W&F 2004/4

Verantwortung für die Zukunft übernehmen

Forschung und Lehre für Friedens- und Zukunftsfähigkeit

von Jürgen Schneider

„Es ist nicht gesagt, dass es besser wird, wenn es anders wird. Wenn es aber besser werden soll, muss es anders werden.“ Dieser Satz Erich Kästners gilt auch für Forschung und Lehre in einer sich in immer rascherem Tempo verändernden zivilisatorischen und einer zunehmend militarisierten Welt. Der Autor geht davon aus, dass es nicht reicht, wenn die Universitäten nur für künftige Berufe in der Wirtschaft und für die Forschung ausbilden; sie haben darüber hinaus auch die Aufgabe durch Bildung ethisches und moralisches Orientierungsvermögen zu vermitteln. Die Voraussetzung für die Durchsetzung einer dem Frieden und der Sicherung der Lebensgrundlagen verpflichteten Politik.

Die Lehrenden müssen neben der Vermittlung von Fachwissen jungen Menschen auch gesellschaftliches und politisches Problembewusstsein vermitteln, die Fähigkeit Probleme zu erkennen und zu strukturieren, um sie mit wissenschaftlichen Methoden anzugehen. Es gilt, Engagement und Motivation der Auszubildenden zu stärken und die Studierenden zu verantwortlichem Handeln zu ermutigen. Dies verlangt Lebendigkeit, Flexibilität und Einfühlungsvermögen von Seiten der Lehrenden und der Lernenden. Höherer Bildungsstand muss mit höherer Bereitschaft verbunden sein, mehr Verantwortung zu übernehmen, die über den individuellen Lebensbereich hinausgeht. Es muss also die von dem Physiker Hans-Peter Dürr anschaulich so genannte T-Intelligenz entwickelt werden, wobei der vertikale Strich des T die feste Verwurzelung im eigenen Fachgebiet und der horizontale Strich des T das übergeordnete Problembewusstsein für die Lage der Welt und für Stellung und Aufgaben des Faches im gesellschaftlichen und globalen Rahmen bedeutet. Der Mensch ist, wie Hans-Peter Dürr sagt, bewusst kreativ und trägt deshalb auch Verantwortung für die Zukunft.

Es ist in den letzten Jahren viel von der strukturellen Verantwortungslosigkeit der Wissenschaft bzw. der WissenschaftlerInnen die Rede. Vielfach verweigern sich die Wissenschaft und Ausbildung Betreibenden der Auseinandersetzung mit den allgemeinen ethisch-moralisch begründbaren Fragen der Verantwortlichkeit.

Wissenschaft, besonders die Naturwissenschaft soll Ergebnisse schaffen, die ökonomisch verwertet werden können, so postulieren heute immer mehr Leute, insbesondere aus dem Bereich der Wirtschaft, aber auch aus der Politik und der Wissenschaft selbst. Ein Vertreter der Wirtschaft brachte es vor einem Wissenschaftsforum der Universität Göttingen auf den Punkt: „Wissen ist ein Marktfaktor, Wissen ist nur etwas wert, wenn es auch umgesetzt werden kann.“

Was machen wir unter solchen Vorgaben mit so »wertlosen« Wissenschaften wie z. B. Religion, Philosophie, Musik, Kunst, Literatur? Sollen wir die als ökonomisch nutzlos abschaffen? Und was ist z. B. mit der Wissenschaft der Ökologie? Ist die dem wirtschaftlichen Fortschritt nicht eher hinderlich, weil die Ökologen, wie es häufig von gewissen Kreisen der Wirtschaft beklagt wird, dem technischen Fortschritt im Wege stehen?

Wissen um die Bedrohtheit der Lebensgrundlagen

Wissenschaft schafft ja z. B. auch Wissen um die Bedrohtheit der Lebensgrundlagen auf unserem Planeten. Natur-Wissenschaft schafft durch ihre Untersuchungen und Analysen nicht nur Kenntnisse über die Evolution der Erde und des Lebens, über die komplexen Wechselwirkungen in der Natur und unsere vollständige Eingebundenheit in das delikate Ökosystem der Geobiosphäre, sondern auch Wissen über die zunehmende Bedrohtheit der Lebensgrundlagen.

Im Brundtland-Report von 1987 heißt es: „Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts war der Mensch nicht in der Lage, das globale Ökosystem radikal zu stören. Nun, am Ende dieses Jahrhunderts steht dies in unserer Hand.“ Und der Exekutive Direktor des UNEP, Prof. Klaus Töpfer, formulierte in einem Interview mit der FR (28.12.1999): „Die Lage ist überaus kritisch. Die weiterhin massiv ansteigende Weltbevölkerung und die wirtschaftliche Dynamik, besonders in den Industriestaaten, bringt das Raumschiff Erde wirklich in Atemnot. Wir sind bereits im Klimawandel. Die fast zwanghafte alleinige Konzentration auf die Entwicklung der Aktienkurse führt zu einem völlig verkürzten Wohlstandsbegriff. Ökologische und soziale Kosten werden auf die Entwicklungsländer und spätere Generationen abgewälzt, sie tauchen in den Bilanzen einfach nicht auf. Aber es gibt sie. An der Lösung dieser Frage hängt nicht nur die Umweltlage auf dem Globus, sondern auch der Weltfrieden. Wir wissen: Es gibt unverrückbare ökologische Grenzen. Noch tun wir so, als sei alles unendlich vorhanden. Das 21. Jahrhundert muss ein Jahrhundert der Umwelt sein, sonst droht wirklich die Unbewohnbarkeit des Globus“.

Der globale Umweltbericht der UN-Umweltorganisation UNEP hat 1997 darauf hingewiesen, dass Wasser, Böden, Wälder, Fischbestände und Luft in einem „unerträglichen Ausmaß verbraucht und vergiftet“ werden. „Wenn wir dulden, dass dieser Trend anhält, werden uns schließlich die wichtigen Voraussetzungen für Leben auf diesem Planeten fehlen“.

Solche Einschätzungen sind nur möglich auf der Basis wissenschaftlicher Untersuchungen über den Zustand der Welt. Und der ist wahrlich nicht rosig. Der Schriftsteller Erich Fried brachte es auf die einfache Formel: „Wer will, dass die Welt so bleibt wie sie ist, der will nicht dass sie bleibt“

Ein Beispiel: Im Internationalen Jahr des Trinkwassers hatten 1,1 Milliarden Menschen keinen Zugang zu sauberem Wasser. Noch mehr Menschen leben ohne Toiletten und Abwasserentsorgung. Die Folgen: Jede Minute sterben 4 Kinder an Krankheiten, die auf verschmutztes Wasser oder schlechte Hygiene zurückzuführen sind. Mit 69.000,- Euro/Tag könnten diese 2 Millionen Kinder/Jahr mit sauberem Trinkwasser aus Brunnen und Pumpen versorgt und gerettet werden.

Aber die Herrschenden geben – nach Angaben von SIPRI – lieber weltweit 2,5 Milliarden Euro /Tag für die Rüstung aus (43% davon die USA), mit der sie vorgeblich die Freiheit und die Menschenrechte »verteidigen«. Man will uns glauben machen, dass der Terrorismus in der Welt durch militärische Gewalt zu überwinden sei. Die wesentlichen Gründe für den Terrorismus werden nicht weiter diskutiert.

Die Diskrepanz zwischen Reich und Arm wird immer größer und damit auch immer bedrohlicher. Weltweit waren 1999 nach Angaben des Armutsberichtes des UNDP, der Int. Labour Organisation und von SIPRI >1 Milliarde Menschen ohne Arbeit, das ist ca. ein Drittel der erwerbsfähigen Bevölkerung. Täglich sterben >30.000 Kinder an Hunger und bis zu 160 Tier- und Pflanzenarten verschwinden täglich unwiederbringlich von unserem Globus. Ein solcher Genozid hat in der 4 Milliarden Jahre alten Geschichte des Lebens auf der Erde niemals vorher in diesem Umfang und in diesem Tempo stattgefunden.

Praxisorientierte Uni kontra breite Bildung?

Viele sog. Bildungspolitiker und viele Hochschullehrer, aber auch Studierende plädieren heute immer lauter für eine mehr berufs- und praxis-orientierte Universität. Sind breite Bildung und kritische Weitsicht keine Werte an sich mehr? Soll das Wecken und Fördern von Empathie, Kreativität und Phantasie ersetzt werden durch reinen technokratisch orientierten Praxis-Bezug? Ist die Verantwortung gegenüber der Gesellschaft, gegenüber den ärmeren Dreivierteln der Menschheit und gegenüber der Natur dann erfüllt, wenn der Markt zufrieden ist?

Unser Handeln hat eine moralische Dimension

Wir haben als eine humanspezifische Besonderheit durch die Evolution die Fähigkeit zur Folgenabschätzung und zur Zukunftserkenntnis. Dadurch bekommt unser Handeln und Lehren eine moralische Dimension. Auch wenn die Zukunftserkenntnis begrenzt ist, so darf dies nicht als Ausrede dienen, abzuwarten, bis letzte Gewissheit über gefährliche Folgen unseres Handelns besteht. Der Physiker und Klima-Forscher Hans-Joachim Schellnhuber schreibt z. B. im Hinblick auf den gefährlichen Weg unserer Zivilisation im großen Klima-Spiel: „Die heutige Prognosesicherheit ist zu groß, um das Unterlassen von klimapolitischen Maßnahmen weiterhin als verantwortungsbewusstes Warten auf entscheidende Erkenntnisse kaschieren zu können.“

Was sagt dies in Bezug auf die Fragen nach den Anforderungen an die Wissenschaft bzw. nach den Anforderungen in Forschung und Lehre an eine Hochschule der Zukunft?

Globale Probleme in die Lehre einbeziehen

Als Geowissenschaftler möchte ich daran erinnern, dass unsere Erde eine 4,5 Milliarden Jahre lange geologische Vergangenheit und Geschichte hat. Durch den exogenen Kreislauf, der durch die Sonnenenergie angetrieben wird, wurde und wird ständig neues Material in partikulärer und gelöster Form in Umlauf gesetzt. Der endogene Kreislauf, der durch die Geothermalenergie (Energie aus der Zusammenballungsphase unseres Planeten und aus dem radioaktiven Zerfall) aufrecht erhalten wird, ist zwingend notwendig, um stets neues Material an die Erdoberfläche zu schaffen. Nur dadurch kann dem exogenen Kreislauf und der sich darin seit ca. 3,8 Milliarden Jahren entwickelnden Biosphäre alles Nötige an Stoffen zum Leben zur Verfügung gestellt werden. Das ist das vernetzte und negativ rückgekoppelte System Geobiosphäre, das System Gaia. Alle Organismen in diesem System mussten sich stets anpassen an die natürlichen Stoff-Flussraten, die durch die geologischen Prozesse vorgegeben wurden. Dies war möglich durch ein zwar wechselhaftes, aber insgesamt ausgewogenes Zusammenspiel von exogenen und endogenen geologischen Prozessen und der sich entwickelnden Biosphäre. Evolution war deshalb zwangsläufig immer ein Prozess des Lernens und sich Anpassens an die natürlichen Umweltbedingungen und Stoffkreisläufe. Die Geschwindigkeit der Stoffkreisläufe im Zusammenspiel zwischen exogenem und endogenem Kreislauf war immer bestimmend für die Verfügbarkeit der für das Leben nötigen Stoffe. Erst der »Homo sapiens sapiens« brach aus diesem natürlichen Gleichgewicht aus. Er baute seine »Ordnung« zunehmend auf dem Raubbau an den natürlichen Ressourcen auf. Der Mensch als »Homo oeconomicus technicus« begann mit dem Raubbau an der Natur, indem er ihr die für seine Zivilisation benötigten Ressourcen mit immer raffinierteren Methoden schneller entriss, als es den natürlichen Stoff-Flussraten entspricht. Es ist dabei aber zu bedenken: Unsere Erde ist materiell ein geschlossenes System. Nur energetisch ist sie ein offenes System wegen der hineinfließenden Sonnenenergie, welche die Evolution von Leben erst ermöglichte. Wir können das komplexe System Geobiosphäre nicht »managen«. Zweifel an den »unbegrenzten« Möglichkeiten von Wissenschaft und Technik in Bezug auf die »Machbarkeit der Zukunft« sind höchst angebracht.

Die Frage der Verantwortung der Wissenschaft stellt sich als eine moralische, nicht vordergründig juristische Frage. WissenschaftlerInnen dürfen keine moralischen Eunuchen sein. Unsere Kinder und deren Generation sind die Instanz, vor der wir uns zu verantworten haben. Wir müssen unter diesem Aspekt und im Hinblick auf diese Generationen und auf die gesamte Geobiosphäre auch die Lehre an den Schulen und Hochschulen betreiben. Die globalen Probleme müssen zusätzlich zum Fachwissen in die Lehre mit einbezogen werden.

Dies berührt die Frage nach den Ausbildungsinhalten an Schulen und Hochschulen, aber vor allem auch nach dem Bewusstseinsstand, der Aufgeschlossenheit und dem persönlichen Engagement der Lehrenden und der Lernenden. Der Physiker und Philosoph Carl-Friedrich von Weizsäcker hat mehr als einmal das Postulat aufgestellt, dass fünf Minuten jeder Vorlesungsstunde der Frage der Verantwortung gewidmet sein sollten. Die Erfüllung dieser Forderung wäre ein Maß für die moralische Umwelt- und Sozialverträglichkeit von Lehre und Forschung. Da wir als HochschullehrerInnen von der Gesellschaft bezahlt werden, und weil Schüler und Studierende die Schulen und Universitäten von der Gesellschaft bezahlt bekommen, haben wir auch eine Bringepflicht und Verantwortung gegenüber der Gesellschaft, indem wir offen legen, warum wir Lehre und Forschung so betreiben, wie wir sie betreiben, was wir tun und im Hinblick auf welche Ziele wir das tun.

Öffentlichkeit informieren – vor Fehlentwicklungen warnen

Zu der Bringepflicht gehört auch die für die Öffentlichkeit allgemein verständliche Vermittlung der Forschungsergebnisse, aber auch öffentliche Warnungen vor problematischen Entwicklungen oder gar gefährlichen Wegen der Wissenschaft und der Technik und ihrer Folgen, also auch Warnungen vor den Folgen des globalen Wandels und der damit verbundenen und immer offensichtlicher werdenden Bedrohung der Lebensgrundlagen für Mensch und Mitwelt. Warnungen vor Gefahren müssen frühzeitig erfolgen, auch wenn sie noch nicht in allen Einzelheiten nachweisbar sind. Der Philosoph Hans Jonas sagt drastisch: „Der schlechten Prognose den Vorrang zu geben gegenüber der guten, ist verantwortungsbewusstes Handeln im Hinblick auf zukünftige Generationen.“

Um ein Beispiel zu nennen: Ohne die öffentlichen Warnungen des Ökosystemforschers und Forstbodenkundlers Prof. Bernhard Ulrich vor dem voranschreitenden Waldsterben als Folge des sauren Regens und ohne den daraus resultierenden öffentlichen Druck, hätten wir wahrscheinlich immer noch keine Großfeuerungsanlagen-Verordnung und keine Katalysatoren und die Säuren würden in weit höherem Maße in unsere Wälder regnen als heute. Die für uns alle wichtigen Waldökosysteme und die aus den Wäldern gespeisten Gewässer, aus denen wir einen guten Teil unseres Trinkwassers beziehen, wären wesentlich schlimmer dran als sie es heute sind. Bernhard Ulrichs wissenschaftlich fundierte Warnungen waren nicht nur Ergebnis Jahrzehnte langer sorgfältiger Forschungsarbeiten, sondern auch ein beispielhafter Akt der Wahrnehmung öffentlicher gesellschaftspolitischer Verantwortung.

Verantwortung übernehmen

Der Galilei bei Bert Brecht sagt in seiner Schlussrede: „Hätte ich widerstanden, hätten die Naturwissenschaftler etwas wie den hippokratischen Eid der Ärzte entwickeln können, das Gelöbnis, ihr Wissen einzig zum Wohle der Menschen anzuwenden… Wie es nun steht, ist das Höchste, was man erhoffen kann, ein Geschlecht erfinderischer Zwerge, die für alles gemietet werden können.“ Die Zeit der Ausbildung solcher erfinderischer Zwerge sollte endgültig vorbei sein.

Auf die globale Zukunfts-Situation und die Lehre bezogen bedeutet das, dass wir nicht nur marktorientiertes Verwertungswissen vermitteln dürfen, sondern dass sich Verantwortung an den Überlebensinteressen der Menschen und unserer gesamten belebten und unbelebten Umwelt orientieren muss. Die globalen Fragen und Probleme müssen zusätzlich zum Fachwissen in die Lehre mit einbezogen werden. Dazu gehört neben der fachlichen Ausbildung auch, und das nicht nur etwa im Fach Psychologie, die Erziehung zur Friedfertigkeit im Umgang miteinander und mit der natürlichen und kulturellen Umwelt und Mitwelt, zur Toleranz, zur Kooperations- und Kompromiss-Bereitschaft.

Natürlich wird immer wieder eingewandt, die WissenschaftlerInnen könnten gar nicht die Verantwortung für die Folgen ihres Tuns übernehmen. Selbstverständlich ist z. B. der Chemiker Otto Hahn wegen der Entdeckung der Kernspaltung nicht für die Massaker in Hiroshima und Nagasaki verantwortlich zu machen, aber er hat sich moralisch mitverantwortlich gefühlt und hat sich z. B. im Verein mit anderen Atomforschern, den »Göttinger Achtzehn«, aus Kenntnis um die Gefahren erfolgreich gegen die atomare Bewaffnung der Bundeswehr gewandt. Ebenso hat sich der Physiker Josef Rotblat, einer der am Manhattan-Projekt Beteiligten, sehr früh aus dem Projekt zurückgezogen, weil er den Einsatz der Atombombe ablehnte. Später hat er wegen seiner internationalen Bemühungen um atomare Abrüstung und Verständigungspolitik im Rahmen der Pugwash-Konferenzen den Friedensnobelpreis bekommen. Aber was ist etwa mit den »Erfindern« der im Kosovo-Krieg, in Afghanistan und im Irak eingesetzten schrecklichen und grausamen Splitterbomben oder der Uran-Munition? Haben die sich mit der Frage der Verantwortung einmal auseinandergesetzt oder waren sie nur die Brechtschen erfinderischen Zwerge, die sich für gutes Geld mieten ließen ohne über die Folgen ihres Tuns nachzudenken?

Die viel beschworene Freiheit der Wissenschaft darf nicht dazu führen, dass man sich um die Probleme der Gesellschaft und der Ökosphäre nicht weiter kümmert und nur »wertfreie« Forschung betreibt. Da Forschung und Lehre an den Hochschulen eng miteinander verknüpft sind, darf die Frage der Verantwortung für die Zukunft unseres Planeten und aller ihrer Bewohner nicht ausgeklammert werden. Wenn etwa nach den Daten des United Nations Development Program das reichste Fünftel der Menschheit 83% des Bruttosozialproduktes und 95% des Welthandels, das ärmste Fünftel aber nur 1,4 bzw. 0,2% davon erreichen, so darf dieses globale Ungleichgewicht nicht einfach als nicht für die Ausbildung relevant aus unserer Gedankenwelt verdrängt oder fatalistisch als unabänderlich angesehen werden. Hier ist der Satz von Ernst Bloch angebracht: „Wir sind nicht nur verantwortlich für das, was wir tun, sondern auch für das, was wir widerspruchslos hinnehmen.“

Die Ressourcen sind begrenzt

Wir können nicht immer weiter auf ökonomisches Wachstum setzen im Irrglauben, dass die Ressourcen unserer Erde groß genug seien für dauerndes Wachstum oder dass der Mangel immer durch menschlichen Erfindungsgeist ausgeglichen werden könne. Der britische Ökonom und ehemalige Wirtschaftsmanager E. F. Schumacher (Small is beautiful) schrieb bereits 1975, es erfordere nur einen einfachen Akt der Einsicht, um zu erkennen, dass unendliches Wachstum materiellen Konsums in einer endlichen Welt eine Unmöglichkeit ist.

Ich möchte diese Begrenztheit am Beispiel der Erdöl-Vorräte veranschaulichen (Angaben aus der Bundesanstalt für Geowiss. u. Rohstoffe, BGR). Das Erdölzeitalter ist in der Menschheitsgeschichte nur ein ganz kurzer Zeitraum. Spätestens zwischen 2010 und 2020 wird beim Öl der »Depletion mid point« erreicht sein, d. h. der Punkt ab dem die Förderung zurückgeht und damit auf dem Weltmarkt Knappheit und Preisanstiege zu erwarten sind. Die sogenannte »strategische Ellipse« auf einer Erdkarte der BGR erfasst die Länder mit etwa 70% der Welterdölreserven. Darin sind Irak, Iran, Saudi-Arabien, Tschetschenien u. a. enthalten. Hier liegt auch ein Schlüssel zum Verständnis wichtiger Gründe, warum dort Kriege geführt werden.

Wenn die reichen Länder in ihrer Wachstums-Ideologie so weiterleben wie heute, dann sind die fossilen Brennstoffe noch in diesem Jahrhundert verbraucht und viele andere Rohstoffe auch. Was das für die wachstumsbesessenen Gesellschaften und gar für die Entwicklungsländer, die Mehrheit der Menschen, bedeutet, ist leicht auszumalen.

Je mehr Wachstum im Verbrauch von Ressourcen, desto mehr Abfall, Abwasser und Abgase entstehen. Das ist eine Folge des Entropie-Gesetzes, das auch durch keine noch so ausgeklügelte ökonomische Theorie außer Kraft gesetzt werden kann. Schauen wir uns dazu die in seinem Buch »Umweltökonomie« beschriebene Bilanz des Umwelt-Ökonomen Prof. Lutz Wicke (ehemals Staatssekretär in der Berliner Umweltbehörde) an: Die »ökologische Schadensbilanz der Bundesrepublik Deutschland« wies für 1993 die Höhe aller Schäden durch Luft- und Gewässerverschmutzung, sowie Bodenzerstörung und Lärm mit einer Summe von 230 Milliarden DM pro Jahr aus. Das Heidelberger Umwelt- und Prognose-Institut (UPI) kam für die Umweltschäden auf die Summe von 475 Milliarden DM und das Fraunhofer-Institut für Systemtechnik und Innovationsforschung auf 610 Milliarden DM pro Jahr. Dem stehen gegenüber (nach Angaben des Statistischen Bundesamtes im Zeitraum von 1980 bis 1992, in: Informationszentrale der Elektrizitätswirtschaft e.V., 1995) an Investitionen für den Umweltschutz durchschnittlich 15 Milliarden DM pro Jahr (9 Milliarden staatliche und 6 Milliarden Ausgaben der Industrie). Dies zeigt wie jämmerlich wir mit den Reparaturkosten hinter den von uns verursachten Schäden hinterherhinken, wie kläglich die ökonomischen Theorien und damit die Wirtschaftspolitik versagt haben.

Müssen wir alles erforschen?

Ohne sich dem Verdacht auszusetzen, man wolle die wissenschaftliche Grundlagenforschung diffamieren oder gar unterbinden, muss die Frage erlaubt sein: Dürfen, sollen, müssen wir in ständig steigender Eile alles erforschen, was wir können? Oder müssen wir nicht Prioritäten setzen, die sich vorwiegend an den Grundsätzen sozialer Gerechtigkeit, an umweltverträglicher Entwicklung und an Zukunftsfähigkeit der Menschheit orientieren? Dieser Diskurs muss an den Hochschulen geführt werden, um junge Menschen auf dem Weg in gesellschaftlich und ökologisch verantwortbare Tätigkeiten in Wissenschaft, Beruf und Leben zu leiten. Grundlagenforschung und Wissenschaft – auch ohne direkte Verwertungsinteressen – müssen selbstverständlich erhalten bleiben.

Relevanz und Effektivität von Wissenschaft und Forschung dürfen nicht – wie heute üblich – vorrangig an der reinen Höhe der aufgewendeten Mittel oder der Anzahl der Publikationen gemessen werden. Auch das Engagement für gesellschaftlich-humane Ziele und die Motivation der Forschenden und der Lehrenden für diese Ziele müssen als Leistung und als Wert anerkannt werden. Wecken von Kreativität, Flexibilität und Innovationsfähigkeit in diesem Sinne müssen mit dem Abbau von hierarchischen Strukturen an den Universitäten, den Instituten und Arbeitsgruppen verbunden sein. Ermutigung, Stärkung von Selbstbewusstsein und Motivation der Lernenden durch die Lehrenden für die o. g. Ziele wecken erst die nötigen geistigen Ressourcen, die für die Bewältigung der globalen Zukunftsaufgaben nötig sind, und die die Wege zur Zukunftsfähigkeit für uns Menschen und für das Gesamtsystem der Geobiosphäre erschließen.

Peter Kafka hat in seinem Buch »Das Grundgesetz vom Aufstieg« geschrieben: „Unser Standpunkt ist allerdings unsere Erde. Wir wissen nicht einmal, ob auf irgendeinem Planeten in der Nähe eines der hundert Milliarden Sterne unserer Milchstraße oder in einer der Milliarden anderer Galaxien die Evolution vergleichbar hohe oder gar höhere Komplexität hervorgebracht hat oder hervorbringen wird. Es geht uns auch gar nichts an. Wir müssen uns jetzt um unsere eigenen Möglichkeiten kümmern.“ Aber, so schreibt Kafka weiter: „Man wird uns weiterhin weismachen, wir müssten untergehen, wenn wir uns nicht am Wettlauf um die Ausbeutung der Welt beteiligen und dabei wenigstens in der Spitzengruppe bleiben.“

Die Wissenschaft lehrt uns, dass Unabhängigkeit biologischer Systeme und damit auch Unabhängigkeit menschlicher Zivilisationen und Kulturen nie existiert haben. Immer schon war und ist auch weiterhin die gesamte Biosphäre mit allen übrigen Sphären der Erde (Atmosphäre, Hydrosphäre, Pedosphäre, Lithosphäre) und mit der für das Überleben unabdingbar nötigen, von außen kommenden Energie der Sonne auf das engste verknüpft und damit vollständig vom Funktionieren der Wechselwirkungen dieses delikaten Gleichgewichtes in dem Gesamtsystem der Geobiosphäre abhängig. Es bestand und besteht eine nicht zu umgehende und auch durch menschlichen Erfindergeist, Technik und ökonomische Theorien nicht zu überlistende Abhängigkeit aller Formen des Lebens von dem System Gaia und der von der Sonne gelieferten Negentropie, ohne die die Evolution von Leben nicht möglich gewesen wäre. Wir als Menschen sind nur ein von der belebten und der unbelebten Umwelt vollständig abhängiger Teil des Ganzen. Nur wenn wir dies begreifen und akzeptieren und dies auch in der Lehre vermitteln, kann daraus eine Chance erwachsen für Zukunftsfähigkeit und Überleben.

Neue Anforderungen an Forschung und Lehre

Gibt es nun Anlass zur Resignation? Ist es nun fünf Minuten vor zwölf? Für Robert Jungk war Resignation „ein Luxus, den wir uns angesichts der Lage nicht leisten dürfen.“ Es muss sich aus der Erkenntnis der für den Bestand der Lebensgrundlagen bedrohlichen Situation, die sich schon in den ersten Jahrzehnten unseres jungen Jahrhunderts empfindlich zuspitzen wird, falls wir den Bedrohungen weiter so wenig Beachtung schenken, eine neue Anforderung an die Wissenschaft und an die Lehre ergeben. Und dabei ist jeder Einzelne gefordert, sich in dem Sinne des Friedens- und Chemie-Nobelpreisträgers Linus Pauling in der Forschung und in der Lehre zu engagieren: „Keiner darf denken, dass die eigene Anstrengung vergebens sein wird. Was du als Individuum tust, kann das Schicksal der ganzen Welt bestimmen.“

Die Frage der Verantwortung der Wissenschaft stellt sich als eine moralisch-ethische Frage. Ethik war bisher weitestgehend anthropozentrisch. Das reicht heute nicht mehr aus. Ethik hat heute die globalen Bedingungen menschlichen Überlebens und die ferne Zukunft, ja die Existenz der Gattung und der gesamten Geobiosphäre zu berücksichtigen. Damit kann und darf Ethik nicht mehr allein eine Domäne der Philosophie sein.

Die Naturwissenschaften und die Technik müssen in enger Zusammenarbeit mit der Philosophie, den Wirtschaftswissenschaften und den anderen Wissenschaften »ideologiebildend« werden und aufklärend in der Gesellschaft wirken. Als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, als Lehrende und Lernende haben wir Verantwortung für den Ablauf der Zukunft, weil wir Wissen und damit auch Macht über die Natur haben und weil wir aktiv beteiligt waren und sind an dem Zustandekommen der heutigen Situation. Wissenschaft und Technik haben mit ihren Erfolgen und Errungenschaften einen nicht unerheblichen Anteil an der bedrohlichen Entwicklung und damit Verantwortung für die Folgen ihres Tuns. Die bisherigen Konzepte reichen nicht mehr aus. Schon Einstein sagte eindringlich: „Die Probleme, die es in der Welt gibt, können nicht durch dieselbe Denkweise gelöst werden, durch die sie entstanden sind.“

Wir brauchen also neue Denk-Konzepte, die in der Lehre und in der Forschung behandelt und erarbeitet werden müssen. Dies ist eine Verpflichtung für Forschung und Lehre, der wir uns stellen müssen. Dabei müssen wir endlich zur Kenntnis nehmen, dass wir nur ein vorläufiges Endglied der Evolution und nicht die Krone der Schöpfung sind, dass wir unlösbar eingebunden sind in die Kreisläufe unserer Geobiosphäre und dass wir vollständig abhängig sind von unserer GAIA. Der Geologe Henno Martin hat im Schlusssatz seines Buches »Menschheit auf dem Prüfstand« als allgemein gültige Lehre aus 4,5 Milliarden Jahren Erd-, Lebens- und Menschheitsgeschichte geschrieben: „Nur durch Vielfalt und Toleranz, nicht durch einseitige Beharrung, nur durch Kooperation, nicht durch Dominanz, ist die Chance zur Höherentwicklung und damit zum Überleben der Menschheit gegeben.“

Prof. R. Dr. Jürgen Schneider lehrte in Göttingen Geologie, Paläontologie und Umweltgeowissenschaften. Er ist im Vorstand der NaturwissenschaftlerInnen-Initiative »Verantwortung für Friedens- und Zukunftsfähigkeit« e.V.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2004/4 Think Tanks, Seite