W&F 2020/1

Und wenn der Druckkessel platzt?

von Regina Hagen

Fünf Monate nach den Abwürfen der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, die sich 2020 zum 75. Mal jähren, nahm die Generalversammlung der neu geschaffenen Vereinten Nationen ihre allererste Resolution an: »Einrichtung einer Kommission, die sich mit den Problemen im Zusammenhang mit der ­Entdeckung von Atomenergie befasst« (Res. I(1) vom 26.1.1946). Der Auftrag lautete u.a., einen Vorschlag auszuarbeiten „für die Beseitigung von Atomwaffen und aller anderen Massenvernichtungswaffen aus den nationalen Rüstungsarsenalen“ (Absatz 5c).

Bio- und Chemiewaffen wurden seither geächtet; die entsprechenden Verträge gehören zum anerkannten Kanon des Völkerrechts. Für Atomwaffen wurde der Nichtverbreitungsvertrag abgeschlossen. Er ist jetzt seit 50 Jahren in Kraft, verbietet den fünf damals schon existenten Atomwaffenstaaten aber nicht den Besitz und konnte auch nicht verhindern, dass vier weitere Staaten Atomwaffen besitzen. Es gibt seit 2017 auch einen Vertrag, der Atomwaffen ganz verbietet, mehrere Artikel in diesem Heft beziehen sich darauf. Allerdings ist er noch nicht in Kraft, und die neun Atomwaffenstaaten lehnen den Vertragsbeitritt ab.

Es stimmt schon, die Zahl der Atomwaffen ist seit der Hochrüstung im Kalten Krieg deutlich gesunken, auf knapp 13.500, wobei die meisten die vielfache Zerstörungskraft der Hiroshima-Bombe haben. Außerdem hat sich der nukleare Rüstungswettlauf wieder beschleunigt. In manchen Atomwaffenländern wird das Arsenal weiter ausgebaut, in allen wird quantitativ aufgerüstet. Am offenkundigsten ist dies bei den Vereinigten Staaten: Die US-Regierung legte gerade ihren Haushaltsentwurf für das Finanzjahr 2021 vor. Dort sind für den Atomwaffenkomplex zwanzig Prozent mehr Gelder als bisher vorgesehen, in Summe horrende 46 Milliarden US$. Weitere 20 Milliarden US$ sind für Raketenabwehr reserviert. Zur Erinnerung: Der gesamte russische Verteidigungshaushalt liegt bei ca. 60 Milliarden US$. Die US-Journalistin Nahal Toosi bezeichnete Trumps Vorhaben als „Flirt mit neuen Atomwaffen“.

Damit nicht genug, wird Atomwaffen auch an anderer Stelle ein hoher militärischer Macht- oder Statuswert eingeräumt. Der türkische Präsident Erdogan beschwerte sich vergangenen Herbst öffentlich, es sei „inakzeptabel, dass manche Länder über Atomraketen verfügen und die Türkei nicht“. Das Nordatlantische Bündnis beharrt auf »nuklearer Abschreckung«. Beim Gipfel zum 70-jährigen NATO-Jubiläum vergangenen Dezember betonten die Staats- und Regierungschefs erneut: Solange es Atomwaffen gibt, bleibt die NATO ein nukleares Bündnis.

Auch in Deutschland ist der Wunsch nach dem Zugriff auf die Bombe ein ewiger Wiedergänger. Schon seit Jahren melden sich immer wieder Journalisten und Politikwissenschaftler (ja, lauter Männer!) zu Wort und drängen auf eine deutsche Atombombe, da die »Teilhabe« an den US-Atomwaffen in Büchel nicht auf immer gewährleistet sei. So weit ging Johann Wadephul, Abgeordneter der CDU im Bundestag, nicht. Aber er plädierte am 3. Februar in einem »Tagesspiegel«-Interview für eine deutsche Teilhabe am französischen Atomarsenal. Wir müssen eine Zusammenarbeit mit Frankreich bei den Nuklearwaffen ins Auge fassen. Deutschland sollte bereit sein, sich mit eigenen Fähigkeiten und Mitteln an dieser nuklearen Abschreckung zu beteiligen.

Das wirkt wie aus der Zeit gefallen. Die Weltgemeinschaft muss sich auf einen gravierenden Klimawandel einstellen und diesen so gut wie möglich eindämmen. Dafür werden viel zu wenig Mittel bereitgestellt. Stattdessen stecken reiche ebenso wie arme Staaten Geld in ihre Atombewaffnung. Die Lobbygruppe Global Zero berechnete, dass 2011 weltweit 105 Milliarden US$ für Atomstreitkräfte ausgegeben wurden – das waren knapp 300 Millionen US$ am Tag oder 12 Millionen US$ pro Stunde!

Die Expert*innen des Bulletin of the Atomic Scientists, die die »Doomsday Clock« verwalten, rückten den Zeiger der Uhr in den vergangenen zehn Jahren fünf Mal näher an den »doomsday«, den »Jüngsten Tag«, zuletzt am 23. Januar dieses Jahres: von 10 Minuten vor 12 im Jahr 2010 auf nur noch 100 Sekunden vor 12 heute. Sie begründeten dies mit dem Klimawandel, der Rüstungskontroll- und Wissenschaftsignoranz vieler Machthaber und den Risiken aus der Nuklearrüstung, die durch neue Gefahren im Informations- und Cyberraum verstärkt würden. In seinem Statement bei der Vorstellung des neuen Uhrstands sagte der Militärexperte Robert Latiff: „Es scheint, die Welt ist ein ­Druckkessel. Sie ist ein Hochenergiesystem, und es braucht nur einen einfachen Fehler, irgendwo in einer waffenstrotzenden Welt, dass ein Krieg startet und katastrophal eskaliert.

Lenkt US-Präsident Trump nicht ein und nimmt das russische Angebot an, den New-START-Vertrag um fünf Jahre zu verlängern, entfällt in einem Jahr auch noch der letzte Rüstungskontrollvertrag. Die aktuelle Bundesregierung erklärte im Koalitionsvertrag: „Ziel unserer Politik ist eine nuklearwaffenfreie Welt. Sie soll ­endlich mutige Maßnahmen ergreifen, um diesem Ziel näher zu kommen. Ein erster Schritt dorthin könnte sein, wenigstens unser eigenes Land, Deutschland, endlich atomwaffenfrei zu machen. Nukleare Teilhabe passt dazu nicht.

Ihre Regina Hagen

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2020/1 Atomwaffen – Schrecken ohne Ende?, Seite 2