W&F 1986/1

Turning a blind eye: ein Auge zudrücken (…)

von Carl Nedelmann

Es ist bekannt, daß die destruktive Aggressivität der Menschen eine so bedeutende Rolle spielt, daß sich in der Psychoanalyse die Annahme eines Todestriebes gebildet hat. Es ist dies die befremdlichste psychoanalytische Hypothese, die oft abgelehnt und als unwissenschaftlich verworfen worden ist. Aber vergessen wurde sie nie. Vielmehr scheint es, daß ihre weitreichende Bedeutung erst allmählich – über Interesse und Erkenntnis einiger weniger hinaus gewürdigt wird.

Mit dem Todestrieb wird eine Destruktivität gemeint, die zunächst auf einen selbst gerichtet ist und dann aus Gründen des inneren Schutzes und der Vermeidung von Angst teilweise nach außen abgelenkt wird. Die nach außen gelenkte Destruktivität führt zu Vorurteilen, Sündenbock- und Feindbildern, von deren Gefährlichkeit unter bestimmten gesellschaftlichen Umständen sich jeder überzeugen kann, der die Geschichte studiert. Der Rassenwahn, der dazu führte, den Juden die Menschenwürde abzusprechen und im furchtbaren Singular zu sagen: „Der Jude ist unser Unglück“, ist ein prominentes Beispiel, das ebenso bekannt ist wie die Folgen bekannt sind, die daraus erwuchsen.

Es ist ferner bekannt, daß zur selben Zeit, als das europäische Judentum mit diesem radikalen Feinbild identifiziert wurde, das nicht minder radikale Feindbild des Bolschewismus entstand. Beide Feindbilder in Verbindung mit der Auffassung vom überlegenen Recht des Stärkeren im Daseinskampf schufen die wesentlichen psychologischen Voraussetzungen, daß das Programm der Judenvernichtung und das Programm eines Vernichtungskrieges des nationalsozialistischen Deutschlands gegen die Russen in praktische Politik umgesetzt werden konnte (vgl. J. Förster, 1983 a, 23). Hier wie dort scheuen wir die Erinnerung, aber ein wenig wissen wir alle davon.

Auch wie es weiterging ist im wesentlichen bekannt. 1945 gab es bei uns über Nacht scheinbar keine Antisemiten mehr, aber die Struktur, die den Antisemitismus und den Antibolschewismus hervorgebracht hatte, blieb dieselbe und wurde unter dem Begriff des Antikommunismus zu einer Grundfeste der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (…)

Die Verteidigungsanstrengungen gegen tatsächliche und vermeintliche Gefahren haben dazu geführt, daß ein nuklearer Krieg droht, der unsere Kultur, wie wir sie kennen, wenn nicht die gesamte Menschheit und selbst die Erde zerstört.

Wir wissen es, aber wir kehren nicht um. Wir machen von unserem Wissen keinen hinreichenden Gebrauch. Sobald wir uns auf unser Wissen einlassen, droht die nach außen abgelenkte Destruktivität auf uns selbst zurückzufallen, drohen Angst oder Schmerz übermächtig zu werden. Also haben wir unser Wissen ohnmächtig gemacht. Wir verleugnen es. Darüber müssen wir nachdenken.

Verleugnung heißt in aller Regel nicht, daß wir etwas nicht hören oder nicht sehen, sondern, daß uns, was wir sehen oder hören, nichts oder nicht genug bedeutet, weil es unbequem ist, zuviel Unruhe und Ängste hervorruft, oder weil es Ansichten, auf die wir den größten Wert legen, zu sehr widerspricht.

Der Vorgang der Verleugnung ist gegen die Realitätsprüfung wenig abgesichert. Es bedarf einer gewissen Anstrengung, die Zeichen von Kummer und Elend, von Not und Gefahr zu überhören oder zu übersehen. Wir alle wissen mehr, als uns lieb ist oder wir ertragen können. Um der Verleugnung Erfolg und Dauer zu geben, ist ein weiterer Vorgang nötig, der in der Psychoanalyse „Gegenbesetzung“ genannt wird. Wir stellen uns taub oder blind und bleiben es, indem wir die Wahrnehmung des verleugneten Teils der äußeren oder inneren Realität auf projektivem Weg mit einer Einbildung überdecken. So entstehen Verkennungen, Vorurteile, Wahnbildungen. Sie begleiten unser tägliches Leben als harmlose Bausteine zu unserem Seelenfrieden, die allenfalls als verschrobene Eigentümlichkeiten in Erscheinung treten.

Die Harmlosigkeit verliert sich aber, wenn Gegenbesetzungen zur Verleugnung der Realität mit größeren Triebquanten ausgestattet werden, also insbesondere, wenn die genannten Feindbilder mit heftig drängenden destruktiven Wünschen „besetzt“ werden. Die Harmlosigkeit verliert sich, weil zum einen diese destruktiven Regungen im eigenen Inneren nicht genügend in Schach gehalten werden können, daher im „äußeren Feind“ bekämpft werden müssen, weil zum andern dieser Vorgang unbewußt ist und daher der nunmehr gebildete äußere Feind dem Bewußtsein als realer Feind erscheint.

Die Feindbildung spielt sich zunächst im je eigenen Kopf ab, wird aber unter bestimmten kollektiven Bedingungen zur herrschenden Idee und zur herrschenden Gewalt. Das Verhältnis zwischen Ost und West, wie wir es prägen, ist mit einer gewaltigen Triebgefahr aufgeladen, die aufgrund der intrapsychischen kollektiven Verdrängungen auf projektivem Weg im Bewußtsein als Realgefahr erscheint.

Man kann sich in diesem Zusammenhang fragen, ob in der westdeutschen Überzeugung vom Drang der Russen, den Rhein zur Grenze ihres Einflußbereiches zu machen, eine in der Projektion unkenntlich gemachte Wiederkehr des inzwischen verdrängten deutschen Weltmachtplanes zu sehen ist, den eigenen Herrschaftsbereich bis an den Ural auszudehnen. Man kann sich in diesem Zusammenhang auch fragen, ob die als selbstverständlich hingenommene Tatsache unserer Selbstvernichtung im „Verteidigungsfall“ als Wiederkehr der inzwischen verdrängten Vernichtungsstrategie begriffen werden muß, zwar unkenntlich gemacht in den Bündniszusammenhängen der bipolaren Welt, aber nicht so unkenntlich, daß ein altes Muster nicht durchschimmern würde. Denk- und Einstellungsmuster pflegen stabiler zu sein als man sich im allgemeinen klarmacht, und es ist eben noch nicht lange her, daß kollektive Fremd- und Selbstvernichtung zutiefst ineinander verschränkt zur historischen Realität geworden waren.

Der am 22. Juni 1941 begonnene „Blitzkrieg“ gegen die Sowjetunion, das Unternehmen „Barbarossa“, scheiterte nach fünf Monaten. Diese Erkenntnis hat sich nicht erst heute aus dem Studium der Quellen gebildet, sondern war klar geworden, als der Angriff auf Moskau im November 1941 endgültig stecken blieb. Noch vor Beginn der Gegenoffensive Anfang Dezember, am 29. November 1941, hatte Fritz Todt, der Reichsminister für Bewaffnung und Munition, Hitler aufgefordert, den Krieg politisch zu beenden, da er rüstungswirtschaftlich verloren sei. Äußerungen von Halder und Jodl belegen, daß auch Hitler damals die Unmöglichkeit, diesen Krieg zu gewinnen, begriff (vgl. hierzu A. Hillgruber, 1983, 456 f.). Gleichwohl ging der Krieg weiter.

Ablenkung nach außen

Das Potential an innerer Destruktivität suchte sogar noch nach einer weiteren Ablenkung nach außen: am 20. Januar 1942 wurde am Wannsee „die Endlösung der Judenfrage“ besprochen, deren Umsetzung in die Tat „der dunkle Kern des Zwanzigsten Jahrhunderts“ (H. Klein, 1983, 119) wurde. Aber lange ließ sich die mögliche Selbstvernichtung der Deutschen hinter dem herrschenden Programm der Judenvernichtung und der Russenvernichtung nicht mehr verbergen, sondern wurde mehr und mehr auch offen einkalkuliert, erschien in Reden und Tagesbefehlen und fand schließlich in der Verteidigung „bis zum letzten Blutstropfen“ oder „bis zum letzten Mann“ Metaphern, die wiedergaben, was sich in der Realität abspielte, bis das eigene Reich zertrümmert war und damit auch die Ermordung der anderen ein Ende fand, das nicht durch Einsicht und vorausschauendes Denken, sondern nur durch Erschöpfung und Zerschlagung zustande kam. Die Frage, die George F. Kennan gestellt hat, ob eine Kultur diese Katastrophe, die aus der Entfesselung der Destruktivität stammt, überleben kann, ist noch nicht endgültig beantwortet.

Hinzuzufügen ist noch, daß die im Feindbild verdichtete unbewußte eigene Destruktivität eine gefährliche äußere Realität schafft, die keineswegs nur die wenigen „da oben“, die sie tragen, sondern zugleich „die schweigende Mehrheit“, die sie hinnimmt, problematisiert. Die so harmlos klingenden Sätze wie: was geht es mich an, ich kann es nicht ändern, ich weiß von nichts, verlieren in bestimmten historischen Konstellationen ihre Harmlosigkeit. Viele hatten und haben kein Feindbild und eifern nicht. Aber wie viele machen sich klar, daß diese Haltung noch keine Gewähr für Harmlosigkeit ist?

Auf der einen Seite der Verleugnungsskala haben wir es mit massiver Unbewußtmachung zu tun, die in der Starrheit und Heftigkeit der Gegenbesetzung nach außen als unkorrigierbarer Wahn erscheint. Auf der anderen Seite der Verleugnungsskala finden wir ganz und gar bewußte Schritte, vielleicht eine Lüge oder einen feinsinnig spitzfindigen Gedanken. Doch selbst in der Lüge und in der Feinsinnigkeit schwingt Unbewußtes mit, manchmal daran erkennbar, daß ein gewisser inniger Stolz diese Produkte unserer Seelentätigkeit begleitet. Meine Ausführungen bewegen sich ungefähr auf der Mitte dieser Skala, wo sich bewußte und unbewußte seelische Vorgänge die Waage halten und wo Verleugnung in einer Weise stattfindet, die „turning a blind eye“ zu nennen John Steiner kürzlich vorgeschlagen hat (1985).

Turning a blind eye kann nur unvollkommen ins Deutsche übersetzt werden. Sagen wir „sich blind stellen“, geht der in unserem Zusammenhang wichtige Umstand verloren, daß wir doch zwei Augen haben. Turning a blind eye betont, daß das eine Auge sieht, das andere nicht. Insoweit wäre „ein Auge zudrücken“ treffender. Aber darin schwingt zuviel bewußte Konspiration oder Entschuldigung mit.

Turning a blind eye ist eine Redewendung, deren Ursprung dem englischen Nationalhelden Lord Nelson zugeschrieben wird. Nelson hatte vor Abukir ein Auge verloren. Drei Jahre später, 1801, mitten in der Schlacht vor Kopenhagen und unter Beschuß der Kanonen von den vorgelagerten Forts, glaubte Sir Hyde Parker, der den Oberbefehl hatte, plötzlich nicht mehr an den Erfolg. Er ließ das vereinbarte Zeichen setzen, das den Befehl zum Rückzug gab. Nelson wurde davon unterrichtet, setzte sein Teleskop vor sein blindes Auge und erklärte, daß er das Zeichen nicht sehen könne. Also ging die Schlacht weiter. Die Engländer gewannen. Die dänische Flotte wurde vernichtet und damit das Machtgefüge gegen das napoleonische Frankreich zugunsten Englands verschoben. Die Legende vom Ursprung der Redewendung weist auch auf den Erfolg des turning a blind eye in der Machtausübung.

Nun genügt es nicht, nur zu sehen, wir müssen auch hören, und wenn uns die Sinne schwinden, sagen wir, daß uns Hören und Sehen vergeht. Hören ist älter als sehen, und interessanterweise ist die Redewendung „turning a deaf ear“ älter als „turning a blind eye“ (J. Steiner, 1985, 161). Auch das taube Ohr, das wir der Realität oder der inneren Stimme zuwenden, hat eine große Bedeutung für die Abwehr durch Verleugnung, wobei die Gleichzeitigkeit eines hörenden und eines tauben Ohres oder eines sehenden und eines blinden Auges besonders betont werden muß.

Diese Gleichzeitigkeit bezeichnet eine Nahtstelle zwischen Verleugnung und Anerkennung der Realität. Freud hat sie als „die Ichspaltung im Abwehrvorgang“ beschrieben. „Man muß zugeben“, urteilte Freud, „das ist eine sehr geschickte Lösung der Schwierigkeit. Beide streitende Parteien haben ihr Teil bekommen; der Trieb darf seine Befriedigung behalten, der Realität ist der gebührende Respekt gezollt worden (…) Der Erfolg wurde erreicht auf Kosten eines Einrisses im Ich. … Der ganze Vorgang erscheint uns so sonderbar, weil wir die Synthese der Ichvorgänge für etwas Selbstverständliches halten. Aber wir haben offenbar darin Unrecht. Die so außerordentlich wichtige synthetische Funktion des Ichs hat ihre besonderen Bedingungen und unterliegt einer ganzen Reihe von Störungen“. (1940e, 60) (…) „und wo immer wir in die Lage kommen, sie zu studieren, erweisen sie sich als halbe Maßregeln, unvollkommene Versuche zur Ablösung von der Realität“ (1940 e, 134).

Ein Auge blind stellen ist also eine „halbe Maßregel“; die eine Hand weiß doch, was die andere tut, oder ahnt es zumindest. Aber diesem Wissen können die Bedeutungen weitgehend entzogen sein.

Wesentliche Unterstützung findet dieser Vorgang der Abwehr durch Verleugnung in unseren Mitmenschen, die in derselben Weise verleugnen, so daß eine gemeinsame Abwehr möglich ist: nicht nur höre oder sehe ich nicht, was mir zuviel Angst macht, mich zu sehr schmerzt oder mir zu lästig ist, sondern auch höre und sehe ich nicht, was Du nicht hörst oder siehst und weil Du es nicht hörst oder siehst. In einem komplizierten Prozeß stillschweigender Einigung, die allenfalls ein Wink befördert, stellen wir ein geheimes und trügerisches Einverständnis her, das es mir ermöglicht, nicht zu hören oder zu sehen, was Du nicht siehst, und Dir ermöglicht, nicht zu hören oder zu sehen, was ich nicht höre oder sehe. Solche gemeinen und trügerischen Übereinkünfte haben eine außerordentlich große Bedeutung, wenn wir verschweigen, was wir beide doch wissen, so bleibt die Möglichkeit bestehen, daß die beargwöhnte Realität nicht gilt. Auf diese Weise kann Geschehenes nahezu ungeschehen gemacht werden. In einer – keineswegs nur auf Deutschland beschränkten – „Verschwörung des Schweigens“ (H. Krystal, W. G. Niederland, 1968, 341; vgl. auch I. Grubrich-Simitis, 1979, 1015) war über lange Zeit der Holocaust für das bewußte Erleben unwirklich geblieben.

Welches Ausmaß an Affekten diese Übereinkünfte besetzt halten kann, zeigt die Heftigkeit der Reaktionen, die frei werden, wenn Aufklärung den Schleier der Verleugnung zu zerreißen versucht.

„Nach“rüstung

„Wo wir das Verhängnis mit bloßem Auge ausmachen können“, können wir es mit dem blinden Auge zugleich verstellen. Die Realität ist gefährlich genug, aber die eigene destruktive Aggressivität schafft mit Hilfe unbewußter seelischer Vorgänge zur Angstverminderung im Inneren in der Lenkung nach außen Wahngebilde, die den Blick verhängen.

Zu den Wahngebilden, an denen wir in trügerischer und geheimer Übereinkunft festhalten, gehört die Überzeugung, daß die nukleare Aufrüstung des Westens notwendig ist, um einer Aggression aus dem Osten gewachsen zu sein. Ohne Widerspruch zu erregen, darf von dieser Überzeugung, die das primäre Übel im Osten sieht, allenfalls soviel zurückgenommen werden, als es auch möglich ist, zu sagen, der Rüstungswettlauf sei die Folge gegenseitiger Aufschaukelung, zumal diese Ansicht herrschendem Wettbewerbsdenken entgegenkommt. Und jeder, der mit dem durch herrschende Meinung geblendeten Auge durch das Teleskop blickt, wird bezeugen können, daß er nichts anderes sieht. Ein sehendes Auge aber findet etwas anderes und muß erkennen, daß die Amerikaner im Rüstungswettlauf immer die Nase vorn hatten und daß sich daran bis heute nichts geändert hat. Das ist eine schmerzliche Erkenntnis, die z.B. den Begriff der Nachrüstung als pure Demagogie entlarvt (vgl. C. Nedelmann, 1985, 22) und das westliche „Beharren auf dem Recht des Ersteinsatzes“ (G. Kennan, 1982, 284) nuklearer Waffen in einem bedenklichen Licht erscheinen läßt. Diese Erkenntnis zu haben, ist schlimm genug. Sie auszusprechen, führt häufig zu befremdlichen und heftigen Reaktionen.

Übrigens scheinen wir mit der Erkenntnis, daß im Rüstungswettlauf die Amerikaner immer die Nase vorn hatten, mehr Schwierigkeiten zu haben als z.B. die Engländer. In einer Studie vom Cambridge Disarmament Seminar finden sich gar keine Aufhaltungen, sondern wird ohne Umschweife gezeigt: „how the United States raced ahead in the development of the strategies and weapons“ (G. Prins, 1983, 83).

Sagt man es hier, kann es passieren, daß man gefragt wird, wann man endlich „nach drüben“ geht. Oder man wird als Kommunist oder Handlanger des Kommunismus bezeichnet, vielleicht mit dem perfiden Zusatz, man sei es „bewußt oder unbewußt“, als betreibe man die Sache des bösen Feindes und wisse es noch nicht einmal. Der Grad der Blindheit solcher Reaktionen läßt sich an der Heftigkeit des Affektes messen. In der wahnhaft gespaltenen Welt, in der das Denkschema des Entweder-Oder (H. Thorner, 1980) regiert, fühlt man sich plötzlich auf die andere Seite gesetzt.

Die am meisten von Blindheit geprägte Antwort auf die Feststellung, daß die Amerikaner im Rüstungswettlauf die Nase immer vom hatten und noch haben, ist aber die, die zunächst zustimmt und hinzufügt: „Gott sei Dank“. Nichts bei beruhigender für unsere Sicherheit als die immer vorhandene Überlegenheit der Amerikaner. Diese Reaktion zeigt übrigens besonders deutlich, daß die Verleugnung auch andere Ich-Funktionen in Mitleidenschaft zieht und mit der Wahrnehmung auch das Gedächtnis und die Erinnerung leidet. Wo aber Wahrnehmung, Gedächtnis und Erinnerung fehlen, fehlt die Vernunft im Denken und im Handeln. Wer die nukleare Überlegenheit des Westens preist, hat zumindest aus dem Auge verloren, daß aus dem Überlegenheitsdenken die Pläne eines begrenzten und gewinnbaren nuklearen Krieges stammen, die sich mit dem Verteidigungsgedanken kaum noch vereinbaren lassen, da sie Kriegfühnungspläne sind.

Außerdem haben manche – vielleicht sogar viele – unser schwieriges, von der Vergangenheit belastetes Verhältnis zu den Russen aus den Augen verloren.

Zur Verleugnung dieses Verhältnisses dient zunächst natürlich der Antikommunismus, der nicht nur die Ablehnung eines andersartigen politischen Systems bezeichnet, sondern außerdem eine ausgeprägt innenpolitische ideologische Funktion hat. Weitere Elemente, die wir als Gegenbesetzungen heranziehen, um die Verleugnung vor der Realitätsprüfung zu schützen, sind schwerer zu durchschauen, weil sie zugleich Tatsachen darstellen, die von der russischen Politik geschaffen worden sind. Die ersten Glieder in einer langen Argumentations- und Tatsachenkette sind die Russen als Besatzungsmacht in Deutschland sowie die von ihnen veranlaßte Vertreibung Deutscher aus den Ostgebieten, die 1945 begann. Das letzte Glied dieser Kette, das innenpolitisch bei uns eine Rolle gespielt hat, ist die Aufstellung der Raketen vom Typ SS 20. Sie sind übrigens eine besondere Betrachtung wert, weil sich auch hier in phantastischer Weise Wahn und Wirklichkeit im innenpolitischen Kalkül gemischt haben (vgl. C. Nedelmann, 1985, 13-17).

Hinter der dichten und langen Kette der Fiktionen und Tatsachen russischer Gewalt gegen uns konnte der am 22. Juni 1941 von uns begonnene Rußlandkrieg verblassen und der Verleugnung verfallen. Dieser Krieg ist bis heute nur unzulänglich kritisch durchdrungen worden. Selbst die historischen Fachleute sind sich in der Bewertung nicht einig, aber ihre Forschungsergebnisse haben inzwischen eine Eindeutigkeit erreicht, die nicht mehr bestritten werden kann. Dem Wissen der Fachleute steht aber immer noch die mangelhafte Verbreitung dieses Wissens im politischen Bewußtsein unserer Öffentlichkeit entgegen. Was Alexander und Margarete Mitscherlich in „Die Unfähigkeit zu trauern“ (1967) allgemein für die Epoche des Dritten Reiches konstatiert haben, trifft in besonderer Weise auf diesen Teil der Geschichte zu: „Wir – als ein Kollektiv – verstehen uns in diesem Abschnitt unserer Geschichte nicht. So wir überhaupt darauf zurückkommen, verlieren wir uns vornehmlich in Ausflüchten und zeigen eine trügerische Naivität; de facto ist unser Verhalten von unbewußt wirksam gewordenen Verleugnungen bestimmt.“ (S. 13)

Die präventive Notwendigkeit, den Hitler-Stalin-Nichtangriffspakt zu brechen, mag umstritten bleiben. Nicht mehr strittig ist daß der Krieg gegen die Sowjetunion als „Vernichtungskrieg“ konzipiert und in sorgfältiger Vorbereitung in die politische und militärische Praxis umgesetzt wurde (vgl. J. Förster, 1983 a, und R.-D. Müller, 1983). Zu unserer „Vernichtungsstrategie“ gehörte die „Säuberungsstrategie“ der „Einsatzgruppen der SS“, die als „mobile Tötungseinheiten“ hinter der Front ihren „Sonderauftrag“ erfüllten, im übrigen aber im Frontgebiet auch mit der Wehrmacht kooperierten. Zu der „Vernichtungsstrategie“ gehörte außerdem eine geplante und konsequent durchgehaltene „Hungerstrategie“, der bis zum 1. Februar 1942 zwei Millionen russische Kriegsgefangene zum Opfer fielen (R.-D. Müller, 1983, 1018 f.; vgl. J. Hoffmann, 1983, 730, Anm. 71). Die Zahlen müssen in Bilder und Schicksale übersetzt werden, sonst versteht man sie nicht. Ich zitiere daher zur Veranschaulichung aus dem Halbmonatsbericht des Wirtschaftsstabes Ost vom 27. November 1941:

„Man beobachtet es auf allen Straßen, auf denen Kriegsgefangene entlang geführt werden, daß Blätter und weggeworfene Strünke der Rüben mit wilder Gier vom Felde aufgegriffen und verzehrt werden. Auf die einheimische Bevölkerung machen diese Gefangenenzüge einen Mitleid erregenden Eindruck. In den Dörfern sammeln sich die Einwohnerschaft, um in den Zug hinein Rüben, Kartoffeln und Melonenteile zu werfen. Auf dem Felde werfen die Frauen beim Nahen eines solchen Gefangenentransportes Rüben auf den Weg, die von den Gefangenen eiligst aufgesammelt werden. Es ist anzunehmen, daß durch den Anblick dieser entkräfteten Gefangenen, denen der Hunger aus den Augen stiert, die Stimmung den Deutschen gegenüber leidet.“ (zit. nach R.-D. Müller, a. a. O.)

In dem Versuch einer „Schlußbetrachtung“ kam Jürgen Förster trotz des noch nicht „einheitlichen“ Bildes deutscher Historiker vom Rußlandkrieg zu folgender bemerkenswerten Feststellung: „Unter den Historikern besteht allerdings Einigkeit darüber, daß die Folgen des deutsch-sowjetischen Krieges noch in der politischen Gegenwart deutlich spürbar sind.“ (1983b, 1079) Dieses Wissen hat die deutsche Öffentlichkeit noch nicht erreicht, aber in Rußland ist es lebendig. Die Russen haben es nicht vergessen, daß ihre Überzeugung von der Haltbarkeit des Nichtangriffspaktes sich als Illusion entlarvte und der Überfall der Deutschen ihre Vernichtung zum Ziel hatte. Für sie bedeutet es bis heute viel. Im heutigen russisch-amerikanischen Verhältnis darf die Frage nicht unbedacht bleiben, wer im Duopol der Supermächte „mehr Recht“ hat, sich bedroht zu fühlen. Das ist keineswegs nur eine allgemeine und unverbindliche Frage, sondern ein sehr konkretes Problem, das z. B. in der Meinungsverschiedenheit auftaucht, wie die Pershing II im „Gleichgewicht“ zu bewerten sei. Aus russischer Sicht handelt es sich um „strategische Waffen“, den amerikanischen Interkontinentalraketen gleich zu ordnen, während es sich aus amerikanischer Sicht „nur“ um Mittelstreckenraketen, also „taktische“ Waffen handelt. Wie nicht anders zu erwarten, vertritt die Bundesrepublik Deutschland selbstverständlich den amerikanischen Standpunkt. Wenn wir wüßten, was wir tun. Die Pershing II sind eben nicht die „Gegenstücke“ der SS 20, was Rau in seiner Ahlener Rede zur Eröffnung des Bundeswahlkampfes sagte, sondern etwas anderes, schlimmeres und viel gefährlicheres.

Dr. med. Carl Nedelmann ist Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Direktor des Michael-Balint-Instituts in Hamburg. Nedelmann ist Mitglied der International Psychoanalyst Against Nuclear Weapons.

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Die Initiative der Gründung der International Psychoanalyst Against Nuclear Weapons – ging von Londoner Mitgliedern der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) aus. Innerhalb relativ kurzer Zeit gelang es, Mitglieder aus anderen Zweigstellen der IPV zu gewinnen.
Die deutsche Sektion der IPANW wurde am 22. November 1985 gegründet.
Chairman des Executive Committes ist Dr. Moses Laufer. Die Adresse: 48 Abbey Gardens, London NW8 9AT.
Die Sekretärin des Exeutive Committee ist Priscilla Roth, 12 Parhing Road, London NW3.
Das deutsche korrespondierende Mitglied für das Executive Committee ist Jörg Scharif Viktoria-Straße 31, 6242 Kronberg 1.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1986/1 1999: Ende der Atomwaffen?, Seite