Unabhängig vor und nach 1989
Entwicklungen der Friedensbewegung in Ostdeutschland
von Alexander Leistner
In den turbulenten Gedenkjahren 2019 und 2020, als sich Friedliche Revolution und Wiedervereinigung zum 30. Mal jährten, spielte die Geschichte und Gegenwart der Friedensbewegung im Osten Deutschlands keine Rolle. Bei solchen Gelegenheiten wird deutlich, dass kollektives Erinnern häufig in Zäsuren denkt und im Fall der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR deren Bedeutung auf den Beitrag zum Untergang der SED-Diktatur reduziert wird. Dabei werden deren Anliegen ebenso verdeckt, wie das Fortleben der Bewegung nach 1989.
Die Geschichte der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR vor und nach 1989 ist in vielerlei Hinsicht die Geschichte einer eigenständigen Bewegung (vgl. Leistner 2016). Eigenständig gegenüber der Friedensbewegung in Westdeutschland, weil ihre angesichts scharfer Repression unwahrscheinliche und riskante (Schatten)-Existenz verschiedene Besonderheiten mit sich brachte. Eigenständig auch innerhalb eines Staates, der sich selbst als »Friedensstaat« verstand, weshalb die Aktiven viel Wert auf die Selbstbezeichnung »unabhängig« legen mussten. Die Besonderheiten der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR werden schon bei einem ersten oberflächlichen Blick sichtbar. Die Erinnerung an die bundesdeutsche Friedensbewegung ist geprägt von den bildträchtigen Massendemonstrationen wie bspw. 1983 im Bonner Hofgarten. In der Erinnerung an die unabhängige Friedensbewegung in der DDR fehlen dem gesamtdeutschen kollektiven Gedächtnis dagegen tief eingeprägte Bilder und Aktionen. Allenfalls Symbole werden in der Erinnerung wachgerufen, wie der Slogan »Schwerter zu Pflugscharen« nebst zugehörigem Aufnäher, oder Orte, wie die Leipziger Nikolaikirche als Raum für die Friedensgebete und Ausgangsort für die großen Proteste auf dem Leipziger Innenstadtring 1989. Das Fehlen öffentlichkeitswirksamer Bilder verweist auch auf das Fehlen einer DDR-weiten Öffentlichkeit. Mit der Ausnahme einiger westlicher Journalist*innen, kirchlicher und subkultureller Kreise sowie anderer an den Rand gedrängter Milieus hatten die Gruppen kaum eine Möglichkeit, die allgemeine Bevölkerung auf die eigene Existenz, geschweige denn die eigenen Inhalte, aufmerksam zu machen.
Entstehung einer Bewegung im Schatten
Die unabhängige Friedensbewegung formierte sich unter dem Dach und im Schutz- und Kommunikationsraum von Teilen der Evangelischen Kirche, die – als einzige von der SED unabhängige Großorganisation in der DDR – in eine (teilweise ungewollte) politische Stellvertreterrolle für kritische Gruppen hineinrutschte. Es hatte aber auch inhaltliche Gründe für diese Entwicklung, da in den ostdeutschen Landeskirchen recht früh nach der Staatsgründung eigenständige friedensethische Positionen entwickelt und in den folgenden Jahren mehr oder minder offensiv vertreten worden waren, sofern sie nicht kirchenpolitischen Rücksichtnahmen zum Opfer fielen. Hinzu kamen organisatorische Gründe, da die ersten Friedensarbeitskreise und Friedensseminare der 1970er Jahre an der kirchlichen Basis gegründet wurden und sich „auf die theologische Arbeit in den Kirchen und die legalen kirchlichen Strukturen“ (Neubert 1997, S. 299) stützen konnten. An vielen Stellen zählten auch Pfarrer*innen und kirchliche Mitarbeitende zu den Hauptakteur*innen. Schließlich rekrutierten sich die Gruppen anfänglich vor allem aus kirchlichen und kirchennahen Kreisen.
Der Protest, der sich ab Anfang der 1970er Jahre in diesem Schutzraum artikulieren konnte, war vergleichsweise still und, gemessen an freien Gesellschaften, unspektakulär. Dafür persönlich umso riskanter. Ein Beispiel soll das veranschaulichen. Am Abend des 13. Februar 1982 – dem Jahrestag der Bombardierung Dresdens – saß die 17jährige Annette »Johanna« Ebischbach (später Johanna Kalex) bei ihren Eltern wie unter Hausarrest.1 Im West-Radio hörte sie, dass sich weit über 5000 Menschen in der Kreuzkirche und an der Ruine der Frauenkirche versammelten. Der Anstoß dazu war von Johanna und Freund*innen aus der Dresdner Hippieszene ausgegangen. Aufwühlende Monate lagen hinter ihr. Sie hatte stundenlange Stasi-Verhöre und Ermittlungen wegen »Herbeiführung einer illegalen Zusammenrottung«, für die bis zu acht Jahre Haft drohten, über sich ergehen lassen müssen. Was war passiert?
Persönliche Risiken: die Gruppe Wolfspelz
Die Erinnerung an die Bombardierung der Stadt war staatlich dominiert und von der Kalten-Kriegs-Propaganda gefärbt: von »angloamerikanischem Bombenterror« war die Rede. Im »Friedensstaat« DDR entstanden unterdessen unabhängige Friedensgruppen und in Dresden trafen sich Jugendliche, die von einem Frieden ohne Soldaten träumten und dafür auch aktiv wurden. Sie formulierten einen Aufruf, sich am Jahrestag der Bombardierung mit Kerzen an der Frauenkirche zu versammeln. Sie vervielfältigten ihn erst mühsam mittels Schreibmaschinendurchschlägen, später illegal im Ausbildungsbetrieb einer Mitstreiterin. Über Berlin, Leipzig und andere Städte verteilte er sich in alle Winkel der Republik – intensiv beobachtet von der Stasi, die erheblichen Druck auf die Jugendlichen ausübte. In ihrer Not wandten sie sich hilfesuchend an die lokale Kirchenleitung, die einen Kompromiss aushandelte. Um verbotene Ansammlungen zu verhindern, wurden die Menschen zu einem kirchlich organisierten Friedensforum in der Kreuzkirche umgeleitet. Die Jugendlichen hatten auf diese Veranstaltung nur noch wenig Einfluss. Die Wirkung des Aufrufs war immens. Tausende kamen, obwohl die Stasi alle Zufahrtswege nach Dresden kontrollierte und Unzählige an der Anreise hinderte (vgl. Neubert 1997, S 395f.) Auf Zettel konnten die Jugendlichen in der Kirche Fragen schreiben, die unter Applaus verlesen wurden – ein unschätzbarer Moment von Öffentlichkeit in der Diktatur (vgl. Büscher et al. 1982, S. 264ff.). Es ging in den Fragen um die Verweigerung des Wehrdiensts, um Forderungen nach einem »Sozialen Friedensdienst« als Alternative zur Wehrpflicht, um die atomaren Bedrohungen des Kalten Krieges. Hunderte zogen anschließend mit Kerzen zur Ruine der Frauenkirche. Die Berichte in den Westmedien über diese unerhört große Veranstaltung machten für die landesweit verstreuten Friedensaktivist*innen sichtbar, dass sie eine Bewegung mit einer wachsenden Mobilisierungsbasis waren. Das Forum markiert aber auch den Beginn einer Distanzierung zwischen den Kirchen und den engagierten Gruppen, die auf diesen Schutz angewiesen waren. Als der sächsische Bischof die junge Hippieschar als „Wölfe im Schafspelz“ bezeichnete, benannte die sich in »anarchistische Gruppe Wolfspelz« um und suchte eigene Wege.
Wurzeln und Strömungen der Bewegung bis 1989
Die Wurzeln der Bewegung reichen weit zurück und sind eng gebunden an die Nachwirkungen des Nationalsozialismus. Die DDR entstand als Kriegsfolgengesellschaft auf den Trümmern des »Dritten Reichs«. Die neuen SED-Machthaber*innen regierten eine Bevölkerung, die in großen Teilen unter der Herrschaft des Nationalsozialismus nicht wenige von ihnen noch als »Volksschädlinge« angesehen hatte. Als Folge des Arbeiteraufstands von 1953 wurde das System der militarisierten, nach innen und außen gerichteten Herrschaftssicherung stalinistischer Prägung weiter gefestigt. Das Militär und die Militarisierung prägten das gesellschaftliche Leben, weshalb in der Forschung von der DDR auch als »militarisierte Organisationsgesellschaft« (vgl. Leistner 2016, S. 162ff.) gesprochen wird.
Zugleich war die Gesellschaft mentalitätsgeschichtlich betrachtet eine der »kleinen Leute« – geprägt von habitueller Konformität, mit nur wenigen Nischen für eine alternative Lebensführung und resistente oder renitente Sozialmilieus. Im Kontrast dazu hatte sich die Friedensbewegung in den 1980er Jahren als heterogenes, konfliktreiches, sich generational überlagerndes und zeitlich versetztes Nebeneinander von vier Strömungen ausdifferenziert, die sich idealtypisch folgendermaßen unterscheiden lassen:
- Als »Kriegsablehnungsbewegung« der seit den 1970er Jahren entstandenen unabhängigen Friedensbewegung. Diese arbeitete teilweise seit Jahrzehnten, sie regte thematisch sich ausdifferenzierende Gruppengründungen an und hatte mit ihrer Haltung radikaler Gewaltablehnung einen entscheidenden Anteil am friedlichen Verlauf des Revolutionsherbstes. Getragen wurden diese Gruppen anfangs vor allem von Wehrdienstverweigerern und den sogenannten Bausoldaten.2 Anfänglich kreisten die Themen vor allem um Fragen von Wehrdienstverweigerung und zivilen Ersatzdiensten. Das Spektrum erweiterte sich rasch hin zu Ursachen der Eskalationslogik atomarer Bedrohung und, spätestens mit der Einführung des Wehrunterrichts 1978, um die innere Militarisierung der Gesellschaft. Die Gruppen arbeiteten kontinuierlich und entwickelten Arbeitsmaterialien zur Friedenserziehung und zur einseitigen Abrüstung.
- Die aus dem real existierenden Sozialismus ausgebürgerten Utopien lebten, genährt von den weltweiten Aufbrüchen der 1960er Jahre und besonders dem Prager Frühling, in großen Teilen der Friedensbewegung als »Reformbewegung« fort, die für einen besseren Sozialismus und 1989 für einen »Dritten Weg« stritten.
- Gegen die Zukunftslosigkeit, die Konformität und die kleinbürgerliche Enge der Gesellschaft der »kleinen Leute« entwickelte sich eine jugendkulturelle Rebellion. Diese vom Lebenshunger getriebene »Emanzipationsbewegung« suchte Nischen für alternative Lebensformen und Freiräume in einem Land, das sie als Gefängnis erlebten: „Sechs Stunden hoch, vier Stunden breit“.
- Noch deutlicher wurde die Kluft zu den reformsozialistischen Idealen der älteren Aktivist*innen Ende der 1980er Jahre, als die anschwellende »Protestbewegung« die verschiedenen Gruppen noch stärker politisierte – wie es sich etwa in der Gründung der »Initiative für Frieden und Menschenrechte« ausdrückte. Diese Politisierung markiert eine Wende hin zu mehr Konfrontations- und Risikobereitschaft all jener, die mit der DDR abgeschlossen hatten. Damit war der Weg bereitet für den Zusammenbruch der SED-Diktatur im Herbst 1989, der seinen Ausgang in den Friedensgebeten nahm.
Für den Fortgang der Ereignisse ist kaum zu überschätzen, wie stark die seit Jahren aktiven Gruppen seit Mitte der 1980er Jahre eine alternative Öffentlichkeit herstellten und durch riskante Aktionen in die Öffentlichkeit drängten; dadurch prägten sie die Sprache und Kultur der Revolution. Deren Nachdenklichkeit, Klarheit und Friedlichkeit ließen keinen Raum für Gewalt und Racheszenarien an jenen, die über Nacht ihre uneingeschränkte Macht verloren hatten.
Friedensbewegung nach 1989
War der Weg der Friedensbewegung mit der deutschen Einheit zu Ende? Es verblieben friedensbewegte Engagierte und Gruppen, die sich durch Vereinsgründungen oder neue Aufgabenschwerpunkte stabilisieren konnten. Auffällig ist zunächst die Marginalisierung der Friedensbewegung nach 1989 überall in der ehemaligen DDR. Zwischen 1989 und 1993 verschwanden in Ostberlin, Dresden, Leipzig und Halle weit mehr als die Hälfte dieser Zusammenschlüsse (vgl. Rucht/Blattert/Rink 1997, S. 75). Als Folgeprojekte, in Konkurrenz oder anlassbezogen, entstanden seit 1989 eine sehr begrenzte Zahl heterogener und unterschiedlich stabiler Projektgruppen innerhalb der nunmehr gesamtdeutschen Friedensbewegung:
- Aktions- bzw. Protestgruppen, die sich über Netzwerkmobilisierung anlassbezogen bilden – etwa angesichts des zweiten Golfkriegs und aller folgenden protestauslösenden Kriege;
- Aktionsgruppen, die regelmäßig ritualisierte Protestaktionen organisieren und durchführen – den jährlichen Ostermarsch, das Friedensgebet zum Antikriegstag, die herbstliche Friedensdekade in den Kirchengemeinden;
- Problembezogene Protestgruppen, deren Bezugsproblem dauerhaft »vor der eigenen Haustür« liegt – z.B. die Initiativen gegen die Truppenübungsplätze in der Colbitz-Letzlinger-Heide und in der Kyritz-Ruppiner Heide;
- Schließlich die Professionalisierung hin zur Friedensarbeit, die es erlaubt, das Friedensengagement zum Beruf zu machen – z.B. der 1990 gegründete »Friedenskreis Halle« oder das 1990 aus der Ökumenischen Versammlung heraus entstandene »Ökumenische Informationszentrum« in Dresden.
Sichtbar ist die Rolle von Akteur*innen und Konzepten der DDR-Friedensbewegung bei der Durchsetzung und Etablierung von Instrumenten »Ziviler Konfliktbearbeitung« wie dem »Zivilen Friedensdienst« als konkreter Alternative zu Formen militärischer Intervention. Dessen Etablierung wurde Mitte der 1990er Jahre u.a. von der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg angestoßen, die ersten Ausbildungskurse von Trainer*innen mit eigener Geschichte in der DDR-Friedensbewegung durchgeführt.
Ebenso ist das Engagement in Protestnetzwerken sichtbar, etwa gegen Bundeswehrstandorte. Gruppen und Akteure der DDR-Friedensbewegung gehörten zum organisatorischen Kern der langjährigen Proteste gegen die Truppenübungsplätze in der Colbitz-Letzlinger Heide und das Tiefflugübungs- und Bombenabwurfgelände in der Kyritz-Ruppiner Heide. Gerade der Protest gegen letztgenanntes »Bombodrom« wurde über Jahre zu einem lokalen Kristallisationspunkt der Friedensbewegung, in seiner Funktion dem Wendland für die Anti-Atomkraft-Bewegung nicht unähnlich. Gegründet wurde die Bürgerinitiative von lokalen friedensbewegten Pfarrer*innen und Roland Vogt, damals Bevollmächtigter des Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg für den Abzug der Sowjetischen Streitkräfte und für Konversion. Zwischen 1992 und dem endgültigen Rückzug der Bundeswehr im Jahr 2010 wurden kontinuierlich Protestaktionen durchgeführt, teils durch die Bürgerinitiativen vor Ort, teils durch antimilitaristische Gruppen, die – nicht ohne Konflikte – stärker auf Aktionen zivilen Ungehorsams drängten (vgl. Hoch/Nehls 2000).
Nicht zuletzt waren und sind Aktive der ehemaligen Friedensbewegung der DDR in inhaltlichen Auseinandersetzungen um friedenspolitische Selbstverständnisse und die Zukunft des politischen Pazifismus engagiert. Die Militärinterventionen Deutschlands in den frühen 2000er Jahren führten zu intensiv ausgetragenen Konflikten in der Bewegung. Paradigmatisch dafür steht die Debatte um einen Artikel des ehemaligen grünen Staatsministers Ludger Volmer von 2002, der der Friedensbewegung in ihrer Ablehnung einer Militärinvasion einen „abstrakt-gesinnungsethischen Pazifismus“ (Volmer 2002) vorwarf, der über einen „Nachkriegspazifismus der fünfziger und sechziger Jahre“ nicht hinausreiche und als Bewertungsmaßstab für die neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen untauglich sei. Diese Frontstellung zwischen dem Rigorismus eines »gesinnungsethischen« und dem Pragmatismus eines »politischen Pazifismus«, die Volmer in dem Artikel zuspitzte, prägte selbst seit Jahren die friedensethischen Selbstverständigungsdebatten, in denen Vertreter der ehemaligen DDR-Friedensbewegung eine prominente Stellung einnahmen. So betonte der ehemalige Dresdner Superintendent Christof Ziemer, dass beide Haltungen aufeinander angewiesen seien: der »weisheitliche Pazifismus«, der die Zusammenarbeit mit dem Militär nicht ablehnt und die rigorose Gewaltablehnung eines »prophetischen Pazifismus« (vgl. Ziemer 1999).
Kirchliche Friedensarbeit nach 1989
Auch innerhalb der Kirchen blieb das Friedensthema umstritten. Der Kirchenhistoriker Klaus Fitschen sieht denn auch den politischen Protestantismus ostdeutscher Prägung seit 1989 zunehmend in der Defensive (Fitschen 2013). Trotz Kosovo-Krieg und Afghanistan-Einsatz verabschiedete die EKD erst 2007, den friedensethischen Debatten hinterherhinkend, eine Friedensdenkschrift (»Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen«), in der die friedensethischen Positionen des bundesdeutschen Protestantismus konkretisiert wurden. Bis dahin gab es nur die Denkschrift der EKD-West von 1981 und Stellungnahmen des DDR-Kirchenbundes, wobei Letzterer 1983 mit seiner „Absage an Geist, Logik und Praxis der Abschreckung“ eine überaus deutliche friedenspolitische Position verabschiedet hatte, die 1987 in den wegweisenden Beschluss »Bekennen in der Friedensfrage« mündete. „Die Reaktionen auf die Friedensdenkschrift von 2007 waren sehr unterschiedlich. Friedrich Schorlemmer kritisierte: ‚Friedenspolitische Erkenntnisgewinne durch Christen in der DDR werden in der Denkschrift ignoriert, als habe es sie nicht gegeben’ […]. Damit sprach Schorlemmer das seit der Wiedervereinigung bestehende Unbehagen jener Kreise an, die sich mit ihrer pazifistischen Entschiedenheit an den Rand gedrängt sahen.“ (Fitschen 2013, S. 45)
Differenzierte Bewegung heute
Seit 1989 hat sich die Bewegung von einst stark ausdifferenziert. Es lassen sich wiederum idealtypisch drei Flügel unterscheiden, wenngleich es in den konkreten Gruppen Überschneidungen gibt.
- Der protestorientierte Flügel vertritt die Position rigoroser Kriegsablehnung. Vertreter*innen beteiligten sich an riskanten und öffentlichkeitswirksamen Aktionen. Sie reisten Anfang der 1990er Jahre als lebende Schutzschilde in den Irak oder besetzten und entzäunten gewaltfrei das amerikanische Kommando-Zentrum für Europa (EUCOM) in Stuttgart oder den Atomwaffenstützpunkt in Büchel. Sie sind der Stachel im Fleisch einer kriegsgewöhnten Öffentlichkeit.
- Für den diskursorientierten Flügel ist das Ringen um eine friedenspolitische Position angesichts der stark veränderten politischen Rahmenbedingungen charakteristisch. Er bemüht sich um eine Vermittlung zwischen Befürworter*innen militärischer Interventionen in Bürgerkriegsregionen und radikalen Gegner*innen militärischer Gewalt und um eine differenzierte Haltung in einer sicherheitspolitisch unübersichtlicheren Gegenwart.
- Als Drittes unterscheide ich einen präventionsorientierten Flügel, der in gewisser Weise zwischen den beiden Polen steht. In ihm verbindet sich die Einsicht in die veränderte sicherheitspolitische Situation mit dem Drang, ganz praktisch etwas tun zu wollen. Eine entsprechende Konjunktur hatte denn auch das Thema »Zivile Konfliktbearbeitung im In- und Ausland« auch in der ostdeutschen Bewegung.
Wie ist die aktuelle Situation? Mit der Professionalisierung als staatlich finanzierte Entsendedienste ziviler Friedensfachkräfte hatten viele Initiativen zwischenzeitlich ihre friedenspolitische Bissigkeit verloren. Aber immer wieder beteiligten sich Gruppen und Organisationen an Kampagnen gegen Rüstungsexporte, für den Abzug der Atomwaffen aus Deutschland oder zuletzt für »zivile Alternativen in Syrien«. Die Friedensbewegung hält Themen wach, die – obwohl drängend – häufig von der Bildfläche verschwunden sind. Beachtenswert ist dabei die langjährige Kontinuität des Engagements für zivile Konfliktbearbeitung auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens oder das Engagement gegen Rechtsextremismus. Die größte Leistung ist sicher der Beitrag der Friedensbewegung zur Friedlichen Revolution 1989, viel weniger sichtbar sind solche wie die erfolgreichen Proteste gegen das Bombodrom in Brandenburg: ein über Jahre geführter und breit verwurzelter Widerstand der damals noch jungen und nicht eben erfolgsverwöhnten Zivilgesellschaft in den neuen Ländern. Auch daran sollte – selbstbewusst – erinnert werden.
Anmerkungen
1) Eine etwas ausführlichere Biographie von Johanna Kalex und ihrem Wirken findet sich im Personenlexikon des Projektes »Jugendopposition in der DDR« von bpb und Robert Havemann Gesellschaft: www.jugendopposition.de
2) Bausoldaten waren eine Besonderheit des DDR-Rekrutierungssystems. Auf Druck religiöser Gruppen wurde der Dienst in waffenlosen Baueinheiten der NVA 1964 eingeführt. Er war neben Gefängnis die einzige Alternative für Kriegsdienstverweigerer.
Literatur
Büscher, W.; Wensierski, P.; Wolschner, K. (Hrsg.) (1982): Friedensbewegung in der DDR. Texte 1978–1982. Hattingen: edition transit.
Fitschen, K. (2013): Der politische Protestantismus in Ost und West zwanzig Jahre danach: eine missglückte Wiedervereinigung? In: Pickel, G.; Hidalgo, O. (Hrsg.): Religion und Politik im vereinigten Deutschland. Was bleibt von der Rückkehr des Religiösen? Wiesbaden: VS Verlag, S. 39–46.
Hoch, S.; Nehls, H. (2000): Bürgerinitiative FREIe HEIDe. Bombodrom – nein Danke! Berlin: Espresso Verlag.
Leistner, A. (2016): Soziale Bewegungen. Entstehung und Stabilisierung am Beispiel der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR. Konstanz: UVK.
Neubert, E. (1997): Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989. Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung.
Rucht, D.; Blattert, B; Rink, D. (1997): Soziale Bewegungen auf dem Weg zur Institutionalisierung. Zum Strukturwandel »alternativer« Gruppen in beiden Teilen Deutschlands. Frankfurt/M.: Campus.
Volmer, L. (2002): Was bleibt vom Pazifismus. Die alten Feindbilder haben ausgedient. Warum militärische Mittel nicht ganz verzichtbar sind. Frankfurter Rundschau, 7.1.2002.
Ziemer, C. (1999): Ein neues Gefühl von Sicherheit ist gefragt. Publik Forum, Nr. 14, S. 10.
Dr. Alexander Leistner, Soziologe, wohnt in Leipzig und leitet an der Universität Leipzig zwei Teilprojekte des BMBF-Forschungsverbundes »Das umstrittene Erbe von 1989« (www.erbe89.de).