US-Diplomat tritt zurück
Scharfe Kritik an der Afghanistan-Strategie der US-Regierung – Eine Dokumentation
von Matthew P. Hoh
Der Politische Offizier im auswärtigen Dienst und Oberbefehlshaber der Zivilkräfte der US-Regierung in der afghanischen Provinz Zabul, Matthew P. Hoh, trat am 10. September 2009 von seinen Funktionen zurück. In einem Offenen Berief an Botschafterin Nancy J. Powell, Generaldirektorin des auswärtigen Dienstes und Personaldirektorin des Außenministeriums der USA, analysiert er die Lage in Afghanistan, schildert Bestechung und Korruption, zieht eine Parallele zum Vietnamkrieg und legt dar, warum auch dieser Krieg nicht zu gewinnen ist. W&F dokumentiert das Kündigungsschreiben in deutscher Übersetzung.
Sehr geehrte Frau Botschafterin, mit großem Bedauern und Enttäuschung trete ich hiermit von meinem Posten als Politischer Offizier im auswärtigen Dienst sowie als Oberbefehlshaber der Zivilkräfte der US-Regierung in der Provinz Zabul zurück. Von den vergangenen zehn Jahren meiner Dienstzeit habe ich unserem Land sechs in Übersee gedient und war 2004/2005 sowie 2006/2007 als Offizier der US-Marines und als Zivilangestellter im Auftrag des Verteidigungsministeriums in den Tälern von Euphrat und Tigris stationiert. Ich habe diese Aufgaben nicht leichtfertig oder mit unangemessenen Erwartungen angetreten und ging auch nicht davon aus, dass mein Einsatz ohne Opfer, Entbehrungen und Schwierigkeiten bleiben würde. Während meines fünfmonatigen Dienstes in Afghanistan habe ich allerdings jegliches Verständnis und Vertrauen in die strategischen Ziele der US-amerikanischen Präsenz in Afghanistan verloren. Ich hege Zweifel und Vorbehalte gegenüber unserer gegenwärtigen wie unserer künftigen Strategie.
Der Grund für meinen Rücktritt liegt aber nicht in der Art und Weise, wie wir diesen Krieg führen, sondern warum wir dies tun und mit welchem Ziel. Um es einfach auszudrücken: Ich kann weder den Wert noch den Nutzen von immer weiteren amerikanischen Opfern und der anhaltenden Unterstützung für die afghanische Regierung in diesem Krieg erkennen, der in Wahrheit nichts anderes als ein nunmehr 35 Jahre anhaltender Bürgerkrieg ist.
In diesem Herbst jährt sich der Beginn der amerikanischen Operationen in Afghanistan zum achten Mal. Im kommenden Herbst wird die US-Armee ebenso lange im Land stationiert sein wie einst die Rote Armee. Wie die Sowjets erhalten wir einen scheiternden Staat am Leben und propagieren eine Ideologie und ein Regierungssystem, das die Leute weder kennen noch wollen.
Wenn man die Geschichte Afghanistans als großes Bühnenstück betrachtet, haben die USA nichts weiter als eine Nebenrolle unter vielen in dieser Tragödie inne, in der nicht nur einzelne Stämme, Täler, Clans, Dörfer und Familien gegeneinander, sondern spätestens seit der Herrschaft König Zahir Shas das urbane, säkulare, gebildete und moderne Afghanistan gegen das ländliche, religiöse, analphabetische und traditionelle kämpft. Diese zweite Gruppe unterstützt den paschtunischen Aufstand, der von einer Vielzahl lokaler Gruppen getragen wird. Die Paschtunen haben das Gefühl, seit Jahrhunderten Angriffen innerer wie äußerer Feinde auf ihr Land, ihre Kultur, ihre Traditionen und ihre Religion ausgesetzt zu sein. Die Anwesenheit von US- und Nato-Truppen rechtfertigt den Aufstand in ihren Augen ebenso wie diejenige nicht-paschtunischer Soldaten und Polizisten. Sowohl im Osten als auch im Süden habe ich die Beobachtung gemacht, dass es bei den meisten Kämpfen nicht darum geht, dem weißen Banner der Taliban zum Sieg zu verhelfen, sondern in erster Linie darum, die Besatzungsmacht zu vertreiben und sich gegen die Erhebung von Steuern durch die nicht-repräsentative Regierung in Kabul zu wenden.
Die US-amerikanische Militärpräsenz im Land trägt einen großen Teil zur Legitimierung des Aufstandes der Paschtunen bei. Ebenso führt unsere Unterstützung der afghanischen Regierung, wie sie im Augenblick erfolgt, dazu, die Distanz zwischen Regierung und Bevölkerung zu vergrößern. Die Versäumnisse der afghanischen Regierung, vor allem in Anbetracht der von amerikanischer Seite erbrachten Opfer an Menschenleben und Dollar, sind gewaltig und nehmen immer noch weiter zu:
Offenkundige, unverfrorene Bestechung und Korruption
Ein Präsident, zu dessen Vertrauten und engsten Beratern Drogenbarone und Kriegsverbrecher zählen, die sich über unser Rechtsstaatsprinzip und unsere Bemühungen in Sachen Drogenbekämpfung lustig machen.
Ein System aus Provinz- und Bezirks-Anführern, das sich aus politischen Strippenziehern, Opportunisten und Machthabern zusammensetzt, deren Zusammenarbeit allein auf unseren Verträgen zur Entwicklungs- und Wiederaufbauhilfe basiert und sich auf diese beschränkt und die keinerlei politisches oder ökonomisches Interesse an ernsthaften Versuchen zur Aussöhnung zu haben scheinen.
Die jüngste, von Betrug bestimmte und von einer niedrigen Wahlbeteiligung korrumpierte Wahl, die unserem Feind einen enormen Sieg bereitet hat. Dieser ruft nun zu einem allgemeinen Boykott auf und stellt in der ganzen Welt die militärische, wirtschaftliche und diplomatische Unterstützung unserer Regierung für die handlungsunfähige und illegitime afghanische Regierung in Frage.
Unsere Unterstützung einer solchen Regierung in Verbindung mit einem mangelnden Verständnis der wahren Natur des Aufstandes erinnert mich in erschreckender Weise an Süd-Vietnam, wo wir ebenfalls auf Kosten des inneren Friedens unseres Landes eine unbeliebte und korrupte Regierung gegen einen Aufstand unterstützten, dessen nationalistische Dimension wir in arroganter Weise missverstanden, da wir den Konflikt nur vor dem Hintergrund unserer Ideologie des Kalten Krieges begreifen konnten.
Ich halte die Gründe, weshalb wir verlangen, dass unsere Männer und Frauen in Afghanistan Blut vergießen und Opfer bringen, für fadenscheinig. Um ehrlich zu sein, unsere Strategie, Afghanistan zu sichern, um Aufstände und die Neugruppierung von Al-Qaida zu verhindern, würde verlangen, dass wir auch im Westen Pakistans, in Somalia, im Sudan, im Jemen und in einigen anderen Ländern einmarschieren und sie besetzt halten. Unsere Präsenz in Afghanistan hat Pakistan zunehmend destabilisiert und zu weiteren Aufständen geführt – in einem Land, von dem wir zu Recht fürchten, dass die geschwächte Regierung die Kontrolle über die pakistanischen Atomwaffen verlieren könnte. Wenn wir die Ziele, die wir uns gesetzt haben, konsequent verfolgen würden, dann müssten wir Pakistan besetzen und nicht Afghanistan. Dazu kommt, dass die Anschläge vom 11. September 2001 und die Anschläge in Madrid und London im Wesentlichen in Westeuropa geplant und organisiert wurden; dieser Aspekt belegt, dass die Bedrohung von den klassischen geographischen und politischen Grenzen losgelöst ist. Schlussendlich müssten wir, wenn wir davon ausgehen, dass wir unseren militärischen und finanziellen Beitrag in Afghanistan leisten, weil wir in Sorge um einen »Failed State« sind, der durch Korruption und Armut geschwächt und von Kriminellen und Drogenbossen beherrscht wird, auch unsere Verpflichtungen und unser Engagement gegenüber Mexiko neu bewerten und verstärken.
Nach acht Jahren Krieg gibt es weltweit keine Armee, die engagierter, erfahrener oder disziplinierter wäre als die US-Truppen. Ich glaube, dass keine andere Armee jemals vor einer derart komplexen, undurchsichtigen Sisyphos-Aufgabe stand wie die US-Truppen sie in Afghanistan angenommen haben. Das taktische Geschick und die Leistung unserer Soldaten, Seeleute, Piloten und Marinesoldaten ist beispiellos und steht nicht zur Debatte. Doch ihr Einsatzgebiet ist in diesem Fall nicht mit dem europäischen oder asiatischen Raum des Zweiten Weltkriegs vergleichbar. Hier geht es vielmehr um einen Krieg, auf den unsere Männer und Frauen von unserer militärischen, zivilen und politischen Führung nicht angemessen vorbereitet wurden. Unsere Streitkräfte, die voller Hingabe und guten Glaubens sind, wurden auf einen Konflikt verpflichtet, der ohne Strategie und genauen Zeitplan zu einem rücksichtslosen, politisch zweckdienlichen und naiven Desaster wurde. Dasselbe gilt für die engagierten und fähigen zivilen Kader, zu denen sowohl Angestellte der US-Regierung als auch unabhängige Organisationen zählen. Sie glauben an ihre Mission und bringen dafür Opfer, doch sie wurden weder richtig ausgebildet noch werden sie richtig geleitet, da sich die Leitlinien und Ziele am politischen Klima in Washington orientieren und nicht an jenem, das in den Städten, Dörfern, Gebirgen und Tälern Afghanistans herrscht.
„Wir zahlen uns in Afghanistan zu Tode“, so unterrichtet einer der fähigsten und intelligentesten Kommandeure, die Amerika hat, jeden Besucher, jede Stabsdelegation und jeden leitenden Offizier. Wir belegen die Wirtschaft der Vereinigten Staaten mit einer Hypothek auf einen Krieg, der, selbst wenn wir unsere Anstrengungen erhöhen, für viele Jahre eine Bürde bleiben wird. Erfolg und Sieg, wie auch immer sie aussehen werden, können nicht in den nächsten Jahren und auch nicht nach weiteren Milliardenausgaben erreicht werden, sondern erst Jahrzehnte und Generationen später. Die Vereinigten Staaten haben keine Staatskasse, die diese Art von Erfolg und Sieg trägt.
Mir ist bewusst, dass mein Brief sehr emotional ist. Bitte entschuldigen Sie, falls er zu aufgebracht klingt. Ich vertraue darauf, dass Sie diesen Krieg und die Opfer, die tausende von Familien bringen, verstehen. Diese Familien wurden von ihren Liebsten getrennt, die eingesetzt wurden, um unser Land zu verteidigen. Ihr Zuhause trägt die Risse, Umbrüche und Narben von vielen aufeinander folgenden Einsätzen. Tausende unserer Männer und Frauen sind mit körperlichen und seelischen Wunden nach Hause zurückgekehrt. Einige dieser Wunden werden niemals heilen oder mit den Jahren noch schlimmer werden. Von den Toten kehren nur die sterblichen Überreste zu ihren Familien zurück. Ihnen muss versichert werden, dass die Ziele, für die sie ihr Leben gelassen haben, die verlorene Zukunft, die verlorene Liebe und die unverwirklichten Lebensträume wert waren. Ich habe die Zuversicht verloren, dass solche Zusagen noch gemacht werden können. Aus diesen Gründen reiche ich meinen Rücktritt ein.
Hochachtungsvoll
Matthew P. Hoh, Oberbevollmächtigter der Zivilkräfte Provinz Zabul, Afghanistan.
Holger Hutt und Christine Käppeler haben den Text für die Wochenzeitung »Freitag« übersetzt, die uns die Übersetzung freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat.