Verstrickung Frankreichs
Militärinterventionen in Zentral- und Westafrika
von Bernhard Schmid
Auch nach der Unabhängigkeit der Staaten Zentral- und Westafrikas spielt die ehemalige Kolonialmacht Frankreich eine wichtige Rolle in den verschiedenen Konfliktdynamiken der Region. In der deutschen Öffentlichkeit wurde diese Realität zuletzt Anfang 2013 wahrgenommen, als Frankreich – zunächst alleine, später auch mit Unterstützung Deutschlands, der EU und anderer Akteure – in Mali intervenierte. Dieser Artikel wirft ein exemplarisches Schlaglicht auf die tiefe Verstrickung der französischen Politik wie des französischen Militärs in das politische Geschehen in Mali und in der Zentralafrikanischen Republik. Während der Begriff »Intervention« einen befristeten Charakter des militärischen Eingreifens nahelegt, zeichnet Bernhard Schmid ein Bild der kontinuierlichen Einflussnahme mit weitreichenden Folgen für die Menschen in den betroffenen Ländern.
Man weiß meist, wann Interventionen beginnen; aber nur selten, wann und wie sie enden. Im ersten Halbjahr 2013 griff Frankreich militärisch im Norden Malis – dem Azawad – gegen die jihadistischen Gruppen ein. Diese hatten sich dort im Schatten einer sezessionistischen und von Tuareg getragenen Rebellion in Gestalt der »Bewegung für die nationale Befreiung von Azawad« (MNLA, Mouvement national de libération de l’Azawad) festgesetzt. Im Herbst 2013 klangen die Nachrichten auf allen Kanälen vorübergehend so, als stünde die militärische Aktivität Frankreichs in Mali vor einem baldigen Abschluss und als sei das »Jihadistenproblem« in der Sahelregion weitgehend geregelt – und sei es nur , weil die bewaffneten Islamisten geflohen und in den instabilen Süden des Bürgerkriegslands Libyen ausgewichen seien.
Aufstockung der Truppen in Mali und im Sahel
Heute klingen die Dinge längst wieder anders. Am 12. Oktober 2014 gab der französische Verteidigungsminister Jean-Yves Le Drian eine Verstärkung der Truppen seines Landes in Nordmali bekannt, um, wie er erklärte, auf akute jihadistische Bedrohungen zu reagieren. Die Operation heißt im militärischen Jargon jetzt nicht mehr »Serval« (eine Wüstenkatze), sondern seit Juni 2014 »Barkhane«. Die neue Operation ist damit nach einer in der ganzen Sahara anzutreffenden Dünenformation, der Sicheldüne, benannt, und ihr Befehlshaber für die Region sitzt nicht länger in Mali, sondern in der tschadischen Hauptstadt N’Djamena. Dort unterstehen ihm 3.000 französische Soldaten, während die Vorläuferoperation »Serval« im Herbst des vorangegangen Jahres in Mali noch auf 1.000 Mann reduziert worden war.
Auch bei dieser aufgestockten Truppenzahl blieb es nicht. Der französische General Jean-Pierre Bosser verkündete am 14. Oktober 2014 eine weitere Verstärkung des regionalen Truppenkontigents von drei- auf viertausend Militärs. Am 25. Oktober 2014 reiste Verteidigungsminister Le Drian persönlich in die malische Hauptstadt Bamako und traf Staatspräsident Ibrahim Boubacar Keïta. Kurz vor seinem Eintreffen sprach die Pariser Abendzeitung Le Monde am 23. Oktober vom „größten Auslandseinsatz der französischen Armee seit dem Zweiten Weltkrieg“. Diese Rechnung geht allerdings nur dann auf, wenn man den Indochina- und den Algerienkrieg (ersterer 1946-1954, letzterer 1954-1962), die sich jeweils auf von Frankreich beanspruchten und kolonial unterworfenen Territorien abspielten, nicht zu den Auslandseinsätzen zählt.
Die Jihadisten melden sich ihrerseits im Norden Malis verstärkt zurück. Von Ende Mai bis Mitte September 2014 waren allein 28 bewaffnete Angriffe auf die UN-Mission MINUSMA (Mission multidimensionnelle intégrée des Nations Unies pour la stabilisation au Mali) zu verzeichnen, und auch seitdem finden immer wieder Attacken statt, beispielsweise am 21. Januar 2015, als die MINUSMA in Tabankort mit schwerer Artillerie angegriffen wurde.
Vielfältige Interessen der lokalen Akteure
Seit dem 1. September 2014 laufen in Algier Verhandlungen, bei denen vierzig Delegierte einerseits die malische Staatsmacht und »Organisationen der Zivilgesellschaft« (etwa Zusammenschlüsse von Nichtregierungsorgansiationen), sowie anderseits die Mehrzahl der bewaffneten Gruppen vertreten. Al Qaida in Nordafrika (alias AQMI) ist bei den Verhandlungen nicht vertreten, obwohl die vorwiegend aus algerischen Staatsbürgern bestehende Organisation 2012 bei der Besetzung der Nordhälfte Malis – also des Azawad – durch Tuareg-Sezessionisten im Verbund mit Jihadisten aktiv mitwirkte. In Algier präsent sind hingegen die auf ethnischer Basis zusammengesetzten Bewegungen von nordmalischen Tuareg (MNLA, Mouvement National pour la Libération de l’Azawad) und Arabern (MAA, Mouvement Arabe de l’Azawad) sowie die »Bewegung für die Einheit von Azawad« (HCUA), welche eher die Islamisten – vor allem aus den Reihen der malischen Jihadistenbewegung Ansar ed-Din (Anhänger der Religion) – als zivile Vorfeldorganisation repräsentiert.
Vor allem die separatistische Tuareg-Bewegung MNLA bemüht nach außen einen Sprachduktus der »nationalen Befreiung«. Die Wirklichkeit hat damit jedoch wenig zu tun, es handelt sich eher um einen Deckmantel für die Geschäftsinteressen einiger Großfamilien mit ausgedehntem Einfluss. Etliche Mitglieder der hellhäutigeren Bevölkerungsgruppen in Nordmali, wie der Tuareg und in geringerem Ausmaß der Araber im Raum Timbuktu, hielten in der Vergangenheit Sklaven, die sich um die Abfertigung der Karawanen und die Hausarbeit kümmerten. Daran beteiligt waren natürlich nicht alle Tuareg, sondern ihre Oberklassen, im Rahmen einer strikt hierarchisierten Kastengesellschaft. Zwar haben die Modernisierung und die weitgehende Ersetzung von Karawanen durch LKWs heute auch im Norden Malis die alte Gesellschaftsordnung durcheinander gewirbelt. Doch die alten Oberklasse fand neue Betätigungsfelder in der lebensfeindlichen Umgebung der Halbwüste und Wüste Nordmalis: Da viele Schmugglerrouten durch diese Region führen, wird mit Waffen, Benzin, unverzollten Zigaretten und seit einigen Jahren (ab 2003) auch mit Geiseln gehandelt.
Vor allem aber führt die Route des Kokains aus Südamerika durch diese unwirtliche Region. Das Kokain wird mit Schnellbooten in den mafiadominierten Küstenländern Westafrikas, wie Guinea-Bissau, angelandet und ist für den Transport nach Europa bestimmt. In Mali halten korrupte Staatsbeamte und – jedenfalls bis in die jüngere Vergangenheit – auch Spitzenpolitiker, im Nachbarland Algerien einflussreiche Generäle der Armee ihre schützende Hand über diesen lukrativen Markt. Viele bewaffnete Gruppen und Milizen entstanden in den letzten Jahren vor allem, um diese illegalen Handelsrouten zu kontrollieren und vom störenden Einfluss einer Staatsmacht zu »befreien«. Im Jahr 2012 waren die auf ethnischer Basis rekrutierten Tuareg-Aktivisten des MNLA eine taktische Allianz, eine Art Joint Venture, mit stärker ideologisch motivierten Jihadisten-Gruppen eingegangen. Zusammen kontrollierten sie einige Monate lang den Norden Malis, bis zur französischen Intervention. Derzeit ist es das Hauptziel der MNLA-Rebellen in den Verhandlungen, die Herausbildung einer Region mit weitgehenden Autonomierechten sowie die Eingliederung ihrer bewaffneten Verbände in die Armee zu erreichen.
Frankreichs doppeltes Spiel
Frankreich spielte demgegenüber lange Zeit ein doppeltes Spiel. Einerseits unterstützt Frankreich die Zentralregierung in Bamako militärisch. Andererseits unterhielt die französische Politik lange Zeit intensive Verbindungen zum MNLA. Die »Unabhängigkeitserklärung« des MNLA für Nordmali vom 6. April 2012 wurde über einen französischen Fernsehkanal – den Auslandssender France 24 – und von einem Pariser TV-Studio aus bekannt gegeben. Mehrere zentrale MNLA-Führer residierten damals in Pariser Hotels. Frankreich fuhr also eine Doppelstrategie, um den malischen Zentralstaat politisch zu schwächen. Ein Grund war der Ärger darüber, dass Mali seit 2008 fünf Mal hintereinander (und als einziger Staat der Region) die Unterschrift unter ein von Frankreich gefordertes bilaterales Abkommen zur »Migrationskontrolle« verweigert hatte.
In Mali selbst hat Frankreich nur wenige unmittelbare Rohstoffinteressen – von großer ökonomischer Bedeutung sind hingegen Niger (von hier kommen 37% des in den 58 französischen Atomreaktoren eingesetzten Urans) oder das zentralafrikanische Gabun (Erdöl) – , doch spielt Mali in der Region eine politische Schlüsselrolle. Da die französische »Barkhane«-Truppe in einem Einsatzraum von Mali bis Tschad agiert, befindet sich das Rohstoffland Niger nun überdies in der geographischen Mitte der neu definierten Einsatzzone. Durch seine politisch-militärischen Aktivitäten in Mali versucht Frankreich seiner Rolle in der gesamten Region neue Legitimation zu verschaffen, und als Begründung dient der Kampf gegen eine jihadistische Bedrohung.
Truppenreduzierung in der Zentralafrikanischen Republik
Ein umgekehrter Trend in Bezug auf die französische Truppenstationierung war in jüngster Zeit in der Zentralafrikanischen Republik (ZAR, französisch RCA) zu verzeichnen. Hier wurde am 5. Dezember 2014, pünktlich zum ersten Jahrestages des Beginns der »Operation Sangaris« (benannt nach einem in der Region vorkommenden Schmetterling), eine Truppenreduzierung angekündigt. Von zu diesem Zeitpunkt 1.900 in der ZAR stationierten Soldaten solle die Zahl zu Anfang des Jahres 2015 auf zunächst 1.500 reduziert werden. Und „so bald wie möglich im Laufe des Jahres“ solle die Truppenstärke auf die der Vorläufertruppe, der mehrere Jahre hindurch bestehenden »Operation Boali« (benannt nach der gleichnamigen Stadt), zurückgefahren werden. Letztere umfasste, je nach Zeitpunkt, zwischen 400 und 600 Soldaten.
Als Reaktion auf die Ankündigung des französischen Verteidigungsministeriums sprach die Pariser Abendzeitung Le Monde von einem „riskanten Rückzug“. Von den Problemen des Landes sei eigentlich keines geregelt, auch wenn die Stärke der bewaffneten Verbände der Ex-Rebellenbewegung Séléka, die von März bis Dezember 2013 die Regierungsgewalt in der ZAR übernommen hatte, formal von knapp 20.000 auf rund 6.000 reduziert worden sei, und auch wenn die Zahl der Binnenflüchtlinge in Camps rund um die Hauptstadt Bangui von zuvor 100.000 auf rund 20.000 abgenommen habe. Eine Gegenrechnung macht Delphine Chedorge, Chefin der zentralafrikanischen Mission der Hilfsorganisation »Ärzte ohne Grenzen« (MSF, Médicins Sans Frontières), am 8. Dezember 2014 in der Tageszeitung Libération auf. Ihr zufolge splitterten sich die bewaffneten Verbände auf viele diffuse Kleingruppen auf, von denen man oftmals „nicht mehr weiß, wer sie befehligt“. Und das Gros der Flüchtlinge, die nicht auf dem Territorium der ZAR verblieben, sondern in die Nachbarländer geflohen sind – das trifft vor allem auf die muslimischen Bevölkerungsteile zu, die überwiegend in den nördlichen Nachbarstaat Tschad flohen, – sei bislang nicht in ihr Land heimgekehrt. Allerdings erwartet Chedorge auch nicht, dass französische oder andere ausländische Truppen überhaupt eine chaotische Situation regeln könnten, die daraus erwüchse, dass in der ZAR der Staat in weiten Landesteilen quasi inexistent sei und die einem Staat obliegenden Versorgungsaufgaben nicht wahrnehme.
An der Entstehung dieser Situation trägt Frankreich geschichtlich wiederum eine erhebliche politische Verantwortung, denn die frühere Kolonialmacht ist seit Jahrzehnten an allen innenpolitischen Konflikten des Landes mehr oder weniger direkt beteiligt.
Direkte Implikationen der Einmischung Frankreichs
Nach der formalen Unabhängigkeit der ZAR im Jahr 1960 wählte weitgehend Frankreich das politische und militärische Führungspersonsal aus. Dies war damals in vielen ehemaligen Kolonien in West- und Zentralafrika der Fall; lediglich Guinea unter Ahmed Sékuou Touré (Präsident von 1958 bis 1983) und Mali unter Modibo Keita (1960 bis 1968, durch einen pro-französischen Armeeputsch gestürzt) schlugen zunächst einen staatssozialistischen und blockfreien respektive pro-sowjetischen Kurs ein.
Doch in der ZAR wurde Präsident Jean-Bédel Bokassa, der 1965 mit Billigung Frankreichs an die Macht gekommen war, im Laufe der Jahre regelrecht größenwahnsinnig. Er rief 1976 das »Zentralafrikanische Kaiserreich« aus, krönte sich selbst zum Monarchen und machte durch extreme politische Verfolgungsaktionen auf sich aufmerksam. Die Schutzmacht Frankreich stürzte ihn daraufhin Ende 1979. Bei der »Opération Barracuda« (nach einem Raubfisch benannt) brachten die Franzosen den Nachfolger Bokassas als Staatschef gleich im Flugzeug mit: Sie setzten dessen Cousin und Amtsvorgänger als Präsident, David Dacko, wieder ein. Er regierte allerdings nur zwei Jahre. Danach folgten mehrere Machtwechsel durch Militärputsche, über deren Erfolg oder Nichterfolg oft die Billigung oder Nichtbilligung Frankreichs entschied. Anders als im Falle Malis hat Frankreich in der ZAR unmittelbare Rohstoffinteressen: Im Boden des Landes lagern u.a. zahlreiche Metallerze, Diamanten und Uran.
Keine neutrale Puffer- und »Schutzmacht
In der ZAR spitzten sich die innenpolitischen Konflikte im Laufe des Jahres 2013 zu und erfuhren gleichzeitig eine wachsende Konfessionalisierung. Die von März bis Dezember 2013 regierende Ex-Rebellenkoalition Séléka rekrutierte ihre Mitglieder aus vorwiegend moslemischen Bevölkerungsgruppen, die an der Grenze zum Tschad und zum Sudan wohnen. Der Erfolg von Séléka wäre ohne die Unterstützung der tschadischen Diktatur, der stärksten Militärmacht in der Region und zugleich ein enger Verbündeter Frankreichs, undenkbar gewesen. Auch in der Hauptstadt Bangui leisteten Händler aus Bevölkerungsgruppen, die dort minoritär sind und deswegen bislang von der politischen Macht ausgeschlossen blieben – etwa ethnische Gruppen aus dem Norden –, der Séléka finanzielle Unterstützung. Angehörige der christlichen und animistischen Bevölkerungsgruppen im Zentrum und im Süden der ZAR gingen daraufhin zu einer oft pauschalen Feindseligkeit gegen Muslime über; es kam zu Übergriffen auf Zivilisten der jeweils anderen Konfession.
Vor diesem Hintergrund warnte Frankreichs Außenminister Laurent Fabius in den ersten Dezembertagen 2013 vor einem angeblich drohenden „Völkermord“ in der ZAR. Auch wenn es zutrifft, dass Anfang Dezember 2013 innerhalb einer Woche bei Kämpfen zwischen rivalisierenden bewaffneten Gruppen in der Hauptstadt Bangui rund 400 und bis zum 20. Dezember desselben Jahres rund 1.000 Menschen getötet wurden, war Fabius’ Charakterisierung der Situation eine offensichtliche rhetorische Übertreibung.
Die Ankunft der französischen Truppen wurde von manchen zunächst mit Erleichterung aufgenommen, und tatsächlich ließ die Intensität bewaffneter Auseinandersetzungen zumindest in der Hauptstadt Bangui zunächst nach. Allerdings wurden nicht alle Milizionäre entwaffnet oder gefangen genommen, um Repressalien zu vermeiden. Dramatischer wirkte sich ein anderer Faktor aus: Zwar trat Frankreich formal als neutrale äußere Macht mit dem Anspruch auf, die verfeindeten Streitparteien zu trennen. Doch vor Ort interpretierten viele zentralafrikanische Christen und Animisten die Militäraktion als die einer befreundeten, da »christlichen« Nation: Bei Übergriffen und Lynchaktionen auf muslimische Bevölkerungsgruppen beriefen sich vielerorts Angehörige anderer, vor allem christlicher Bevölkerungsteile darauf, Frankreich stehe doch auf ihrer Seite.
Die in den letzten Monaten des Jahres 2014 zu verzeichnende Abnahme der unmittelbaren Gewalt in der ZAR spiegelt vor allem die Tatsache wider, dass es zu einer realen »Entmischung« der Bevölkerungsgruppen gekommen ist: Die muslimischen Bevölkerungsgruppen flohen in die nördlichen, muslimisch geprägten Nachbarländer Tschad und Sudan und wagen es nicht, von dort zurückzukommen. Im Ergebnis kommt es zu einer scheinbaren Stabilisierung, die aber nur so lange vorhält, wie diese »ethnische Säuberung« nicht infrage gestellt wird und die Geflohenen ihr Hab und Gut, ihre von anderen angeeigneten Geschäfte und Häuser nicht zurückverlangen.
Dr. iur. Bernhard Schmid arbeitet in Paris beim Gewerkschaftsbund CGT und betätigt sich nebenberuflich als freier Journalist und Autor. 2014 erschien bei Unrast (Münster) »Die Mali-Intervention. Befreiungskrieg, Aufstandsbekämpfung oder neokolonialer Feldzug?«.