W&F 1999/3

Über die Freisetzung krimineller Energien im Krieg

Erfahrungen der »Lobby für Menschenrechte« im Kosovo

von Monika Gerstendörfer

Massenvertreibungen, Vergewaltigungen, Mord. Kriegsbilder, die um die Welt gehen, eingesetzt als Mahnung oder als Propaganda, je nach Standort. Ist die sexualisierte Gewalt eine Folge der Freisetzung krimineller Energien Einzelner oder von Gruppen, handelt es sich um eine Verrohung im Krieg oder sind Vergewaltigungen und Folter Teil militärischer Strategie? Zeigt die Gewaltspirale im Kosovo-Krieg eine für Europa neue Dimension der Folter von Frauen und Kindern: Verschleppung und Zwangsprostitution?

Ausgangspunkt 1

Es ist Krieg in Europa. Die NATO bombardiert Serbien, um das Regime Milosevic und die Vertreibung der Kosovo-Bevölkerung zu stoppen.

Im März 1999 werden zwei US-Soldaten von den Serben gefangen genommen. Für Medien und Regierungsvertreter sind es »Die Kriegsopfer«. Die Lobby für Menschenrechte reagiert auf die ersten gefangenen westlichen Soldaten mit einer Pressemitteilung. Das öffentliche Schweigen über den Krieg gegen Frauen soll damit gebrochen werden, denn die tatsächlichen Kriegsopfer sind in der Zivilbevölkerung zu finden; auf beiden Seiten. Dies ist ein längst bekanntes Phänomen. Seit dem 2. Weltkrieg hat sich das Verhältnis der getöteten ZivilistInnen zu den getöteten Soldaten umgekehrt. Im Koreakrieg betrug es fünf zu eins und im Vietnamkrieg bereits dreizehn zu eins. Die Tendenz ist weiter steigend (vgl. Gerstendörfer 1995), aber das ist weder in Politik noch Medien jemals zum wirklichen Thema geworden. Auch dieses Mal nicht.

Fakten

In der Welt der High Tech-Kriegsführung sind Vergewaltigungen und andere Formen der Folter zu einer Kriegsstrategie geworden. Frauen beider(!) Seiten und zunehmend auch Kinder sind betroffen. Die Zivilbevölkerung erfüllt im modernen Krieg eine Funktion, sie ist die Zielscheibe der Aggression. Der Preis für sie ist hoch, aber wie für Nullsummenspiele (vgl. Watzlawick 1991) charakteristisch: Der Gewinn für die Strategen ist ebenfalls entsprechend hoch. Nicht nur die Börsenkurse stiegen…

Das klassische Nullsummenspiel der Menschheit, der Krieg, bekommt und bekam so noch mehr »Stoff« und Einsatzbereitschaft; noch mehr Eskalationsmöglichkeiten: Je mehr Angehörige der Soldaten auf der einen Seite gemartert und gemordet werden, desto höher die Wut und die Motivation der Soldaten, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, auf der anderen Seite. Die Bilder und Kommentare in der Mediengesellschaft forcieren und unterfüttern das. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte, und es ist ein »Beweisstück« von hoher Effektivität, verknüpft es doch Kognitionen mit Emotionen, Tatsachen (stattgefundene Greuel) mit unmittelbaren Gefühlen (Angst, Wut, Trauer), es schafft Verwirrungen und Verirrungen, die mit Sicherheit keine guten Ratgeber für die Lösung des Problems sind.

Auf diese Weise beschleunigt man sehr konkret nicht nur die Gewaltspirale im unmittelbar stattfindenden Krieg, man schafft durch Bilder auch Ein-Drücke, die sich in das kollektive Gedächtnis der Gesellschaften geradezu einbrennen. Die Tatsache, dass der Status des Soldaten zunehmend sicherer für das Überleben im Krieg geworden ist, wird jedoch verschleiert und verleugnet. Die Menschenrechtsverletzungen an Frauen und Kindern im Krieg erfüllen eine bloße Funktion, indem sie als Beweismittel für die Grausamkeiten der jeweiligen Gegenseite via Bild, Text und Ton weltweit dargestellt und als solche völlig einseitig angeführt werden. Es ist vor diesem Hintergrund nicht von ungefähr, dass die Sendezentralen von Radio und Fernsehen wichtige »Zielobjekte« im Krieg sind. Beide Seiten wollen jeweils Recht behalten und ihre Sicht auf die Lage als die einzig zulässige Wahrheit senden. Auch dieser Kampf zwischen den Medien und der Politik ist ein Nullsummenspiel, das nichts anderes bewirkt als weitere Eskalation. Wer die meisten intakten Mediensender besitzt, besitzt die »Wahrheit«.

Sprache als Waffe

Die bloße Funktion der zivilen Kriegsopfer zeigte sich im Kosovo-Krieg besonders eindrücklich durch die verwendete Sprache: »Kollateralschäden« waren das. Die Zerbombung von Gebäuden wie Krankenhäusern und anderen lebenswichtigen Einrichtungen und der Tod von Menschen waren ein Preis, der angeblich gezahlt werden musste. Diese kollateralen Schäden wurden von den Verantwortlichen mit Bedauern (zumindest in den Medien) zur Kenntnis genommen. Wo gehobelt wird, fallen Späne… Aber die unpolitische und/oder entpolitisierte Bevölkerung sollte nicht einmal kollateral über solches nachdenken. Das Versprechen und Beteuern, noch zielsicherere und bessere Waffen zu entwickeln, steht! Es beruhigt(e) viele. Leider! Die WeltbürgerInnen in ihrer Funktion als SteuerzahlerInnen dürfen sicher sein, dass sie hierzu auch in Zukunft ihren Beitrag leisten werden, denn das erklärte Ziel ist, den Krieg als »humanitären« zu führen. (So zynisch kann Sprache sein!)

Ausgangspunkt 2

Im April erreicht die »Lobby« via e-mail die Nachricht einer/s Informanten/in vor Ort. Sie/er spricht die Gefahr von Frauenhandel und Zwangsprostitution an. »Gestrandete« Frauen und Mädchen, die ohne Perspektive in Makedonien säßen, seien akut gefährdet. Außerdem erreicht uns die Information, dass Pädokriminelle ihre »Hilfe« über e-mail und andere Kanäle anböten (z.B. Postings wie „würde drei stramme Jungs aufnehmen“ etc.) und dass HelferInnen vor Ort vollkommen schockiert über solche Angebote seien. Die »Lobby« stellt eine Anfrage an die verantwortlichen Ministerien und einige Bundestagsabgeordnete. Die Information wird auch im e-mail-Netz verteilt und auf die Homepage gestellt. Aus den Antworten der Ministerien ergibt sich, dass sie darüber nicht Bescheid wissen; manche teilen jedoch mit, dass sie sich der Sache annehmen möchten. Die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Petra Bläss, stellt eine Anfrage an die Bundesregierung (schriftliche Fragen für den Monat April). Die UN-Hochkommissarin für Flüchtlinge, Sadako Ogata, bestätigt die Befürchtungen der Lobby zur drohenden Sklaverei:

„Mr President, I also wish to share with the Council my deep concerns with respect to the protection and security of refugees. Human traffickers are a serious threat, especially in Albania. They have already started smuggling refugees across the Adriatic into Italy and the European Union. Young women, often forced into prostitution, and children are frequent victims, particularly when they are hosted in families, and are thus more vulnerable to these threats. This phenomenon will increase if it is not adressed more forcefully and immediately. There is also a very real risk of forced recruitment of refugees by the Kosovo Liberation Army. I strongly urge governments to discourage this practise.“ (United Nations, New York, 5/5/99, Briefing by Mrs. Sadako Ogata, United Nations High Commissioner for Refugees, to the Security Council)

Im Mai bestätigt auch das Auswärtige Amt die Verschleppungen; sogar die von Kindern. Bestätigung auch durch Recherchen vor Ort der Welt am Sonntag, u.a. durch die Befragungen von Klosterfrauen (vgl. Welt am Sonntag 2.5.99). Szenen wie im Film sind danach vor Ort abgelaufen. Schwarze Limousinen standen sogar vor den Klosterpforten, um nach jungen Frauen Ausschau zu halten, die dort Zuflucht gesucht hatten.

Fakten

Aus der Folterforschung ist bekannt, dass es kaum eine perfektere Methode gibt, einen Menschen zu demütigen, zutiefst zu verletzen und sogar zu vernichten, als die Anwendung von sexualisierter Gewalt (vgl. u.a. Millet 1993, Oelemann 1999).

Dies gilt jedoch nicht nur für einzelne Menschen auf der individuellen Ebene. Die sogenannte Schändung von Frauen und/oder Kindern ist schon im antiken Griechenland als wirkungsvolle Strategie zur Demütigung des Gegners bekannt (vgl. Doblhofer 1994). Die tiefe Verletzung und Vernichtung eines Volkes durch die »ethnischen Säuberungen«, durch die Vergewaltigungen und Zwangsschwängerungen der Frauen des Gegners ist während des Krieges im ehemaligen Jugoslawien das erste Mal in das Bewußtsein der breiten Öffentlichkeit gelangt.

Aber die Entwicklung in diesem Bereich ging und geht sehr schnell weiter. Die modernen Formen der Sklaverei wie »Frauenhandel«, »Zwangsprostitution«, Herstellung und Verbreitung von »Live-Hardcore-Pornos« u.v.m. werden nicht nur im Frieden, sondern bevorzugt im Kriegs- oder Nachkriegsgebiet initiiert. Dort kommt man am leichtesten an »Frischfleisch« heran. Dabei kann es sich um elternlose Kinder handeln oder um junge Frauen, die alle eines gemeinsam haben: Sie sind in einer katastrophalen Situation ohne jede Aussicht auf Schutz, Erfüllung von Grundbedürfnissen oder gar eine Zukunftsperspektive. Dieses Phänomen ist den Nichtregierungsorganisationen (NGOs) bekannt. Sie versuchen seit Jahren darauf aufmerksam zu machen. Aber die Politik und andere Verantwortliche reagieren darauf nicht und lassen den Dingen ihren Lauf. Dies führt dazu, dass die Folterbranche (Frauenhändler, Kinderpornoproduzenten etc.) sowohl im Cyberspace als auch im »real life« weiter boomt. Die Wechselwirkungen zwischen informationstechnologischen Möglichkeiten, Tatenlosigkeit der Politik angesichts zunehmender Menschenrechtsverletzungen (u.a. durch eklatante Gesetzeslücken und weltweite Unkoordiniertheit bei der Ermittlung), Entwicklungsstand des organisierten Verbrechens und wirtschaftlicher Möglichkeiten sind fatal: Die Ismen, die Ungleichheiten zwischen Menschen (Rass-Ismus, Sex-Ismus, Adult-Ismus) werden so noch krasser und erhalten vor allem neue und destruktive Qualitäten. Dies gilt für Friedenszeiten: So ist es durchaus nicht von ungefähr, dass NormalbürgerInnen schon bei der Nennung bestimmter Länder oder Nationalitäten vor allem an »Sextourismus« (Philippinen, Thailand usw.) oder an Kriegsverbrecher (Serbien) denken und nicht an die Kultur, die Landschaft oder die Menschen dieses Landes. Dies gilt aber auch für die Zeiten des Krieges, hier in verschärfter Form: Denn wenn die Profiteure der modernen Sklaverei ungestraft Überlebende eines Krieges für ihre verbrecherischen Absichten in Kriegsgebieten suchen können und dürfen und die Protagonisten des »humanitären« Krieges dem nichts entgegenzusetzen haben, dann ist das nicht nur eine unterlassene Hilfeleistung, es stellt die propagierte Absicht, Völkermord stoppen zu wollen, in massiver Weise in Frage.

»Beweise« statt Handeln

Das Wissen um voraussichtliche Menschenrechtsverletzungen – wie z.B. Sklaverei und Verschleppung – in einem Kriegsgebiet und die Informationen aus Kanälen, die nicht genannt werden sollen oder dürfen, führte nicht nur im Kosovo-Krieg zu einem Phänomen, das auch aus zivilen Gerichtssälen im Bereich der sexualisierten Gewalt bekannt ist: In dubio pro reo, die Opfer müssen beweisen oder als Beweismittel fungieren. Im Falle der Informationen über die drohende Versklavung von Frauen und Minderjährigen während des Kosovo-Krieges waren es die HelferInnen bzw. die NGOs, die in Beweislastnöte gebracht wurden. Beispielsweise fragten JournalistInnen immer wieder nach der Sicherheit der Informationsquellen oder deren Enttarnung. Es war und ist schwierig, klarzumachen, dass es bei der oder nach Vorlage von solchen »Beweisen« zu spät ist und deshalb darum geht, vorab zu handeln. Sicherlich sind gefolterte Leichen und nachweislich verschleppte Frauen und Kinder »Beweise«. Aus menschenrechtlicher Sicht muss jedoch vorher gehandelt werden. Erfahrungen im zunehmend verkommerzialisierten Gewaltbereich und das Wissen, dass das, was lukrativ und machbar ist, auch gemacht werden wird, erfordern präventive Maßnahmen und nicht die Jagd auf Bilder von Leichen, Interviews mit vergewaltigten Frauen o.Ä.

Mit anderen Worten: Die Wahrheit liegt nicht irgendwo zwischen dem Bild eines gefangenen US-Soldaten und dem Wissen von NGOs um die mit Sicherheit stattfindenden Menschenrechtsverletzungen an Frauen und Kindern. Vielmehr liegen die Fakten, was die tatsächlichen Kriegsopfer angeht, jenseits der traditionellen Wahrheitsforschung und Kriegsphilosophie und das Wichtigste dabei ist, rechtzeitig zu handeln anstatt abzuwarten bis das Geschehene in Bild oder Ton für die Opfer Vergangenheit ist.

Ausgangspunkt 3

Am 25. Mai erreicht die »Lobby« frühmorgens eine dpa-Meldung aus New York: „Alarmierende Berichte über Sexualverbrechen serbischer Soldaten“. Die UNFPA, das Bevölkerungsprogramm der Vereinten Nationen, hat eine Untersuchung veröffentlicht und bezeichnet die Lage als alarmierend. Die schlimmsten Befürchtungen bestätigen sich. Sie sind nun gewissermaßen bewiesen. Für die betroffenen Opfer ist es jedoch zu spät. Selbst von drohenden Verbrennungen am lebendigen Leib wird hier berichtet. Wieder einmal muss festgestellt werden, dass die relativ frühzeitigen Warnungen nicht ernst genommen wurden, dass die Chance auf eine minimale Prävention verspielt wurde indem die Forderungen der NGOs nach verstärkter Präventivdiplomatie genauso ignoriert wurden wie die Forderungen nach Stärkung der UN.

Da von Anfang an von einem »humanitären Krieg« gesprochen worden war, geht nun die Angst vor Umkehr der Logik um: Was macht eine Menschenrechtsorganisation, wenn sich Verantwortliche vor die Kamera stellen und behaupten, dass weiter gebombt werden muss, damit Frauen nicht vergewaltigt werden? Bekämen Menschenrechtsorganisationen eine Chance der Aufklärung in den Medien, Aufklärung über den Zusammenhang zwischen Krieg und Entmenschlichung und der Notwendigkeit einer präventiven Politik? Sicher nicht! Dafür beginnt jetzt die Arbeit von Organisationen wie Medica Mondiale. Deren Ärztinnen und Psychologinnen dürfen ab nun die Traumata der Kriegsopfer aufarbeiten helfen; mit geringem Spendenvolumen, da sie keine Spenden-Abos haben wie die großen, traditionellen Hilfsorganisationen.

Fakten

Zu den traumatisierten Frauen gehören keineswegs nur die Frauen aus dem Kosovo, dazu gehören auch Frauen, deren Männer im Krieg sexualisierte Gewalt ausgeübt haben und die in nicht wenigen Fällen später gegen ihre eigenen Partnerinnen gewalttätig werden. Das sind Erkenntnisse von NGOs, die aus vergangenen Kriegen gewonnen wurden. Damit wird deutlich, dass der Krieg für die Frauen noch lange nicht vorbei ist und man nicht so einfach in »Gute« und »Böse«, in Angegriffene und Angreifende einteilen kann. Außerdem wird deutlich, dass es eine Kontinuität zwischen Krieg und Frieden gibt. Es sind nicht zwei so grundsätzlich verschiedene Welten; jedenfalls nicht für die weibliche und minderjährige Zivilbevölkerung.

Die Verhaltensmuster, die stattgefundene Entmenschlichung, die kriminellen Energien sind nicht »vom Himmel gefallen«. Der Krieg zeigt lediglich mit brutaler Deutlichkeit, wohin lebensfeindliche Einstellungen und Verhaltensweisen, wie sie im Frieden gelebt und erlebt werden, führen können. Es gibt einen roten Faden zwischen der alltäglichen Männergewalt gegen Frauen und dem Handeln im Krieg, zwischen den neuen Möglichkeiten von Informationstechnologie, modernen Formen der Sklaverei und Erscheinungen wie Frauen- und Kinderhandel mitten im Krieg.

No future oder politische Lobby-Arbeit

Wie sieht es mit der Zukunft politischer Lobby-Arbeit und der Arbeit der Hilfsorganisationen aus? Macht sie überhaupt Sinn und welchen Erfolg kann sie haben? Sicherlich hat es Fortschritte gegeben. Das frühere Motto »Es ist halt Krieg und da müssen die Frauen mit Vergewaltigungen rechnen« gilt nicht mehr so unbedingt und mit seinem ganzen lakonisch formulierten Zynismus. Immerhin spricht man nicht mehr von »Schändungen«, sondern von Vergewaltigungen und diese sind mittlerweile auch eindeutig zu Verbrechen erklärt worden. Vergewaltigende Männer gelten nun als Verbrecher, denen zumindest potenziell das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag droht. Aber dieser Wandel des Männerbildes (vom kriegerischen, triebgesteuerten Tier zum Vergewaltiger und verantwortlichen Verbrecher), des Frauenbildes (von der Geschändeten zum traumatisierten Verbrechensopfer) und der Tat selbst (von der Schändung zur Menschenrechtsverletzung) haben Politik und Öffentlichkeit, die Kriege unter bestimmten Bedingungen für notwendig und humanitär halten, nicht in ihren Grundfesten erschüttern können.

Vor diesem Hintergrund bleibt die Arbeit von Hilfsorganisationen während und nach dem Krieg nichts anderes als eine Art »Sicherheitsgurtpolitik« (vgl. Hagemann-White 1992). Auch dieser Begriff mit den dahinterstehenden Gedanken stammt aus dem Frieden. Da „niemand vor einer Karambolage sicher sein kann“ (ebd.), muss halt ein Gurt angelegt werden. Da es nun einmal Männer gibt, die ihre Partnerinnen misshandeln, muss es eben Frauenhäuser und Notrufe geben. Die berechtigte Frage hierzu lautet, ob wir es uns mit der Gewalt eigentlich einrichten wollen, denn die Ursache und die Bedingungen, unter denen solches zustande kommt, werden hierdurch keineswegs bekämpft (ebd.); vielmehr kann dieses »Spiel« immer so weiter gehen.

Diese berechtigte und wichtige Frage lässt sich übertragen, denn in den Kriegen des späteren 20. Jahrhunderts ist es selbstverständlich geworden, dass Hilfsorganisationen der UN und NGOs vor Ort den Opfern helfen. Das darf auch nicht aufhören, sondern muss weit besser finanziert werden. Aber eine Lösung ist es nicht. Man versucht Schäden zu begrenzen oder fängt das Schlimmste auf. Es ist eben ein Sicherheitsgurt; dessen muss man sich bewusst sein oder werden.

Kriminelle Energien im Krieg?

»Rape is a war crime«, so hieß der Titel einer im Juni schnell einberufenen, internationalen Konferenz des International Centre for Migration Policy Development (ICMPD) in Wien, zu der u.a. auch die EU-Kommissarin Anita Gradin eingeladen war, die sich große Verdienste bei der Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen erworben hat. Zu einer solchen Konferenz erscheinen Militärs, VerteidigungsministerInnen und andere Verantwortliche nie. Das ist aus psychologischer und menschenrechtlicher Sicht bezeichnend und interessant. In Fernseh-Talkshows, Nachrichten und anderen wichtigen Medien-Ereignissen, in denen es um weitere Kriegsstrategien, Einschätzungen der gegenwärtigen Lage o.ä. geht, sieht man dafür keine Frauen. Das ist auch bezeichnend, ja, selbstverständlich und ebenso interessant. Vor dem entwickelten Hintergrund stellen sich jedoch die konkreteren Fragen: Sind Vergewaltigungen und andere Formen sexualisierter Folter lediglich (Kriegs-)Verbrechen? Wenn ja, wem nützt diese Sicht und wem nicht?

Wenn nämlich Vergewaltigungen nicht nur Verbrechen, sondern vor allem eine bewusst geplante und vorsätzliche Kriegsstrategie sind, dann ist die potenzielle Strafbarkeit einzelner, krimineller Akte im Krieg kurzsichtig, wenn nicht sogar sinnlos (i.S.v. reiner Symptom-Behandlung), da das nächste Mal, im nächsten Krieg, genau dasselbe geschehen wird. Dann ist auch die Entwicklung von der »Schändung« zum Kriegsverbrechen (rape is a war crime) nicht nur reduktionistisch, sondern ein Akt von gefährlicher Augenwischerei. Dann wird das Nullsummenspiel auch beim nächsten Mal nach dem gleichen Muster anlaufen: Der Gurt wird angelegt, UN-Organisationen und NGOs werden vor Ort sein und helfen, es wird sich aber nichts Grundlegendes ändern. Das ist der Punkt. Die Gewaltspirale wird so nicht unterbrochen. Das Einzige, was sich dann geändert hat, sind die Vokabeln und Bezeichnungen.

Nicht im System einrichten

Hier haben Menschenrechtsorganisationen und andere NGOs eigentlich eine zentrale Aufgabe. Sie müssen dieses Spiel und seine Mechanismen offen benennen und zur Diskussion stellen. Sie müssen der Stachel im Fleisch der Politik sein, die erfahrungsgemäß sonst immer so weitermachen wird. Sie müssen das System und seine Mechanismen entlarven. Sie dürfen sich nicht in dem System einrichten, sondern sie müssen ihre Rolle, ihre Funktionen, ihre Ziele immer wieder neu überdenken. Um dies am Beispiel zu konkretisieren: das oberste Ziel jedweder Organisation, die sich mit der Abschaffung von Ismen, den Ungleichheiten zwischen Menschen, beschäftigt, müsste eigentlich die Selbstauflösung sein.

Noch konkreter: Das Ziel eines Frauenministeriums muss die Abschaffung dieses Ministeriums sein. Denn wenn das Ziel – hier die Abschaffung des Sex-Ismus – erreicht ist, benötigt man es nicht mehr. Das oberste Ziel der Lobby für Menschenrechte ist die Selbstauflösung. Die Bekämpfung und Abschaffung der Ungleichheiten zwischen den Menschen ist lediglich der Weg. Wenn die Lobby nicht mehr notwendig ist, ist der Weg zu Ende und das Ziel erreicht. Es darf durchaus bezweifelt werden, ob alle NGOs diese Sicht haben.

Damit ist nun nicht nur die Politik im Kreuzfeuer der Diskussion, alle sind gefragt und zur Verantwortung zu ziehen.

Literatur:

Doblhofer, G. (1994): Vergewaltigung in der Antike, Teubner, Stuttgart.

Gerstendörfer, M. (1995): Menschenrechtsverletzungen an Frauen im Krieg: Frauen als militärisches Kalkül, in: Fraueninhaftierung und Gewalt, Loccumer Protokolle 62/93, Rehburg-Loccum, S. 97-127.

Hagemann-White, C.(1992): Strategien gegen Gewalt im Geschlechterverhältnis, Centaurus, Pfaffenweiler.

Millet, K.(1993): Entmenschlicht – Versuch über die Folter, Junius, Hamburg.

Oelemann, B. (1999): Präventionsrat Basel, 17.6.99 »Gewaltprävention und Jugendarbeit«, Vortrag.

Watzlawick, P.(1991): Vom Schlechten des Guten oder Hekates Lösungen, Piper, München, 5. Aufl.

Monika Gerstendörfer, Diplom-Psychologin, Lobby für Menschenrechte e.V.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1999/3 Tödliche Bilanz, Seite