Vergrenzung der EU
Grenzvorverlagerung, Profit und Behinderung der Demokratie
von Jacqueline Andres
Innerhalb der letzten Jahrzehnte vervielfachte sich die Errichtung von High-tech-Grenzanlagen weltweit. Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und die europäische Sicherheitsbranche sind maßgeblich an dieser Entwicklung beteiligt. Die EU treibt nicht nur selbst eine rasante Vergrenzung entlang ihrer Außengrenzen voran, sondern forciert auch eine stetige Grenzvorverlagerung, die mit einem Technologietransfer an repressive Staaten einhergeht und dort für eine effizientere Kontrolle nach innen eingesetzt werden kann. Die Grenzsicherung ist ein boomender Markt, der bereits jetzt zur Behinderung demokratischer Prozesse in den Herkunfts- und Transitstaaten der Geflüchteten beiträgt und die Fluchtursachen verschärft.
In den letzten Jahren erstellte die EU zahlreiche Aktionspläne, Programme und Projekte mit dem Ziel, die Migration nach Europa einzudämmen und die Anzahl der ablegenden Boote von Migrant*innen entlang der nordafrikanischen Küste drastisch zu reduzieren.
Schwerpunkt Migrationsbekämpfung
Bei einem Treffen von EU-Politiker*innen mit libyschen und tunesischen Amtskolleg*innen am 20. März 2017 in Rom wurde eine ständige Kontaktgruppe geschaffen, und die dort vertretenen Politiker*innen erklärten sich bereit, gemeinsam an der Migrationsbekämpfung zu arbeiten und Migrant*innen vor der gefährlichen Mittelmeerüberfahrt zu »bewahren«. Auch Algerien war eingeladen, doch der Maghrebstaat entsandte aus Protest über die von der EU gestellten Forderungen keine*n Diplomat*in.
Im Laufe der letzten Monate häuften sich die Treffen, Verhandlungen und Abkommen mit nordafrikanischen Staaten. Diese Häufung verdeutlicht die Besorgnis innerhalb der EU um die aktuelle Entwicklung an der nordafrikanischen Küste: Der Vertragspartner der EU in Libyen – die von der internationalen Gemeinschaft, nicht jedoch vom Großteil der eigenen Bevölkerung anerkannte Einheitsregierung unter Präsident Fayiz as-Sarradsch – hat keine Kontrolle über die Küste. Noch immer legen nach Schätzung der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) rund 90 % der Boote, die Italien erreichen, aus Libyen ab. Die restlichen Boote kommen hauptsächlich aus Tunesien, Algerien und Ägypten, Tendenz steigend. Umso wichtiger erscheint es daher, die Migrant*innen daran zu hindern, Libyen zu erreichen, bzw. sie in Libyen festzuhalten. Gleichzeitig soll auch dafür gesorgt werden, dass weniger Boote aus den Nachbarstaaten ablegen.
Thomas de Mazière fasste die Ansprüche zusammen: „Die europäischen und nordafrikanischen Staaten müssten gemeinsam versuchen, die Menschen aus Afrika daran zu hindern, sich durch Libyen auf den Weg zu machen. Wir müssen den Grenzschutz verstärken, den Küstenschutz auch Libyens, und wir müssen entschlossen diejenigen zurückführen aus Europa, die dann doch angekommen sind.“ (Deutsche Welle 2016)
Diese Einschätzung teilen auch die anderen EU-Mitgliedsstaaten. Bei der EU-Gipfeltagung in Bratislava im September 2016 kamen Vertreter*innen aus 27 Mitgliedsstaaten zusammen. In dem während der Tagung entstandenen Bratislava-Fahrplan erklärte die EU die Migrationsabwehr zu einer ihrer Prioritäten und setzt sich u.a. folgendes Ziel: „Vollkommener Ausschluss einer Wiederholung der unkontrollierten Migrationsströme des […] Jahres [2015] und weitere Verringerung der Anzahl irregulärer Migranten“ (Europäischer Rat 16.9.2016, S. 3). Erst wenige Monate zuvor hatte die EU einen neuen Migrationspartnerschaftsrahmen verabschiedet, in welchem sie ebenfalls die Migrationskontrolle zu einem Hauptfokus ihrer Außenpolitik machte. U.a. transformiert dieser Migrationspartnerschaftsrahmen die EU-Entwicklungshilfe in ein Instrument der Migrationsabwehr. Die Instrumente der Entwicklungs- und Nachbarschaftspolitik sollen genutzt werden, um die Kapazitäten in den Herkunfts- und Transitstaaten „in den Bereichen Grenzkontrolle, Asyl, Bekämpfung der Schleuserkriminalität und Wiedereingliederung“ (Europäische Kommission 7.6.2016 ) zu stärken. 500 Mio. Euro sollen dafür aus der Reserve des Europäischen Entwicklungsfonds kommen. Die EU machte den mit Menschenrechtsverletzungen einhergehenden EU-Türkei-Deal zum Vorbild für den Partnerschaftsrahmen, strebt ähnliche Pakte mit Jordanien, Libanon, Niger, Nigeria, Senegal, Mali sowie Äthiopien an und will die Zusammenarbeit mit Tunesien und Libyen verstärken.
Aufrüstung der Grenzen
Zuvor hatte die Europäische Union ihre Nachbarschaftspolitik schon einmal neu ausgerichtet, nämlich nach dem durch Massenprotesten herbeigeführten Sturz der repressiven Langzeitpräsidenten von Tunesien und Ägypten im Jahr 2011. Gleich als erstes Ziel nannten die EU-Mitgliedsstaaten damals die verstärkte Unterstützung „beim Aufbau einer vertieften Demokratie“ als Priorität. Diese wird definiert als eine Demokratie, „die von Dauer ist, weil neben dem Wahlrecht auch das Recht auf Redefreiheit, auf die Bildung konkurrierender politischer Parteien, auf eine unparteiische und unabhängige Justiz, auf Sicherheit, die durch eine rechenschaftspflichtige Polizei und Armee gewährleistet wird, und auf Zugang zu einem kompetenten und nicht korrupten öffentlichen Dienst sowie weitere Bürger- und Menschenrechte wie die Gedanken-, Gewissens- und Glaubensfreiheit, die für viele Europäer selbstverständlich sind, garantiert werden“ (Europäische Kommission 2011, S. 2).
Inzwischen aber richtet sich die EU-Außenpolitik mit ihrem Schwerpunkt Migrationsabwehr gegen die Bedürfnisse der so genannten Zivilgesellschaft in diesen Ländern, u.a. indem deren Reisefreiheit eingeschränkt wird. Niger erklärte Schleusertätigkeiten 2015 zur Straftat, Ägypten im Jahr 2016. Denn die Vorverlagerung der EU-Grenzen setzt gesetzliche Änderungen zur Einschränkung des Personenverkehrs und zur Kriminalisierung von Schleusertätigkeiten sowie den Aufbau der dafür erforderlichen Kapazitäten in den betroffenen Herkunfts- und Transitstaaten voraus.
Durch die von der EU forcierte Grenzvorverlagerung und den damit einhergehenden Technologietransfer droht den Transit- und Herkunftsstaaten eine grundlegende Umstrukturierung. In zahlreichen Staaten kann die Aufrüstung staatlicher Sicherheitskräfte, welche auch repressiv gegen Oppositionelle und Migrant*innen vorgehen und damit selbst Fluchtursachen schaffen, negative Folgen für die Menschen vor Ort haben. Für europäische Sicherheits- und Rüstungsunternehmen hingegen stellt sie einen Profit versprechenden Absatzmarkt dar. Seit Beginn der Kriminalisierung »irregulärer« Migrant*innen und ihrer Einordnung als »Bedrohung« leistet die voranschreitende Vergrenzung der inneren, äußeren und vorverlagerten Grenzräume der EU einen essentiellen Beitrag zur Entwicklung der europäischen Rüstungs- und Sicherheitsbranche.
Die Technologisierung der Grenzkontrollen beginnt bereits bei der sich ausweitenden Biometrisierung von Ausweisen, welche anhand von Merkmalen wie Fingerabdrücken die einfachere und zuverlässigere Feststellung gefälschter Dokumente ermöglichen soll. Zeitgleich erlaubt der Aufbau von abgleichbaren biometrischen Datenbanken in den Herkunftsstaaten von Migrant*innen der EU die einfache Identifizierung und Feststellung der Staatsangehörigkeit von Personen, die abgeschoben werden sollen. Besonders seitdem die EU einen biometrischen Ausweis zur Grundvoraussetzung für den Erhalt eines Schengenraum-Visums erklärte und Staaten dazu drängt, biometrische Ausweise einzuführen, ist die Biometrisierung ein millionenschwerer Markt. Zu den für die Biometrisierung und die automatisierte Identitätsüberprüfung notwendigen Technologien zählen Fingerabdruck-Scanner, Digitalkameras, biometrische Ausweise, Lesegeräte, Kontrollschleusen sowie die dazugehörigen Datenbanken, Computerprogramme und Server.
Die Überwachung von See- und Landgrenzen wiederum setzt ganz andere Sicherheits- und Rüstungsprodukte voraus. Mit Stacheldraht gekrönte Zäune und Mauern prägen die traditionelle Idee von Grenzanlagen, doch mittlerweile sind diese durch zahlreiche Komponenten ergänzt oder gar ersetzt: Drohnen, Glasfasersysteme, Sensoren, Radarsysteme, Nachtsichtgeräte, Wärmebildkameras und Überwachungskameras sollen die Überwachung verbessern, während die bewaffneten Grenzschützer*innen mit Geländewagen, Patrouillenbooten und –flugzeugen weitläufig einsatzbereit sein sollen. An Häfen werden Röntgengeräte, Herzschlagmesser, Atemluftscanner und ausgebildete Spürhunde eingesetzt, um »blinde Passagiere« u.a. in LKWs, unter größeren Fahrzeugen oder auf Schiffen ausfindig zu machen.
Nach Angaben des Beratungsunternehmens Visiongain stieg der Wert der globalen Grenzsicherung von 15 Mrd. Euro im Jahr 2015 auf 16,7 Mrd. Euro im Jahr 2016 und soll bis 2021 um etwa 8 % jährlich wachsen (Akkermann 2016, S. 12). Laut dem US-amerikanischen Marktforschungsunternehmen Global Information Inc. (GII) wird das Marktvolumen von Radarsicherheit von 17,85 Mrd. US$ 2016 mit einem Wachstum von rund 6 % jährlich auf 25,17 Mrd. US$ im Jahr 2022 anwachsen. Der größte Anteil entfällt auf die Grenzüberwachung, und es sei laut GII zu erwarten, dass diese den Markt bis 2022 dominieren wird (Global Information Inc. 29.7.2016). Im Bereich der Drohnen sieht es nicht anders aus: Bis 2022 soll der globale Drohnenmarkt laut dem Marktforschungsunternehmen Research and Markets einen Wert von 21,23 Mrd. US$ erreichen. Der größte Anteil militärischer Drohnen soll für die Grenzsicherung verkauft werden (Business Wire 13.10.2016).
Zahlreiche europäische Unternehmen tragen zur Vergrenzung unterschiedlicher Regionen bei – auch, weil die EU ihre Konkurrenzfähigkeit stärkt. Im Jahr 2012 erkannte die Europäische Kommission die Gefahr, dass „die globalen Marktanteile europäischer Unternehmen in den nächsten Jahren einen beträchtlichen Rückgang erleben könnten, sofern keine Maßnahmen zur Förderung ihrer Wettbewerbsfähigkeit ergriffen werden“ (Europäische Kommission 2012). Im folgenden Jahr verkündete die EU das neue rund 80 Mrd. Euro schwere Forschungs- und Innovationsrahmenprogramm »Horizon 2020« (Europäischer Rat 2013), welches das zuvor ausgelaufene 7. Forschungsrahmenprogramm ablöste. »Horizon 2020« finanziert unter dem Titel »Sichere Gesellschaften« u.a. Sicherheitsforschung mit Fördergeldern in Höhe von 1,7 Mrd. Euro für den Zeitraum von 2014 bis 2020. Ziel des Rahmenprogramms ist die Stärkung von „Synergien zwischen der nationalen und europäischen Sicherheitsforschung“, um diese im globalen Konkurrenzkampf zu unterstützen. Einer der acht Schwerpunkte, die unter dem Stichwort »Sichere Gesellschaften« gefördert werden, ist explizit die „Erhöhung der Sicherheit durch Grenzüberwachung“ (BMBF o.J.).
Angesichts dieser Aussichten überrascht es nicht, dass sich europäische IT-, Rüstungs-, Sicherheits- und Logistikunternehmen in Lobbyverbänden zusammenschlossen, um sich Aufträge zu sichern.
Lobbyarbeit treibt Technologisierung und Militarisierung voran
Ein wichtiger Akteur in diesem Feld ist die European Organisation for Security (EOS), welche sich auf ihrer Website auch als „europäische Stimme der Sicherheit“ bezeichnet. Seit 2007 bringt dieser Interessenverband Vertreter*innen der europäischen Sicherheitsindustrie und -forschung mit Politiker*innen unterschiedlicher EU-Institutionen in Brüssel zusammen. Zu den Themenschwerpunkten der Organisation zählt neben Cybersicherheit, Schutz kritischer Infrastruktur und Bevölkerungsschutz auch der Grenzschutz. Im Vorstand der EOS sitzen momentan mit Helmut Huegle von Airbus und Gerd Müller von Secunet auch Vertreter aus Deutschland. Ein weiterer Interessensverband, der Europäische Verband der Luftfahrt-, Raumfahrt- und Verteidigungsindustrie (ASD), ist im EOS-Vorstand durch Jan Pie vertreten. Im Vorstand von ASD wiederum sitzen Thomas Diehl, Präsident und Vorstandschef der Firma Diehl, Thomas Enders, Vorstandchef von Airbus, und Volker Thum vom Bundesverband der Deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie.
Sachverständige der Protection And Security Advisory Group des Rahmenforschungsprogramms »Horizon 2020« der EU sind häufig selbst in den Unternehmen und Forschungsinstituten tätig, die sich anschließend auf die Förderungsausschreibungen bewerben. Zu den neunzehn Mitgliedern dieser Gruppe zählen auch deutsche Sachverständige: der Präsident des Technischen Hilfswerks, Albrecht Broemme; die Geschäftsführerin der Microfluidic ChipShop GmbH, Dr. Claudia Gärtner; Merle Missoweit von der Fraunhofer Gesellschaft zur Förderung der angewandten Forschung; Klaus Keus vom Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik und Petra Hoepner vom Fraunhofer Institut FOKUS (Europäische Kommission 2017). Durch ihre doppelte Rolle als Berater*innen und Vertreter*innen potenzieller Bewerberunternehmen auf Ausschreibungen von »Horizon 2020« können sie maßgeschneiderte Ausschreibungen für die von ihnen vertretenen Institutionen erwirken. Von dieser Lobbyarbeit und der Einbindung in institutionalisierte Expert*innengruppen profitieren auch deutsche Universitäten, Forschungsinstitute und Unternehmen, wenn sie weltweit um entsprechende Projekte konkurrieren.
Deutschlands Beitrag und Profit
Zu den bedeutenden Einrichtungen und Unternehmen, die von der EU-Förderung bislang profitierten, zählen der deutsch-französische Konzern Airbus, welcher 2004 bis 2015 zwölf Aufträge im Wert von 9,784 Mio. Euro erhielt, und die Institute der Fraunhofer Gesellschaft, die für etwa 200 Projekte, an denen sie beteiligt waren 68,59 Mio. Euro erwirtschafteten. Weitere Schwergewichte der europäischen Sicherheitsindustrie, die oftmals auch Standorte in der Bundesrepublik unterhalten – z.B. Thales (31,57 Mio Euro., Indra (12,27 Mio. Euro), Leonardo S.p.A. und Safran –, profitieren ebenfalls vom EU-Rahmenforschungsprogramm (Biermann und Fuchs 23.2.2017).
Die von der EU geforderten Maßnahmen zur Grenzsicherung und Migrationssteuerung in den Nachbarschaftsregionen gehen meist mit konkreten Angeboten einher, welche oftmals von EU-Geldern, wie dem eigens eingerichteten European Trust Fonds, finanziert werden. Bei seinem Besuch in Marokko im März 2016 schloss Innenminister Thomas de Mazière mit seinem Amtskollegen Vereinbarungen zur erleichterten Abschiebung marokkanischer Staatsangehöriger ab, in denen Marokko auch einem biometrischen Datenabgleich abzuschiebender Personen zustimmte (Guerra 9.12.2016). Das Unternehmen Veridos erhielt kurze Zeit später den Auftrag, dem Königreich Marokko ein »innovatives« nationales Grenzkontrollsystem zu liefern, welches zahlreiche Komponenten umfasst, u.a. Passlesegeräte und automatisierte Grenzkontrollschleusen, so genannte eGates. Teil der Lieferung sind 140 mobile Grenzüberwachungsausstattungen, die aus Laptops, Fingerabdruckscannern des Hamburger Unternehmens DERMALOG Identification Systems und den zugehörigen Lesegeräten bestehen. Veridos richtet 1.600 stationäre Grenzkontrollstationen ein – inklusive einer Hauptzentrale und mehreren regionalen Servern (Veridos 2016). Veridos ist ein Zusammenschluss des IT-Unternehmens Giesecke & Devrient und der Bundesdruckerei GmbH, die sich seit 2009 wieder im Staatsbesitz befindet und weltweit von der Einführung biometrischer Meldewesen profitiert.
Die Verbindung zwischen dem Staat und privaten Unternehmen können auch im Bereich der Grenztechnologien eng sein, wie der Fall der High-tech-Grenzanlage von Saudi Arabien zeigt. Im Jahr 2009 erhielt Airbus, damals EADS, den milliardenschweren Auftrag, eine 900 Kilometer lange Grenzanlage zwischen Saudi Arabien und Irak zu errichten. Teil des Deals war die Ausbildung saudischer Grenzschützer durch die Bundespolizei; seither waren 110 Bundespolizisten und eine Bundspolizistin dafür vor Ort. Die Bundespolizei unterhält zur Koordination der Maßnahmen seit 2009 ein Projektbüro in Riad, in dem fünf Polizeivollzugsbeamte eingesetzt sind (Deutscher Bundestag 7.3.2017). Für die logistische und administrative Abwicklung wurde die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit eingebunden.
Der damals für die Zustimmung zuständige Entwicklungsminister Dirk Niebel übernahm 2015 internationale Aufgaben bei Rheinmetall und unterstützt seither „die Mitglieder des Konzernvorstands von Rheinmetall in allen Fragen und Aufgaben der internationalen Strategieentwicklung und beim Ausbau der globalen Regierungsbeziehungen“ (Rheinmetall 2014). Und Rheinmetall profitiert von der Stärkung des Grenzschutzes anderer Länder. Die Bundesregierung übergab der jordanischen Armee zum Grenzschutz im Dezember 2016 sechzehn Schützenpanzer des inzwischen in die Jahre gekommenen und überholten Typs »Marder«; weitere 34 Panzer sollen bis Ende 2017 geliefert werden. Bezahlt werden die sonst vermutlich schwer verkaufbaren Modelle vom Außen- und Verteidigungsministerium (ZEIT ONLINE 11.12.2016). Mit den Panzern soll Jordanien seine nördliche Grenze nach Syrien gegen den so genannten Islamischen Staat sichern. Im Juni 2016 erklärte die jordanische Regierung diese Grenze zu einer Militärzone und verweigert seither weiteren Geflüchteten den Zutritt nach Jordanien. Der Kommandeur der jordanischen Grenzschützer, General Aqeel, betonte noch im März 2017: „Die Grenzen sind für Flüchtlinge komplett geschlossen.“ (Azzeh 2017) Nur Personen, die dringend medizinische Versorgung benötigen, würden in Jordanien behandelt und anschließend wieder zurück vor die Grenze gebracht werden. Im Niemandsland von Rukban an der syrisch-jordanischen Grenze hat sich seither ein Camp mit geschätzt 75.000 Geflüchteten gebildet. Die Panzer werden folglich nicht nur gegen eine mögliche Bedrohung durch den IS eingesetzt, sondern auch gegen Grenzübertritte von Flüchtlingen.
Ähnlich verhält es sich mit den drei GSM-Interceptor-Einheiten, die Anfang des Jahres 2017 an das jordanische Königreich übergeben werden sollten. Diese dienen der „aktiven und passiven Gesprächsaufklärung“ und können Hunderte Mobilfunkverbindungen zeitgleich belauschen (ZEIT ONLINE 2016). Es ist naheliegend, dass die jordanische Regierung diese Lauschtechnik auch gegen Regimekritiker*innen einsetzen wird. Weitere Schenkungen erfolgten u.a. an Tunesien: Die Bundesregierung übergab dem tunesischen Grenzschutz Nachtüberwachungssysteme, Wärmebildkameras, optische Sensoren und Radarsysteme von Airbus.
Auch in Algerien sind Panzer von Rheinmetall (»Fuchs«) für die Überwachung der Landgrenzen im Einsatz. Der algerischen Regierung reichte jedoch eine Lieferung nicht, sondern sie wollte an der Produktion beteiligt werden: Fast tausend Fuchs-Radpanzer sollen in der Nähe der algerischen Stadt Constantine von der im März 2011 gegründeten Firma Rheinmetall Algerie mit Bausätzen aus Deutschland zusammengebaut werden. Aus Deutschland werden auch Baupläne geliefert, damit Algerien selbst Radaranlagen, Infrarotkameras und Kommunikationsgeräte herstellen kann. Um dies zu ermöglichen, hat sich die Deutsche Elektronik Gesellschaft für Algerien mbH (Degfa) im Jahr 2012 mit der Société commune algérienne de fabrication des systèmes électroniques (Scafse) zu einer Joint Venture zusammengeschlossen. Die Degfa wiederum ist ein Zusammenschluss von Airbus, Rohde & Schwarz und Carl Zeiss (German Foreign Policy 2017). Rheinmetall International Engineering feiert die Möglichkeit, „komplette Infrastrukturen für Verteidigung schlüsselfertig“ bauen zu können und damit dem „Trend“ zu folgen, dass Staaten selbst in die Produktion eingebunden werden wollen (Rheinmetall Defence o.D.).
Anhand der Beteiligung von deutschen Unternehmen bzw. von Firmen mit Zweigstellen in Deutschland an internationalen Messen zum Thema Grenzsicherheit wird schnell deutlich, dass durch die Aufnahme von Grenztechnologie in die Produktpaletten mittelständischer Unternehmen und großer Konzerne die Vorverlagerung der europäischen Außengrenzen in vielen deutschen Großstädten und selbst in zahlreichen kleinen Kommunen beginnt: Airbus DS Electronics and Border Security GmbH (Ulm) entwickelt Radarsysteme für Grenzanlagen, das mittelständische Unternehmen Steiner Optik GmbH (Bayreuth) vertreibt das für den Grenzschutz geeignete M1580 Fernglas, Carl Zeiss Optronics GmbH (Wetzlar) Nachtsichtgeräte, InfraTec (Dresden) Infrarotkameras, ConVi GmbH (Wangen im Allgäu) Grenzkontrollsysteme und VTQ Videotronik GmbH (Querfurt) Langstrecken-Transmitter und Sensoren.
Die EU-Migrationspolitik behindert Selbstbestimmungsprozesse
Der durch die EU-Migrationspolitik forcierte Technologie- und Politiktransfer bereichert jedoch nicht nur zahlreiche Unternehmen in Deutschland und ganz Europa, sondern droht die Herkunfts- und Transitstaaten – und langfristig sogar die EU selbst – zu ändern.
Die EU-Migrationspolitik verknüpft geschickt die politischen mit den wirtschaftlichen Interessen Europas; als Folge stärkt sie repressive Regierungen. Mit dem für die staatliche Kontrolle nach außen erforderlichen Kapazitätsaufbau nimmt gleichzeitig auch die technologische Fähigkeit der Kontrolle nach innen zu. Für ihre Repression berüchtigte Sicherheitskräfte von Algerien, Sudan, Südsudan und Tschad werden gestärkt, weil die zur Grenzsicherung, zur Bekämpfung von Schleuser*innen und Terrorist*innen gelieferte Ausstattung und Ausbildung ebenso gut zur Überwachung und Repression regimekritischer Stimmen taugt. Im vierten Quartal des Jahres 2016 erhielt die ägyptische Grenz- und Hafenpolizei 100 Dokumentenprüfgeräte für Kontrollbeamte (Docu-Viewer) zur Unterstützung der Dokumenten- und Urkundensicherheit sowie für polizeiliche Identitätsprüfungen. Dies kommt der Militärdiktatur sicher nicht ungelegen. Nach Angaben der Bundesregierung wurde 2016 deutlich mehr politischen Aktivist*innen und Angehörigen von Nichtregierungsorganisationen die Ausreise aus Ägypten untersagt (Deutscher Bundestag 7.3.2017). Die ägyptischen Sicherheitskräfte erhalten zugleich ähnliche Lehrgänge und Ausstattungshilfen von der französischen und italienischen Regierung.
Dabei findet geheimdienstliche und polizeiliche Zusammenarbeit auch mit den Behörden statt, welche für die Inhaftierung politischer Gefangener verantwortlich sind (nach Angaben des Arab Network for Human Rights 2016 allein in Ägypten 60.000). Diese wurden oftmals in Prozessen ohne ausreichende rechtsstaatliche Kriterien verurteilt oder ohne Anklage und Prozess inhaftiert. Die Stärkung des ägyptischen Sicherheitsapparats und die Aufwertung des Militärdiktators as-Sisi zu einem Partner der EU in der Migrationsbekämpfung ist ein harter Schlag gegen all diejenigen, die 2011 mit der Forderung nach »Brot, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit« zusammenkamen.
Zudem ist es höchst unwahrscheinlich, dass Migration tatsächlich durch die Technologisierung der Grenzüberwachung steuerbar ist, denn die Grenzpolizeien, deren Kapazitäten ausgebaut werden sollen, sind oftmals Komplizen von Schleuser*innen. Durch die Illegalisierung und offizielle Bekämpfung von Migration erhöhen sich u.a. die Bestechungsgelder, wodurch die Migration noch teurer und riskanter wird, jedoch nicht unmöglich. Dies beginnt bereits innerhalb der EU selbst: Im August 2016 wurde die Leitung der Grenzpolizei von Bulgarien wegen schwerwiegender Korruptionsvorwürfe entlassen. Der ehemalige Chef der bulgarischen Grenzpolizei, Valeri Gigorov, bestätigte in einem Interview mit der Deutschen Welle, es bestünde eine »Geschäftspartnerschaft« zwischen den Schmuggler*innen und den Grenz- und Inlandspolizist*innen (Andreev 2016).
Die Stärkung des europäischen Sicherheitsmarktes, seine Suche nach neuen Absatzmärkten und die schrittweise Ausweitung von Sicherheitskontrollen wirken auch auf die EU zurück. Seit 2016 werden auf Initiative von Innenminister de Mazière biometriebasierte Datenbanken der EU-Sicherheitsbehörden zu einem „Kernsystem“ (Monroy 2016) zusammengeführt. Die Datenbanken sollen vorerst um durchsuchbare Gesichtsbilder von Asylsuchenden ergänzt werden, diese Fähigkeit kann aber jederzeit auch auf Unionsbürger*innen ausgeweitet werden. Die Bundespolizei nutzt so genannte »präventive erkennungsdienstliche Behandlungen«, bei denen von politischen Aktivst*innen die Fingerabdrücke genommen werden; Italien und Frankreich erlassen gegen Unionsmitbürger*innen aus dem No-Border-Spektrum Einreiseverbote. So wird die umfassende Überwachung auch in der EU selbst zunehmend zur Normalität.
Literatur
Akkermann, M. (2016): Border Wars II – An Update on the Arms Industry Profiting from Europe’s Refugee Tragedy, War and Pacification. Briefing December 2016. Amsterdam: Transnational Institute.
Andreev, A. (16.8.2016): Grenzpolizisten als Komplizen der Schleuser? Deutsche Welle; dw.com.
Azzeh, L. (16.3.2017): Army rises to Rakban camp challenge, security threats. Jordan Times.
Biermann, K. und Fuchs, C. (23.2.2017): 800.000 Euro für einen Terror-Airbag, der nie fertig wurde. ZEIT ONLINE. Der Text ist Teil des investigativen Rechercheprojektes »Security for Sale« (securityforsale.eu), das seit 2007 Daten der EU-Kommission über Fördermittel analysiert und Verflechtungen der Sicherheitsindustrie mit Politik und Wissenschaft untersucht [d.Red.].
Bundesministerium für Bildung und Forschung/BMBF (o.J.): Europäische Förderung zur Sicherheitsforschung; bmbf.de.
Business Wire (13.10.2016): Global UAV Drones Market Worth USD 21.23 Billion by 2022 – Analysis, Technologies & Forecasts – Vendors: 3DR, Aerovironment, BAE Systems – Research and Markets.
Deutsche Welle (19.3.2017): Gipfeltreffen zur Flüchtlingskrise in Rom. dw.com.
Deutscher Bundestag (3.2.2017): Anwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Andrej Hunko, Jan van Aken, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE – Sicherheitspolitische Kooperation mit der Regierung in Ägypten zur Migrationskontrolle und Grenzüberwachung. Drucksache 18/11098.
Deutscher Bundestag (7.3.2017): Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Sevim Dagdelen, Wolfgang Gehrcke, Annette Groth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE – Die Zusammenarbeit Deutschlands mit Saudi-Arabien und anderen Golfstaaten. Drucksache 18/11389.
Europäische Kommission (25.5.2011): Gemeinsame Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Eine neue Antwort auf eine Nachbarschaft im Wandel.
Europäische Kommission (7.6.2016): Pressemitteilung. Kommission stellt neuen Migrationspartnerschaftsrahmen vor – Zusammenarbeit mit Drittländern verstärken, um Migration besser zu steuern.
Europäische Kommission (18.11.2015): Gemeinsame Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Überprüfung der Europäischen Nachbarschaftspolitik.
Europäische Kommission (30.7.2012): Pressemitteilung. Sicherheitsbranche – Kommissionsvorschlag für ein Programm zur Wachstumsförderung.
Europäische Kommission (7.3.2017): Register of Commission Expert Groups and Other Similiar Entities, Horizon 2020 Protection And Security Advisory Group (E03010).
Europäischer Rat (16.9.2016): Erklärung von Bratislava.
German Foreign Policy (21.2.2017): Flüchtlingsabwehr in Nordafrika (I).
Global Information Inc.(29.7.2016): Radar Security Market by Surveillance Type (Ground, Air, Marine), Range (Long, Medium, Short), Application (Border Security, Seaport and Harbor, Critical Infrastructure), and Geography – Global Forecast to 2022. giiresearch.com.
Guerra, P.W. (9.12.2016): Durchsichtige Afrikaner – Mit Geld und Technologie aus Europa wird Afrika biometrisiert. tageszeitung.
Rheinteall Defence (ohne Datum): Türöffner zu neuen Märkten und Geschäftschancen.
Veridos (21.3.2016): Veridos Supplies Innovative Border Control Solution to the Kingdom of Morocco.
ZEIT ONLINE (11.12.2016): Jordanien – Deutschland liefert nicht nur Schützenpanzer.
Jacqueline Andres ist Politikwissenschaftlerin und Beirätin der Informationsstelle Militarisierung in Tübingen. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen u.a. militärische Landschaften und die Militarisierung der EU-Migrationspolitik.