen 1 und 5 Jahren bestraft (19, S. 48).

Beide Strafverfahren sind exemplarisch: Wenn ÄrztInnen strafrechtlich verfolgt werden, weil sie – ihren Berufspflichten folgend – PatientInnen ohne Rücksicht auf deren politische oder organisatorische Zugehörigkeit behandeln oder weil sie gutachtlich bestätigen, dass PatientInnen gefoltert worden sind oder sich weigern, Namen von Folterüberlebenden, die sie behandeln, herauszugeben (9, S. 8 f.), so will man sie wegen ihres Einsatzes für Folterüberlebende so hart wie möglich bestrafen, ihrem menschenrechtlichen Engagement damit ein Ende setzen. Die Staatsgewalt tut zudem ihr Möglichstes, der Stiftung Nähe zum Terrorismus anzuhängen (0; 7, S. 46; s.a. 9, S. 26 ff.).

Eine weitere einschneidende Art der beruflichen und politischen Repression ist die sogenannte Verbannung, eine Strafversetzung, die gegen staatliche Bedienstete im Gesundheitswesen dekretiert werden kann, z.B. wenn ihre Arbeit „aufgrund eines administrativen oder strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens als bedenklich angesehen wird“ und zwar ohne dass ein disziplinarischer oder Strafausspruch vorangegangen sein muss (00; 11, S.129). Solcherart Verbannungen erfolgen aufgrund beamtenrechtlicher (G Nr. 657) oder administrativer Bestimmungen oder – in den Notstandsgebieten (Ende 1999: Diyarbakir, Hakkari, Sirnak, Tunceli, Van; 18, S. 9) – auf Anordnung des Notstandsgouverneurs (0; 11, S. 129); sie sind zeitlich unbefristet und können von dem/r Betroffenen nicht angefochten werden (0).

Nach Informationen unserer Gesprächspartner in der Gewerkschaft für die Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes – KESK- in Diyarbakir werden Verbannte öfter an Orte mit extrem nationalistisch gesonnener Bevölkerung »versetzt«. Die Betroffenen, die als »SeparatistInnen« gebrandmarkt sind, treffen dort auf ein offen aggressives Klima: Sie sind Beschimpfungen und Angriffen ausgesetzt; es gibt bereits eine Verbannung, die mit der Ermordung des Verbannten geendet hat (0; 26, S. 6).

Der Ort, an den jemand verbannt wird, kann weiter entfernt liegen oder von der Außenwelt abgeschnitten sein oder unterliegt ständiger polizeilicher Kontrolle, so dass sich der/die Verbannte nicht frei bewegen kann. Das Leben in Verbannung verläuft dann in weitgehender Isolation. Auch kann es sein, dass, wenn beide Eheleute verbannt werden, sie an verschiedenen Orten leben müssen (0). Verbannungen haben nach Einschätzung unserer Gesprächspartner im letzten Jahr noch zugenommen. Auch die Vorsitzenden der KESK werden regelmäßig kurze Zeit nach Beginn ihrer Tätigkeit in die Verbannung geschickt (0; 11, S. 131). Ohnehin unterliegt gewerkschaftliche Arbeit ständiger polizeilicher Kontrolle: Mitglieder werden willkürlich verhaftet oder bei Gesundheitskampagnen in umkämpften, also besonders gefährlichen Regionen eingesetzt, werden nicht befördert, gewerkschaftliche Veranstaltungen werden nicht erlaubt etc. (0; 27, S. 6).

Wichtig erscheint mir schließlich noch die Information über die »yesil card«, die Grüne Karte, die im Jahr 1992 für mittellose Personen mit Wohnsitz in der Türkei eingeführt worden ist und ihnen Anspruch auf kostenlose medizinische Versorgung sichern soll (8, S. 31) – eine Tatsache, die auch für abgelehnte AsylbewerberInnen, die aus der BRD in die Türkei abgeschoben werden, von Bedeutung sein kann.

Die Grüne Karte wird in der Praxis allerdings nicht wegen Bedürftigkeit, sondern aufgrund polizeilicher Recherchen nach Kriterien politischer Zuverlässigkeit und eher an Wohlhabende vergeben, so berichten unsere Gesprächspartner in Diyarbakir. In Diyarbakir selbst sind bisher 270.000 solcher yesil cards ausgegeben worden (0) – wiewohl die Stadt in den letzten Jahren – vor allem kriegsbedingt – einem immensen Bevölkerungszuwachs ausgesetzt war und mittlerweile 1,5 Mio. (27, S.7), möglicherweise sogar mehrere Millionen Einwohner hat (26, S.11).

Der Lagebericht Türkei des Auswärtigen Amtes vom September 1999 weiß lediglich von den gesetzlichen Vergabekriterien für die yesil card und davon zu berichten, dass „bei Ankunft in Ankara (…) die direkte medizinische Versorgung im Rahmen privatärztlicher (!; d. Verf.) Behandlung nach Klärung der Kostenfrage (!; d. Verf.) grundsätzlich (! ; d. Verf.) möglich ist“ (8, S.31).

Hier zeigt sich ein Grundproblem, das in den meisten unserer Gespräche auftrat und zu denken gab: Die Änderung der Gesetzgebung mit dem Ziel der inhaltlichen Demokratisierung ist mit Rücksicht auf den Kandidatenstatus, den die Türkei seit Dezember 1999 in der EU hat (24, S. D 3), und im Hinblick auf die Erfüllung der Kopenhagener (Aufnahme-)Kriterien (28) geboten und wird seitens der Regierung und des Parlaments der Türkei forciert (8, S. 20 f.; 3, S. 12 ff.; 30;). Die Durchsetzung der demokratischen Neuerungen ist damit allerdings noch keineswegs gewährleistet: Sie lässt auf sich warten.

Anmerkung

Die Reise begann mit einem Termin in Istanbul bei Insan Haklari Dernegi, dem türkischen Menschenrechtsverein, ging dann in den kurdischen Südosten nach Diyarbakir, wo 5 Tage lang Gespräche mit VertreterInnen verschiedener Ärzte- und Gesundheitsorganisationen geführt wurden. Abschließend wurden in Izmir einige Gerichtstermine beobachtet in Strafsachen gegen ÄrztInnen.

Der Bericht konzentriert sich auf die Menschenrechtsstiftung TIHV: Sie wird stellvertretend für andere Organisationen und ihre MitarbeiterInnen vorgestellt, die ebenfalls mit großem Mut, mit Zähigkeit und unter Inkaufnahme größter persönlicher Gefahren, auch für ihre Angehörigen, für die Verwirklichung der Menschenrechte in der Türkei kämpfen.

Anmerkungen

0) mündliche Information

1) Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Menschenrechte. Dokumente und Deklarationen, 3. Aufl., Bonn 1999

2) Human Rights Foundation of Turkey, Treatment and Rehabilitation Centers Report 1998, Ankara 1999

3) Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Regelmäßiger Bericht 1999 der Kommission über die Fortschritte der Türkei auf dem Weg zum Beitritt, Brüssel 13.10.1999

4) Die Staatssicherheitsgerichte müssen abgeschafft werden, in: Nützliche Nachrichten, 1/1999, S. 12

5) Europäisches Parlament, Entschließung zum Todesurteil gegen Herrn Öcalan und zur Zukunft der Kurdenfrage in der Türkei vom 22.7.1999, in: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften v. 18.10.1999, S. C 301/32 ff.

6) Christian Rumpf, Das türkische Verfassungssystem. Einführung mit vollständigem Verfassungstext, Wiesbaden 1996

7) Hüseyin Kandemir, TIHV-Ärzte werden selbst Folteropfer, in: kurdistan aktuell Nr. 76/77, Oktober-Dezember 99, S. 46f.

8) Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei, Bonn, 7.9.1999

9) Internationale Ärzte für die Verhütung eines Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW Deutschland), Ärztekammer Berlin, medico international, Krieg und Gesundheit in Türkei-Kurdistan, o.0., o. J. (1996)

10) Conseil de l'Europe, Case of Incal v. Turkey (41/1997/825/1031), Strasbourg, 9 June 1998

11) IPPNW, Ärztekammer Berlin, Genocide Watch, Kurdistan-Türkei. Medizin unter Kriegsbedingungen, Berlin, Göttingen 1996

12) Dialog Kreis (Hsg.), Parlamentarier der Türkei durchbrechen Tabu in der Kurdenfrage, 1. Aufl., Köln 1998

13) o.V., Die Türkische Menschenrechtsstiftung. Bericht des Vorstandes über die 4. ordentl. Versammlung der Gründungskommission am 30.1.1994

14) Manual on the Effective Investigation and Documentation of Torture and 0ther Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment (The Istanbul Protocol), Submitted to the United Nations High Commissioner for Human Rights, August 9, 1999

15) Uta Klee, Waltraut Wirtgen, Bericht über die Informationsreise einer Ärztinnengruppe in die Türkei vom 11. bis 18. März 1998, o.0., o. J., Masch. Man.

16) amnesty international, Jahresbericht 1998, Frankfurt/M. 1998, S. 554 ff.

17) amnesty international, Jahresbericht 1999, Frankfurt/M. 1999, S. 538 ff.

18) 20 Jahre Kriegsrecht, in: Nützliche Nachrichten 4/1999, S. 9

19) Türk Insan Haklari Vakfi – Documentation Center, urgent action 99/06 v. 14.10.1999 – Human rights defenders under arrest, in: kurdistan aktuell Nr. 76/77, Oktober – Dezember 99, S. 48

20) amnesty international, Vergewaltigung und sexuelle Übergriffe an jungen Frauen in Haft, in: Roja Kurdistane Nr. 16/April 2000, S. 32 f.

21) Eren Keskin, Nun ist das türkische Volk an der Reihe. Menschenrechte in der Türkei, in: Kurdistan Report 97, Nov./Dez. 1999-Januar 2000, S. 104

22) Kein Wandel in der Türkei. Menschenrechtlerin vermisst die Hilfe der EU, in: Frankfurter Rundschau, 2.5.2000

23) Türkische Parlamentarier kritisieren Polizei-Folter, in: Frankfurter Rundschau, 5. 5. 2000

24) Europäischer Rat (Helsinki), Schlussfolgerungen des Vorsitzes, 10. und 11. Dezember 1999

25) Holger Brecht, Schutz für die Täter, in: ai-Journal 6/1999, S. 28 ff.

26) Gesundheit und Krieg. Der Niedergang des Gesundheitssystems in den kurdischen Provinzen der Türkei, in: Roja Kurdistane Nr. 15, Okt. 1999, S. 11

27) Gisela Penteker, 4. Ärztinnen-Delegationsreise in die Türkei vom 12. bis 16. März 1999, Protokoll, Masch. Man., 12 S.

28) Helmut Oberdiek, Gutachtliche Stellungnahme in der Verwaltungsrechtssache A 3 K 10688/97, VG Stuttgart

29) Mehmet Sahin, Eine Reise durch die heißen Tage des letzten Sommers des Jahrtausends, in: Nützliche Nachrichten 3/1999, S. 7 ff.

30) Demirel mahnt Rücksicht auf Menschenrechte an, Frankfurter Rundschau, 16.5.2000; Sezer verlangt Reformen, Frankfurter Rundschau, 17. 5. 2000

31) Council of Europe, European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment (CTP), Public Statement on Turkey , 6 December 1996, CPT/Inf (96) 34

32) ders., Observations made by the delegation of the CTP which visited Turkey from 27 February to 3 march 1999, Strasbourg 4 May 1999, CTP/Inf (99) 17

Prof. Dr. Barbara Dietrich lehrt am Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Wiesbaden

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2000/3 Europa kommt, Seite