W&F 2012/1

Vom Kriegs- zum Friedensrecht?

Verhindert oder legitimiert das Recht die Anwendung von Gewalt?

von Lothar Brock

Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis kurz nach dem Zweiten Weltkrieg vollzog sich eine große Transformation des Völkerrechts: die Transformation vom Kriegs- zum Friedensrecht. Kern dieser Entwicklung war die sukzessive Einschränkung des von den Staaten zuvor in Anspruch genommenen Rechts auf die Anwendung von Gewalt nach eigenem Ermessen (liberum ius ad bellum). Seit Oktober 1945 spricht die Charta der Vereinten Nationen ein allgemeines Gewaltverbot aus, das durch die Institutionalisierung der kollektiven Friedenssicherung flankiert wird und außer friedenssichernden Maßnahmen der UN nur eine Ausnahme vorsieht: die Selbstverteidigung. Dennoch ist es seither immer wieder zur nicht vom Sicherheitsrat autorisierten Anwendung von Gewalt oder ihrer Androhung gekommen, und zwar in einem Umfang, dass dadurch das allgemeine Erscheinungsbild der internationalen Beziehungen geprägt wird. Daraus ergeben sich zwei Fragen: Ist die Transformation des Völkerrechts in ihren Anfängen stecken geblieben? Oder könnte es sogar sein, dass das Friedensvölkerrecht neue Möglichkeiten zur Legitimation einseitiger Gewalt bietet (Brock 2010)?

Bekanntlich hat Immanuel Kant die Vertreter des klassischen Völkerrechts (Hugo Grotius, Samuel von Pufendorf, Emer de Vattel u.a.m.) als „leidige Tröster“ verspottet, deren Lehren immer treuherzig zur Rechtfertigung eines Kriegsangriffs herangezogen würden, aber nie zur Unterlassung eines Krieges führten. Dieser Spott richtet sich gegen die schrankenlose Ausweitung von Gründen, die für die Rechtfertigung von Kriegen in Anspruch genommen wurden. Kant ging es darum, diese Rechtfertigungspraxis offenzulegen als eine, die sich aus der Logik des Naturzustandes ergibt (Niesen/Eberl 2011, S.151).

Die zwischenzeitliche Neuorientierung des Völkerrechts, die mit der Aufgabe seiner neutralen Haltung gegenüber dem von den Staaten beanspruchten »ius ad bellum« begann (Bothe 2010, S.646) und in das allgemeine Gewaltverbot der UN-Charta mündete, kann als Versuch interpretiert werden, in zumindest teilweisem Einklang mit Kants Agenda (wenn auch nicht unbedingt mit seiner Argumentation) der von Kant gegeißelten schrankenlosen Rechtfertigungspraxis Einhalt zu gebieten. Diese Neuorientierung liest sich wie eine Fortschrittserzählung, die aber an immer neue Kriegserfahrungen anknüpft und sich damit selbst zu dementieren scheint. Inwieweit das tatsächlich der Fall ist, soll weiter unten erörtert werden. Hier soll zunächst auf den zentralen Aspekt des Völkerrechts als Friedensrecht eingegangen werden: das UN-System der kollektiven Friedenssicherung.

Den Wendepunkt in der Entwicklung des Völkerrechts vom Kriegs- zum Friedensrecht markieren die beiden Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907. Zwar trugen diese Konferenzen ihrerseits zur Ausdifferenzierung des »ius in bello« bei (Haager Recht). In Wechselwirkung mit der ersten internationalen Friedensbewegung, die sich in Europa und den USA formierte, stießen sie aber eine weit darüber hinaus reichende Entwicklung an, die im Völkerbund, dem Briand-Kellog-Pakt und schließlich in der Charta der Vereinten Nationen konkrete Gestalt annahm. Das Ergebnis, wie es sich in der UN-Charta darstellt, ist beachtlich. Die Mitglieder der Vereinten Nationen verpflichten sich, „in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt“ zu unterlassen (Art. 2, Ziff. 4). Da man die Anwendung von Gewalt aber nicht ersatzlos aus dem Repertoire zulässigen Verhaltens streichen kann, wurden die einschlägigen Ideen und Konzepte der Haager Friedenskonferenzen und des Völkerbunds aufgegriffen und zu einem System der friedlichen Streitbeilegung und der kollektiven Friedenssicherung ausgebaut (Kapitel VI und VII UN-Charta).

Das Recht auf Selbstverteidigung nach Art. 51 UN Charta wird diesem System zu- bzw. untergeordnet. Zwar spricht Art. 51 vom „naturgegebenen Recht“ auf Selbstverteidigung, er knüpft die Wahrnehmung dieses Rechts aber an strikte Bedingungen (Vorliegen eines bewaffneten Angriffs; Verteidigung nur bis zu dem Zeitpunkt, an dem der Sicherheitsrat mit geeigneten Maßnahmen tätig wird). Aus seiner Stellung im System der Charta folgt, dass es sich bei Art. 51 nicht um eine Bestimmung handelt, die ein Gegengewicht zur kollektiven Friedenssicherung schaffen soll, vielmehr soll deren Funktionsfähigkeit durch die Zulässigkeit der vorläufigen Gegenwehr eines Angegriffenen erhöht werden. Ähnlich wie die Notwehr (und Nothilfe) auf innerstaatlicher Ebene das Rechtssystem des Staates nicht unterminiert, sondern zur Geltung bringt, soll Art. 51 das System der kollektiven Friedenssicherung nicht unterlaufen, sondern in akuten Notsituationen stützen. Insofern kann man davon ausgehen, dass die UN-Charta keine Schlupflöcher für die eigenmächtige Anwendung von Gewalt lässt (O’Connell 2011, S.73).

Die Friedensregelungen der Charta sind durch entsprechende Resolutionen des Sicherheitsrates und der Generalversammlung bekräftigt und durch die Beschlüsse des Reformgipfels der Vereinten Nationen von 2005 erneut bestätigt worden. Der Internationale Gerichtshof (IGH, engl. International Court of Justice, ICJ) vertritt zudem die Einschätzung, dass eine restriktive Interpretation des Rechts auf Selbstverteidigung zum Völkergewohnheitsrecht zu zählen sei (Nicaragua vs. United States of America, ICJ Reports 1986, Ziffern 230-246). In diesem Sinne kann die Kernnorm des UN-Systems der kollektiven Friedenssicherung, das allgemeine Gewaltverbot, als unmittelbar geltendes Recht betrachtet werden (ius cogens), das alle Staaten bindet, und zwar unabhängig davon, ob sie Mitglied der Vereinten Nationen sind bzw. den Briand-Kellog-Pakt ratifiziert haben (Geltung »erga omnes«). Die IGH-Entscheidung verweist zugleich darauf, dass der Umgang mit dieser Norm der gerichtlichen Überprüfung unterliegt. Das erfolgt zwar weitgehend ohne Sanktionsmöglichkeiten, mit den Kriegsverbrechertribunalen von Nürnberg (1945-49) und Tokio (1946-48) sowie der Einrichtung von Sondertribunalen zu den Konflikten auf dem Balkan (seit 1993) und schließlich der Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofes (2003) formiert sich aber ein internationales Strafrecht, das einzelne Personen für ihr Verhalten in kollektiven Auseinandersetzungen zur Verantwortung ziehen kann.

Das Recht als Ressource zur Rechtfertigung von Gewalt

Die Ausdifferenzierung des Völkerrechts erhöht jedoch seine Interpretationsbedürftigkeit. Das zeigt der schillernde Umgang mit dem Interventionsverbot in Theorie und Praxis.

Das Interventionsverbot gehört zu den Kern-Normen der UN-Charta (Art. 2, Ziff. 7). Es leitete seinen Stellenwert zunächst aus den post-kolonialen Auseinandersetzungen zwischen Nord und Süd sowie aus dem Ost-West-Konflikt ab. Im Nord-Süd-Zusammenhang konnte ihm eine emanzipatorische, im Ost-West-Verhältnis eine friedenssichernde Funktion zugeschrieben werden. Indes verbarg sich hinter dem emanzipatorischen Anspruch in vielen Fällen die Neigung, Befreiung und Selbstbestimmung möglichst kostengünstig in ein System der Selbstbereicherung zu überführen. Und im Rahmen des Ost-West-Konflikts diente es der Legitimation einer Interventionspraxis, die die jeweiligen hegemonialen Räume gegeneinander abschirmte. Zwar hatten die USA bei Gründung der Organisation Amerikanischer Staaten einer besonders weitreichenden Form des Interventionsverbots zugestimmt. Aber gerade das bot ihnen die Möglichkeit, ihr Eingreifen in die innergesellschaftlichen Auseinandersetzungen in Lateinamerika und der Karibik als Abwehr der Einmischung des internationalen Kommunismus zu konzipieren. Ähnlich verhielt es sich mit der hegemonialen Politik der Sowjetunion im »sozialistischen Weltsystem«, in dem Eingriffe der Sowjetunion als Abwehr westlicher Einmischung und Diversion gerechtfertigt wurden (Breschnew-Doktrin).

Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts wurde diese paradoxe Form einer auf das Interventionsverbot gestützten Interventionspolitik gegenstandslos. Stattdessen trat das Spannungsverhältnis zwischen der fortschreitenden Ausdifferenzierung der Menschenrechte und dem Souveränitätsanspruch der Staaten in den Vordergrund der Interventionsdebatte, und zwar in Gestalt der »humanitären Intervention«. Über »humanitäre Intervention« war (anknüpfend an die historische Debatte des späten 19. Jahrhunderts) auch in den 1970er und 1980er Jahren schon viel gestritten worden. Dieser Streit gewann jedoch nach dem Ende des Ost-West-Konflikts eine neue Dynamik. In den vorausgegangenen Debatten ging es vor allem um Ausnahmen vom Gewaltverbot oder dessen Neuinterpretation als ein Verbot, das sich nicht gegen den (notfalls gewaltsamen) Schutz von Menschenrechten richte (Téson 1988). Teilweise daran anknüpfend und zugleich darüber hinausgehend traten in den 1990er Jahren drei andere Ansätze zur Rechtfertigung unilateraler Gewalt zum Schutz der Menschenrechte in den Vordergrund: die Wiederbelebung der Lehre vom gerechten Krieg (bellum iustum), die Förderung einer »good international citizenship« und die Neudefinition von Souveränität als Verantwortung.

1. Die Wiederbelegung der Lehre vom gerechten Krieg sollte Kriterien für die Zulässigkeit kollektiver Gewaltanwendung auf internationaler Ebene bieten. Sie war nicht darauf gerichtet, den Sicherheitsrat als einzig rechtmäßige Entscheidungsinstanz auszuweisen. Im Gegenteil, der Sinn der Wiederbelebung der (historisch überholten) Lehre lag gerade darin, gewaltsames Handeln als Ersatzvornahme für ausbleibende Maßnahmen des Sicherheitsrates zu würdigen (Mayer 1999).

2. Die zentrale Annahme der »good international citizenship« war, dass sich auf Weltebene eine normativ integrierte »internationale Gesellschaft« herausgebildet habe bzw. herausbilde, in der einzelne Staaten oder Staatengruppen als Sachwalter der für die »internationale Gesellschaft« konstitutiven materiellen Normen fungieren könnten. Diese »solidaristische« Linie der »Englischen Schule« schloss von daher ebenfalls die Zulässigkeit eigenständiger militärischer Gewalt zum Schutz von Menschen in Konflikten nicht prinzipiell aus (Wheeler 2000).

3. Das wichtigste Projekt von fortdauernder Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Neudefinition von Souveränität als Verantwortung. Ein wichtiger Anstoß dazu kam vom damaligen UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali und seinem sudanesischen Berater Francis Deng. Seine Brisanz erlangte dieses normative Projekt dadurch, dass es auch für eine interventionistische Politik genutzt werden konnte, die sich nun nicht mehr auf Ausnahmen von der Regel der Nichtintervention berufen musste oder auf Zielkonflikte in der UN-Charta, sondern sich geradezu als Garantie einzelstaatlicher Souveränität (gegen deren Aushöhlung von innen) inszenieren konnte.

Offenbar treten in Zusammenhang mit dem Schutz der Menschenrechte weder das Gewalt- noch das Interventionsverbot als unüberwindliche Schranken der Gewaltanwendung in Erscheinung. Die einschlägigen Bestimmungen der UN-Charta sind folglich doch nicht ganz so wasserdicht, wie weiter oben behauptet wurde. Daran ändert auch die Schutzverantwortung nichts (s.u.). Aber die Möglichkeit, Interventions- und Gewaltverbot bei der Anwendung von Gewalt zu umschiffen, ist nur die eine Seite der Problematik. Ihre Verquickung mit der anderen wird im Folgenden angesprochen.

Zur Verschränkung von Gewaltlegitimation und Gewaltkritik

In dem oben erwähnten Zusammenhang schreibt Kant: „Bei der Bösartigkeit der menschlichen Natur, die sich im freien Verhältnis der Völker unverhohlen blicken lässt, […] ist es doch zu verwundern, dass das Wort Recht aus der Kriegspolitik noch nicht als pedantisch ganz hat verwiesen werden können“ (Kant 1795/2011, S.26). Der Grund hierfür liegt auf der Hand: Jeder politische Akteur steht unter Rechtfertigungsdruck (auch wenn er aufgrund seiner Macht irrtümlich glaubt, sich über alle Standards hinwegsetzen zu können). Das Völkerrecht bietet in diesem Sinne eine Arena für die allgegenwärtigen Rechtsfertigungspraktiken der internationalen Politik: Jeder Versuch, die Bedingungen zulässiger Gewalt zu definieren, um damit den willkürlichen Gewaltgebrauch einzuschränken, kann als normative Ressource zur Rechtfertigung von Gewalt genutzt werden und auf diesem Wege zur Ausweitung des Gewaltgebrauchs beitragen, weil jede Regel bei Ihrer Anwendung interpretationsbedürftig ist und darüber hinaus die Möglichkeit eröffnet, Ausnahmen von der Regel geltend zu machen.

Aber jede Nutzung des Rechts als Ressource der Rechtfertigung stellt immer auch eine Affirmation des Rechts dar (Fischer-Lescano/Liste 2005). Damit festigt die Rechtfertigungspraxis die Möglichkeiten ihrer Kritik (oder öffentlichkeitswirksamen Skandalisierung), die dann wiederum auf das politische Handeln zurückwirkt. Dabei dreht sich nicht alles notwendigerweise im Kreise, vielmehr handelt es sich um einen Kampf um das Recht, der genauso von bornierten Interessen wie von normativen Agenden befeuert wird, wobei sich beide wechselseitig durchdringen. Diese wechselseitige Durchdringung zeigt sich nirgends so deutlich wie im Kampf um die Einschränkung militärischer Handlungsfreiheit der Staaten. Hier geht es zum einen um funktionale Zusammenhänge (sowohl Einschränkung wie Aufrechterhaltung von Handlungsfreiheit als Eigeninteresse), zum andern um normative Dynamiken (Selbstbindung an das Recht und Recht als Fremdbestimmung).

Unter diesen Gesichtspunkten ist das Völkerrecht selbst Teil der Schlachten, die es regulieren und (zugunsten einer Zivilisierung der internationalen Beziehungen) transzendieren soll. Das zeigt sich an den weiterhin nicht abgeschlossenen Bemühungen, das Spannungsverhältnis zwischen Menschenrechtsschutz und Interventionsverbot mit Hilfe des Konzepts der Schutzverantwortung aufzulösen. Die von Kanada einberufene International Commission on Intervention and State Sovereignty sucht eine Lösung darin, dieses Spannungsverhältnis kleinzuarbeiten. Zum einen entwirft sie in ihrem Bericht von 2001 eine Stufenleiter von Zuständigkeiten (UN-Sicherheitsrat, UN-Generalversammlung, Regionalorganisationen), die den Einzelstaat bestenfalls als vierte Instanz und damit die unilaterale Intervention als unwahrscheinlichsten Fall erscheinen lässt. Zum andern wurde das Problem der militärischen Intervention durch die Ausdifferenzierung der Schutzverantwortung in die »responsibility to prevent«, »to react« und »to rebuild« relativiert (ICISS 2001).

Die Lösung des UN-Weltgipfels von 2005 bestand darin, die Schutzverantwortung (im Wege der erschöpfenden Aufzählung) auf vier Tatbestände zu begrenzen (Schutz vor Völkermord, ethnischen Säuberungen, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit) und die Interventionsproblematik durch drei Spezifizierungen der Schutzverantwortung zu entschärfen: Zum einen liegt die Schutzverantwortung bei jeder Regierung. Zum zweiten hat die internationale Gemeinschaft in erster Linie die Pflicht, die betroffenen Regierungen bei der Wahrnehmung ihrer Verantwortung zu unterstützen. Zum dritten handelt die internationale Gemeinschaft in Gestalt des UN-Sicherheitsrates, wenn die betroffene Regierung ihrer Verantwortung nicht nachkommen kann oder will. Aber auch diese Regelung rief noch Misstrauen bei den potentiell betroffenen Staaten hervor – offenbar zu Recht; denn es bestand immer noch die Möglichkeit, die Beschlüsse von 2005 als eine Bekräftigung der Schutzverantwortung zu lesen, die vermeintlich umso mehr die Zulässigkeit unilateralen Handelns für den Fall bestätigte, dass der Sicherheitsrat sich als nicht handlungsfähig erweise (Bannon 2006).

Aber selbst wenn sich handlungsfähige Staaten in Zukunft strikt an Entscheidungen des Sicherheitsrates hielten, bliebe das Problem, dass der Sicherheitsrat über keine eigenen Eingreifkapazitäten verfügt, es also bei der seit dem zweiten Golfkrieg 1990/91 geübten Praxis der Autorisierung der Einzelstaaten bliebe mit der möglichen Folge, dass sich Maßnahmen der kollektiven Friedenssicherung in Kriege der Einzelstaaten verwandeln. Das hat sich erneut bei der Libyen-Intervention gezeigt. Eine andere, tiefergehende Streitfrage betrifft das Verhältnis von Souveränität und Schutzverantwortung. Wie bereits angedeutet wird von einigen Befürwortern der humanitären Intervention argumentiert, die Souveränität eines Staates läge bei seinem Volk, folglich schütze eine humanitäre Intervention mit dem Volk zugleich die Souveränität (Reisman 2000). Dagegen steht das Argument, dass jeder von außen erfolgte Eingriff in das Verhältnis Staat-Gesellschaft gerade die Volkssouveränität in Frage stellt. Selbstbestimmung, so wird hier argumentiert, geht in Fremdbestimmung über, wenn sie zum Objekt externer Interessen gemacht wird (Cunliffe 2011, Maus 2008).

Folgerungen

Verhindert oder legitimiert das Recht also die Einhegung von Gewalt? In erster Linie bietet das Recht einen Referenzrahmen für den Kampf um die Rechtfertigung von Gewalt. Es dient dabei sowohl als Ressource für deren Legitimation als auch für ihre Kritik. Dabei gilt, dass jede Anwendung von Gewalt rechtfertigungsbedürftig ist – also derjenige, der Gewalt anwendet, unter stärkerem Rechtfertigungsdruck steht als derjenige, der auf Gewalt verzichtet. Diese Ausgestaltung der „Rechtfertigungsverhältnisse“ (Forst 2011) hat sich auf internationaler Ebene als Übergang vom Kriegs- zum Friedensrecht vollzogen, wird durch die Charta der Vereinten Nationen festgeschrieben und durch die internationale Rechtsprechung bestätigt. Insofern wird die Fortschrittserzählung des Völkerrechts durch die Praxis der Gewaltanwendung nicht dementiert und wäre die dem Text vorangestellte Frage dahingehend zu beantworten, dass die politischen Kosten für einzelstaatliche Gewaltanwendung steigen.

Im Kontext der neuen Kriegsdiskurse ist nun aber die Frage aufgekommen, ob nicht eine erneute Transformation des Völkerrechts ansteht: vom Friedensrecht zur Durchsetzung gesellschaftlicher Ansprüche (entitlements). Die »Subjektivierung« von Teilen des Völkerrechts, d.h. die Aufwertung des Individuums und seiner Lebensgemeinschaften als Subjekte des Völkerrechts (Fischer-Lescano/Hanschmann 2010), deutet in diese Richtung. Der UN-Sicherheitsrat baut in diesem Sinne den Schutz von Menschen schon routinemäßig in die von ihm beschlossenen Friedensmissionen ein. Aber er zögert, von der Bedrohung des internationalen Friedens (Art. 39 UN-Charta) zum Schutz von Menschen in Konflikten als Begründung von Zwangsmaßnahmen überzugehen. Dieses Zögern sollte man nicht unbedingt als Schwäche des UN-Systems auslegen, es liegt in der Erfahrung mit der bisherigen Praxis der Gewaltanwendung begründet – aber eben auch darin, dass die Staaten das Völkerrecht nutzen, um eine »heimliche Agenda« fortzuschreiben: nämlich den Schutz ihrer militärischen Handlungsfreiheit (Bothe 2010a, 69).

Zitierte Literatur

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Lothar Brock ist Gastprofessor an der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) in Frankfurt und arbeitet im Programmbereich »Herrschaft und gesellschaftlicher Frieden«.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2012/1 Schafft Recht Frieden?, Seite 7–10