W&F 2000/2

Vom Europäischen Haus zurück zum Mächtekonzert

von Hans-Joachim Spanger

Fjodor Tjutschew ist keineswegs allein mit dem berühmten Zitat in die Geschichte eingegangen, dass man Russland nicht verstehen, sondern nur an Russland glauben könne. Schon 1844 gelangte er zu der heute nicht minder aktuellen Erkenntnis: „Über Russland wird viel gesprochen, heutzutage ruft es eine wache und besorgte Neugier hervor, es ist offensichtlich zu einer der größten Sorgen unseres Jahrhunderts geworden, doch diese Sorge ist so verschieden von den anderen, dass sie eher bedrückt denn erregt.“1 Es ist offenbar gleichgültig, in welchem politischen Aggregatzustand sich Russland befindet, ob es in zaristisch-imperialer, marxistisch-leninistischer oder oligarchisch-demokratischer Verkleidung daher kommt, die Sorgen bleiben die gleichen.

Auch dies ist für Tjutschew keineswegs verwunderlich, denn er registriert schon damals mit dem gleichen Sinn für Aktualität: „Lange Zeit waren die Vorstellungen des Westens von Russland ähnlich denen der Zeitgenossen von Kolumbus über die Neue Welt. Es war derselbe Irrtum, dieselbe optische Täuschung.“ Das galt zum einen der Arroganz im Westen, nach der „die neu entdeckten Länder nur eine Fortsetzung der ihnen schon bekannten Erdhalbkugel seien“, was unausgesprochen die konzertierten Anstrengungen westlicher Geber und Nehmer ins Visier nimmt, Russland auch heute nach dem eigenen Bilde und ohne sonderliche Rücksicht auf seine Eigenarten auf den Weg der Demokratie und Marktwirtschaft bringen zu wollen.2 Zum anderen brachte er damit das Grundverständnis eines überzeugten, wenn auch unorthodoxen, »Panslawisten« zum Ausdruck, für den Russland in jeder Hinsicht einzigartig war und der daher kaum auf Verständnis der übrigen Welt rechnen konnte.

Dieser Dualismus zwischen eingebildeter Singularität und ausgebildeter Distanz macht das historische Dilemma und die Tragik der russischen Rolle in der internationalen Gemeinschaft aus. Gleichsam zwischen dem Dritten Rom und der »Dritten Welt« oszillierend, war die objektive Rückständigkeit immer nur durch ein Sendungsbewußtsein zu ertragen, das kompensatorisch ebenso überhöht wurde wie der Nihilismus, mit dem sich andere wie die »WestlerInnen«, als KritikerInnen der Rückständigkeit regelmäßig vom eigenen Land abzuwenden pflegten. Es liegt auf der Hand, daß der rasante Abstieg vom Olymp der bürokratisch-saturierten Supermacht in die Niederungen einer zahlungsunfähigen Bananenrepublik, den Russland in den letzten Jahren erfahren mußte, kaum dazu angetan ist das beschriebene Dilemma erträglicher zu machen. Im Gegenteil muß es eher erstaunen, wie wenig Verwerfungen der revitalisierte Inferioritätskomplex und die Suchbewegungen nach innen wie außen bislang ausgelöst haben. Es ist in Russland zwar viel von einem »Weimar-Syndrom« die Rede, doch liegt die kollektive Schmerzgrenze offenkundig ungleich höher als seinerzeit in Deutschland, um diffuses Ressentiment in kollektive politische Aktion umschlagen zu lassen.

Ähnliche Schockwellen sind aus Russland folglich nicht zu erwarten. Das Dilemma des Dualismus jedoch ist auch heute aktuell und prägt Rhetorik und Kurs der russischen Außenpolitik. Diese schwankt, seit die Russische Föderation 1992 aus der Taufe gehoben wurde, zwischen den weit gesteckten Ambitionen einer virtuellen Großmacht auf der Suche nach einer neuen Identität und den begrenzten Kapazitäten einer realen Ökonomie, die im globalen Wettbewerb zum Rohstoffanhängsel des Westens degeneriert ist. Ihre Schlüsselkategorien sind »Großmacht«, »Multipolarismus« und »nationale Interessen«.

Zwar ist in Russland heute im Unterschied zum deklaratorischen Internationalismus der Sowjetunion viel von den »nationalen Interessen« des Landes die Rede. Worin genau diese bestehen, bleibt jedoch über allgemeine Bekenntnisse hinaus – etwa zur Wahrung der territorialen Integrität – offen und durchaus kontrovers. Immerhin knüpft die russische Debatte an objektiven Problemen an – vom Verlust des inneren und äußeren Imperiums bis zu den bewaffneten Konflikten im angrenzenden und nach Russland hineinragenden südlichen Krisenbogen.

Nun dienen nationale Interessen weit besser dem politischen Diskurs als der politischen Orientierung. Das gilt zumal für Russland, wo es besonders schwer fallen muß mit ihnen den Bogen zwischen inneren Wünschen und äußerer Wirklichkeit zu schlagen, zwischen unbehaglich veränderten Kräfteverhältnissen auf der einen Seite und einer nationalen Idee, deren Erkundung erst in präsidentiellen Preisausschreiben ausgelobt werden muß auf der anderen. Es kann daher auch nicht verwundern, daß Einführung und Gebrauch des Begriffes ursprünglich weniger der Bestimmung des eigenen Standortes dienten als vielmehr der Abgrenzung, namentlich von dem dezidiert »pro-westlichen« Kurs der Wendezeit 1992. Das betrifft sowohl die Akzentuierung der spezifischen »geopolitischen Interessen« Russlands als euro-asiatischer Kontinentalmacht mit originären Gestaltungsansprüchen als auch die Relativierung des westlichen Zivilisationsmodells, das mit den russischen kollektiven und etatistischen Traditionen nicht vereinbar sei.

Schon damals wurde die Zeit der Wende von ihrem Urheber und prominentesten Verfechter, dem damaligen Außenminister Kosyrew, als »romantische Periode« belächelt. Ihre Essenz war nach dem gescheiterten eigenen Weg des real existierenden Sozialismus die Rückkehr in den breiten Strom der »zivilisierten Welt« – ganz so, wie sich die einstigen Verbündeten der »Rückkehr nach Europa« verschrieben hatten. Im Unterschied zu diesen blieb es jedoch – wenig verwunderlich – bei einem nur halbherzigen Versuch. Für die kleineren OsteuropäerInnen bedeutete die Rückkehr in nüchterner Verarbeitung der Geschichte und realistischer Bewertung aktueller Risiken Distanzierung und Anschluß zugleich. Das war für Russland nicht möglich: Zum einen konnte es sich als einstiger Kern kaum plausibel vom eigenen hegemonialen Kosmos distanzieren, was schon bei der Ukraine reichlich artifiziell wirkte. Zum anderen konnte die »zivilisierte Welt«, selbst hegemonial strukturiert, keinen für würdig befundenen Platz bieten. Um sich diesen zu erstreiten blieb daher nur, selbst Definitions- und Gestaltungsmacht zu beanspruchen, als Gleicher unter Gleichen im Konzert der Großmächte.

Spätestens seit 1993 beherrscht der Anspruch, »Großmacht« und damit eines von mehreren Gravitationszentren in einer nach dem Ende des Bipolarismus »multipolaren« Welt zu sein mit bisweilen obsessiven Zügen die russische Außenpolitik. Im – heftig umstrittenen – Konzept des einstigen Außenministers Kosyrew reduzierte sich dieser Anspruch noch auf eine rhetorisch bemühte kompensatorische Beschwörungsformel ohne unmittelbare operative Relevanz. Entscheidend blieben bei ihm auch über die »romantische« Anfangsperiode hinaus die Prämissen demokratischer Gemeinsamkeit und wirtschaftlicher Offenheit. Das verpflichtete Russland, allen Tendenzen entgegen zu treten, die in Folge einer „engen nationalistischen und eigensüchtigen“ Politik die Welt erneut in »eine Arena wetteifernder nationaler Interessen« verwandeln und dem „Gleichgewicht der Angst“ Geltung verschaffen würde – ganz wie beim Mächtekonzert des 19. Jahrhunderts.3 Er blieb damit der von Gorbatschow begründeten Tradition verbunden, der mit dem paradigmatischen »Gemeinsamen Europäischen Haus« und den »allgemeinmenschlichen Werten« ja nicht allein den marxistisch-leninistischen Manichäismus der Klassentheorie überwinden, sondern auch die Einheit der zivilisierten Welt begründen wollte.

Klassische Gleichgewichtspolitik und neue Machtrivalität bilden dagegen die Essenz der heute dominierenden – und weit weniger kontroversen – außenpolitischen Doktrin wie sie von Kosyrews Nachfolger, Jewgenij Primakow, mit dem Begriff des »Multipolarismus« eingeführt und auf den Begriff gebracht wurde. Weit stärker von geostrategischen Differenzen als von demokratischen Gemeinsamkeiten und den Imperativen ökonomischer Modernisierung inspiriert ist Russland darin auferlegt, im Sinne der (potenziell entstehenden) »multipolaren« Welt der (real existierenden) »unipolaren« unter der Ägide der USA entgegen zu treten. Das schließt eine allzu enge Partnerschaft mit dem Westen schon deshalb aus, weil diese bedeuten würde, sich in ein unakzeptables Gefolgschaftsverhältnis zu den USA begeben und eigene Interessen aufgeben zu müssen. Anzustreben ist vielmehr eine Strategie der Äquidistanz und idealiter auch der wechselnden Koalitionen mit den wichtigsten Machtzentren, namentlich den USA, China, Deutschland und Japan.4

Das so anvisierte Mächtekonzert relativiert zwar, verwirft aber nicht prinzipiell den von Gorbatschow und Kosyrew noch bemühten Bezug auf das zivilisatorische gemeinsame Ganze. Vielmehr ist der »Multipolarismus« attraktiv, weil er taktische Spielräume eröffnet ohne risikoreiche strategische Entscheidungen treffen zu müssen. Eine solche würde erst dann erfolgen, wenn im Sinne von Konzepten wie dem »Eurasismus« oder der »Russischen Idee« nationale Interessen ideologisch zu einem russischen Sonderweg verdichtet und damit allenfalls noch eine antagonistische Kooperation erlauben würden.

Es gehört zur Ironie der Geschichte, daß mit Primakow und seinem neuen Konzept die Distanz zum Westen deklaratorisch gewachsen ist, zugleich aber die russische Außenpolitik stetiger und berechenbarer wurde und damit nach der Sprunghaftigkeit zuvor erstmals eine Kernbedingung für kooperative Beziehungen erfüllt war. In der praktischen russischen Politik finden sich denn auch beide Momente: die Idee einer zivilisatorischen Einheit Europas, die unter seiner Mitwirkung institutionell abgesichert werden soll und die Logik klassischer Machtrivalität mit dem Westen. So hat Russland mit Nachdruck eine Aufnahme in die G7, die Gruppe der weltwirtschaftlich führenden Mächte gefordert, die im russischen Sprachgebrauch spätestens seit 1995 »die politische G8« heißt und sich seit dem Gipfel von Denver 1997 auch einer russischen Vollmitgliedschaft nicht länger verschließt. Auch wünscht das Land eine Aufnahme in die Welthandelsorganisation sowie die OECD und konnte sich bereits mit seinem Wunsch nach Mitgliedschaft im »Pariser Club« der öffentlichen Gläubiger durchsetzen. Und nicht zuletzt strebt Moskau präferenzielle (Freihandels-)Beziehungen mit der Europäischen Union an. Selbst eine Mitgliedschaft in der NATO wird nicht prinzipiell ausgeschlossen, der Schaffung eines neuen gesamteuropäischen Sicherheitssystems auf Grundlage der OSZE und angereichert durch einen europäischen Sicherheitsrat jedoch der Vorzug gegeben.

Auf der anderen Seite beansprucht Russland die exklusiven Rechte einer Großmacht. Das gilt in Sonderheit für das Gebiet der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, das als russische Einflußsphäre gegen externe Einmischung abzuschirmen ist. Es gilt aber auch für die frühere sowjetische Einflußsphäre im östlichen Mitteleuropa, wo zumindest ein droit de regard reklamiert wird. Und schließlich gilt es für den Umgang mit dem Westen selbst, der zum Beweis seiner Kooperationsbereitschaft eine umfassende und gleichberechtigte Mitwirkung Russlands in allen für die Sicherheit Europas und der Welt relevanten Fragen sicherstellen soll.

In erster Linie richtet sich das russische Begehren nach Gleichberechtigung im Konzert der großen Mächte gegen die schmerzlich empfundene machtpolitische Marginalisierung nach dem Zerfall des eigenen hegemonialen Kosmos. Nicht das Bedürfnis nach Selbstbindung, sondern der Wille zur Selbstentfaltung beherrscht daher den russischen Wunsch nach Mitwirkung in jenen Institutionen, mit denen der Westen dem internationalen System nach dem Ende des Ost-West-Konflikts seinen Stempel aufdrückt. Dabei stehen jene Institutionen im Mittelpunkt, die aus einer rein machtpolitischen Perspektive am sichtbarsten die Dominanz des Westens verkörpern: die (einstige) G7 als „eine besondere Art von Welt-Direktorium“5 sowie die NATO als strukturierendes Zentrum der europäischen Sicherheit.

Kaum eine Organisation hat Russland deutlicher seine Ohnmacht vor Augen geführt als die NATO – sei es mit ihren Plänen, den Einzugsbereich des Bündnisses nach Osten auszuweiten oder ihren militärischen Aktivitäten im Rahmen der von ihr so deklarierten humanitären Intervention auf dem Balkan. Auf beides hat die russische Politik höchst aufgeregt reagiert. Und in beiden Fällen hat sie sich schließlich zur Kooperation bereit gefunden. Dieser Widerspruch offenbart das gravierende strukturelle Dilemma, mit dem sich Moskau weit über den unmittelbaren Anlaß hinaus konfrontiert sieht: entweder durch Kooperationsverweigerung in die Selbstisolation zu geraten oder durch Kooperationsbereitschaft eine Selbstbindung einzugehen, die der NATO eine erweiterte Legitimation, Russland hingegen prima facie nur die Rolle eines Juniorpartners sicherte. Aktionen wie die unilaterale Besetzung des Flughafens von Pristina durch russische SFOR-Truppen aus Bosnien verschaffen zwar temporär Entlastung, belegen aber letztlich nur die ganze Hilflosigkeit.

Mit der Grundlagenakte vom 27. Mai 1997 konnten die NATO und Russland zumindest die Voraussetzungen für eine institutionell verstetigte Kooperation schaffen – bis die Bomben auf Jugoslawien ihr ein vorzeitiges Ende bereiteten und zugleich die fortdauernde Brüchigkeit der beiderseitigen Beziehungen offenbarten. Ob über die gemeinsame Friedenssicherung auf dem Balkan und temporäre Dialogversuche hinaus die Zusammenarbeit im 1997 vereinbarten NATO-Russland-Rat wiederaufgenommen werden kann hängt von beiden Seiten ab – von der Richtung des Wandels in der NATO ebenso wie von der inneren und äußeren Kooperationsfähigkeit Russlands.

Das Mächtekonzert ist keine russische Erfindung, es reflektiert vielmehr den anarchischen Urzustand des internationalen Systems. Allerdings ist dessen Hegung zumindest auf dem europäischen Kontinent heute relativ weit fortgeschritten. Dies läßt die russische Neigung ziemlich nostalgisch erscheinen – es sei denn, die einstige Supermacht will sich unverändert mit der einzigen Supermacht und deren ebenfalls zunehmendem Unilateralismus messen. Das aber ist auf unabsehbare Zeit ein ziemlich hoffnungsloser Wettlauf. Was der russischen Politik vor diesem Hintergrund realistisch bleibt, ist mit dem Gaullismus eine Anleihe bei einer anderen ambitionierten Nation. Er kann sich rhetorisch mit den Schwachen des internationalen Systems solidarisieren, er kann die Starken mit den USA an der Spitze symbolisch herausfordern und er kann im Namen der nationalen gegen die internationale Ordnung rebellieren um sich schließlich doch in dessen Realität zu schicken.

Anmerkungen

1) Fjodor Tjutschew, Russland und Deutschland, in: ders., Russland und der Westen. Politische Aufsätze, Berlin, 1992, S. 52.

2) Ibid., S. 52f.

3) Andrej Kozyrev, Strategija partnerstvo, in: Me dunarodnaja izn', Nr. 5, 1994, S. 9f.

4) Yevgeny Primakov, The World on the Eve of the 21st Century, in: International Affairs (Moskau), 42. Jg., Nr. 5/6, 1996, S. 2-4; Sergei Kortunov, Russia in Search of Allies, in: International Affairs (Moskau), 42. Jg., Nr. 3, 1996, S. 148f.

5) So der ehemalige Erste Stellvertretende Außenminister Anatoly Adamishin, Is there a likelihood of accord on foreign policy?, Moscow News, Nr. 19 (13.-19. Mai), 1994, S. 4.

Dr. Hans Joachim Spanger ist stellv. Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung, Frankfurt/M.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2000/2 Russland – Zerfall einer Supermacht, Seite