W&F 2005/3

Von der »neuen Wehrmacht« zur Bundeswehr

Der verwickelte Weg der Demokra- tisierung des Militärs in der BRD

von Detlef Bald

Der 12. November 1955 gilt als die Geburtsstunde der Bundeswehr – damals noch als »neue Wehrmacht « bezeichnet. Der erste Verteidigungsminister, Theodor Blank, vereidigte an diesem Tag in Bonn unter »Preußens Eisernen Kreuz« die höchsten Generäle, die Generalleutnante Adolf Heusinger und Hans Speidel, sowie eine Reihe Offiziere und Unteroffiziere. Anwesend die westlichen Militärattachés, ausgeschlossen die Öffentlichkeit inklusive der Vertreter der höchsten Bundesorgane und des Parlaments. Das stand in der Kontinuität des Weg hin zu dieser neuen deutschen Armee. Während 1949 Franz Josef Strauß noch seinen Wahlkampf, mit dem Slogan führte, jedem Deutschen möge der Arm verdorren, der jemals wieder ein Gewehr in die Hand nehme, sah Adenauer damals bereits in der Westintegration den Hebel für eine neue Wehrmacht. 1949 wurden insgeheim die Weichen gestellt, für das was 1956 Form annahm. Die Auseinandersetzungen über die Ausrichtung dieser Armee waren damit aber nicht beendet.

Will man die Geschichte der Bundeswehr in kursorischer Kürze erfassen, hilft zunächst ein Blick auf ihre Vorgänger. Dabei fällt auf, das deutsche Militär bestimmte sich im 19. und 20. Jahrhundert ganz im Zeichen nationaler Souveränität. Dreimal in hundert Jahren hatte es Europa mit expansiven Kriegen überzogen, nach 1868, nach 1914 und 1939. Es hatte als Machtmittel staatlicher Politik seinen einzigartigen Stellenwert mit einem hohen Grad an sozialer und politischer Exklusivität. Schon dem Kaiserreich war es nicht gut bekommen, den Primat des Militärischen konstitutionell abzusichern und die Unabhängigkeit des Regierungssystems des Reiches zu beschränken sowie die (noch zarten) demokratischen Impulse niederzuhalten. Die Niederlage im Ersten Weltkrieg belastete zwar die Fortexistenz der Reichsidee, aber die Umstände des Systemwandels wurden genutzt, nach altem Ideal die Armee als »Staat im Staate« zu rekonstruieren. Nicht zuletzt in der Weimarer Republik erwies sich, wie fatal das antidemokratische und antiliberale Potenzial des Militärs die Wirkungen der Verfassung in der politischen Wirklichkeit verwässerte. Am Ende hebelte auch die Reichswehr die Republik aus und ebnete dem Nationalsozialismus den Weg. Solche, – und weitere Aspekte der deutschen Geschichte wie der Militärpolitik und Kriegführung im Zweiten Weltkrieg – waren verantwortlich dafür, nach der Kapitulation 1945 die Wehrmacht institutionell aufzulösen, um, wie in Potsdam deklamiert wurde, den Militarismus auszulöschen.

Das Gründungsparadigma der Bundeswehr wies ihr grundsätzlich einen neu orientierenden Weg, da die Besatzungsmächte die Macht der Bonner Republik über 1949 hinaus bestimmten und somit der Bonner Armee nicht den Status einer national unabhängigen Armee gewährten. Die historisch geladenen Umstände führten zu der doppelten internationalen Signatur der deutschen Streitkräfte, sie sowohl durch westalliierte Suprematie als auch durch Bündniskontrolle einzubinden und keine souveräne Verfügungsgewalt der Bundesregierung zuzulassen. Daneben und gleichrangig bedeutsam wurde dieses Militär gemäß der normativen Kraft des Grundgesetzes in das demokratische Regierungssystem – mit vielfachen Konsequenzen für Aufbau und Entwicklung der militärischen Institution selbst – integriert und der parlamentarischen Zuständigkeit unterworfen. Die Existenz der Bundeswehr war also grundlegend auf diese beiden Pole hin ausgerichtet, gewissermaßen ihre Räson. Die Gestalt der Bundeswehr ist daher im Vergleich zur älteren Militärgeschichte anders: Unterscheidbar und bestimmbar.

Die Geschichte der Bundeswehr, das zeigt ihre offizielle Gründung im Jahr 1955 nur allzu klar, begann nicht mit einer Gründungsfeier, von der aus sich alles strahlenförmig nach vorne – in die Zukunft – entwickelt hätte. 1955 ist vielmehr ein Datum mit historischem Bezug, der im Wesentlichen drei Perspektiven entfaltete und damit in dreierlei Hinsicht die Gestalt der Bundeswehr auf Dauer erfasste. Wie der anfänglich noch unbestimmte Name der Streitkräfte, »neue Wehrmacht«, schon zeigt, war sie (1.) mit der deutschen Geschichte aufs Engste identifiziert: Mit der Geschichte der militärischen Vorgänger wie der Wehrmacht ganz offensichtlich. Ihre Kapitulation im Jahr 1945 aber gewährte dem (2.) Zugang, nämlich der internationalen Koalition der Siegermächte, die Chance sich durchzusetzen. Sie begleiteten und kanalisierten auf Dauer Ausrichtung und Entwicklung der Bundeswehr. Die (3.) Perspektive schließlich begründete die Demokratisierung des Militärs, das sich den rechtsstaatlichen und politisch-freiheitlichen Normen des Grundgesetzes unterwerfen musste, was u.a. zur Folge hatte, sein inneres Gefüge im Prinzip nach den Regularien des öffentlichen Dienstes zu ordnen. Gleichwohl gab es keine »Stunde Null«. Die zeitweilig entmachteten militärischen Funktionseliten wurden im Einvernehmen mit den Westalliierten und nach dem Willen der Bundesregierung wieder eingesetzt, allerdings unter der Voraussetzung, die gesetzten Bedingungen anzunehmen.

In diesem Sinne ist der Gründungstag der Bundeswehr, dieser auf das Jahr 1945 bezogene 12. November 1955, symbolträchtig ein Tag der Zukunft. Aus ihm entspringt die Hoffnung, die »neue Wehrmacht« als Instrument staatlicher Macht zu einer besseren, zu einer demokratisch geprägten Gestalt des Militärs der Bundesrepublik, zur Bundeswehr, zu entwickeln. Die Bundeswehr stand nicht nur lose in der Kontinuität der deutschen Geschichte, sondern sie ist in einem politisch-normativen Verständnis spannungsvoll mit den Lehren aus der europäischen Geschichte konfrontiert. Das fordert die Bundeswehr heraus. Sie wurde im Zusammenhang der Teilsouveränität der Bonner Republik offiziell im Mai 1955 begründet. Im geheimen Bündnis von Politik und Militär aber gab es die verdeckte Planung seit dem Herbst 1950 schon. Natürlich war manches, was die spätere konkrete Entwicklung tatsächlich bestimmen sollte, noch ungewiss. Denn dieser Dreiklang – Geschichtsbezug, Internationalisierung, Demokratie – durchzieht spannungsgeladen die gesamte Geschichte der Bonner Republik, daher auch der Bundeswehr, sicherlich zu einzelnen Zeitpunkten unterschiedlich wirksam, mal mit jenem Ton bestimmend und harmonisch oder mehr dissonant klingend. Alle diese drei miteinander verwobenen Perspektiven und Positionen, Bezüge oder Bedingungen prägen konstitutiv die Existenz des deutschen Militärs der Bonner und Berliner Republik, also nicht nur im Kalten Krieg, sondern grundsätzlich bis in die Gegenwart.

Um zu zeigen, wie die einzelnen Aspekte mit einander verwoben sind, soll zunächst die Rolle der Politik der Alliierten herausgestellt werden, über die Westintegration die für die übrige Welt bedrohlichen deutschen Machtansprüche und -Potenziale zu zähmen. Allein Umkehr und Erneuerung boten Sinn- und Identitätsstiftung für die zweite deutsche Republik, so auch für ihr Militär. Daran erinnert das Jahr 1945 bis in die Gegenwart, wie es Richard von Weizsäcker zusammenfasste: „Aber wir haben allen Grund, den 8. Mai 1945 als das Ende eines Irrweges deutscher Geschichte zu erkennen, das den Keim der Hoffnung auf eine bessere Zukunft barg.“ Die westlichen Alliierten des Weltkriegs übertrugen Kriegs- und Besatzungsrechte auf die Besiegten, sie gewährten 1955 im Deutschlandvertrag der Bonner Republik „die volle Macht eines souveränen Staates.“ Die Souveränität unterlag der Suprematie, wie sie sich die Alliierten in Jalta und Potsdam für ganz Deutschland vorbehalten hatten. Als wäre es ein kategorischer Imperativ, hielten sie an ihrer obersten Zuständigkeit, die Macht der Deutschen zu pazifizieren, in zeitgemäß abgestuften Kontrollformen fest. Nach 1990 sind dies die neuen völkerrechtlichen und zeitgemäß umgeformten Regelungen der gesicherten internationalen Mitwirkungssysteme der NATO und EU.

Hinter dieser Politik stand zu allen Daten – 1945, 1949, 1955 oder 1990 – das Prinzip: Wirksame Garantien für ein funktionierendes System der Machtkontrolle durch Westintegration! Westintegration war Werteintegration. International und gemäß dem Grundgesetz stand die Abkehr von der Militärgeschichte an: „Der Militarismus ist tot.“ Dieses Wort des Kanzlers Adenauer lässt den Wert der Geschichte, besonders den Bezug zu 1945, erkennen. Die zentrale Stellung des Militärs, seines politisch ambitionierten Offizierkorps, werde es wie in vergangenen Zeiten nie wieder geben. Die Bonner Antwort darauf war die demokratische Einbindung des Militärs – erstmals seit 1806 gelungen. Im Zeichen der Vergewisserung und Reflexion der Geschichte wurde das Militär der parlamentarischen Verantwortung untergeordnet. Der Reformer unter den Soldaten, Wolf Graf von Baudissin, wählte dafür sinnstiftend in Anlehnung an Gerhard von Scharnhorst (sein Geburtstag jährt sich 2005 am 12. November zum 250. Mal) den Begriff »Staatsbürger in Uniform«, der unter dem Synonym »Innere Führung« von der Militärführung schließlich akzeptiert wurde. Die Kodifizierung des Primats der Politik gelang in der Wehrgesetzgebung. Sie ist der Ausdruck der dezidierten Militärreform. Die politische staatsrechtliche Einordnung der Bundeswehr in das republikanische Regierungssystem von Bonn setzte der Geschichte eines militärischen Sonderwegs ein Ende. Ein solche Kontinuität sollte es nicht mehr geben. Man setzte tatsächlich Zeichen, die Wertordnung des Grundgesetzes in hohem Maße auf das Militär zu übertragen und rechtsstaatlich freiheitliche Grundrechte für Soldaten zu gewährleisten. Die Entmythologisierung des alten Militärs mit seinen besonderen Normen war, wie schon Max Weber beobachtet hatte, vor der Geschichte längst in Gang gekommen – die Bundeswehr unterzog sich einer Art nachholender Reform. Sie ist schließlich »normal« in der Bundesrepublik angelangt.

Natürlich lassen sich einzelne Phasen der über 50jährigen militärischen Geschichte der Bonner und Berliner Republik unterscheiden, die einen jeweils charakteristischen Widerhall jenes Dreiklangs (der Demokratisierung, Internationalisierung und des Geschichtsbezugs) einfangen, der allerdings, wenn er in einer Phase angeschlagen wurde, auch in der folgenden Zeit noch weiterklang. Somit bieten alle Phasen und die Schlüsseljahre nur eine relative und keine absolute Gliederung, die nicht starr zu verstehen ist, sondern nur helfen können, das komplexe historische Geschehen ein wenig zu ordnen. Denn Gegensätze und Widersprüche zur Wertebindung der politischen Kultur der Bundesrepublik verliehen dem Militär immer wieder ein »hässliches Gesicht«, öffentlich aufmerksam verfolgt bezüglich manifester Tendenzen eines genuin militärischen Milieus; also die Übernahme vermeintlich »ewiger Werte des Soldatentums« in den fünfziger Jahren bis hin zum Anspruch oberster Generale (Schnez-Studie 1969), die Gesellschaft nach militärischem Maß zu gestalten; die Geltung von Drill und Schinderei gemäß militaristischem Vorbild in den sechziger Jahren (Nagold); die traditionalistische Orientierung am Mythos einer politisch »sauberen« Wehrmacht, wie sich in der jahrelangen Ablehnung der Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 als »Landesverräter« und »Eidbrecher« bis hin zur brisanten Distanz zur Ausstellung »Verbrechen der Wehrmacht« in den neunziger Jahren zeigte; also Strukturen unklarer Identität der militäreigenen Tradition; die Ambivalenz zwischen Reformern und Traditionalisten als ein dauerhaftes Dilemma, das im Selbstverständnis der Soldaten und im Gesamtprofil der Bundeswehr Dellen hinterlassen hat; die Ablehnung der demokratischen und gesellschaftlichen Einflüsse durch Abgrenzung des Militärs – Atombewaffnung oder Friedensbewegung bieten viele Beispiele; die Diffamierung gerade des Reformsymbols – »Innere Führung« – durch die Politik z.B. des Ministers F. J. Strauß mit dem Wort vom „Inneren Gewürge“ oder durch traditionalistische Deklassierung der Generale wie – um nur einige prominente Skandalbelastete von 1955 bis 2004 zu nennen: Heinz Karst, Heinz Trettner, Hellmut Grashey und schließlich Gerd Schulze-Rhonhof oder Reinhard Günzel; die Ausrichtung des Berufsprofils an einseitigen und rechtslastigen Vorbildern, zuletzt im Hochhalten eines Kämpferkults in den neunziger Jahren mit geradezu signifikanten Übersteigerungen in über zwanzig Standorten (Coesfeld) im Jahr 2004. Die Geschichte der Bundeswehr erweist sich zu allen Zeiten als vielfältig und spannungsgeladen.

Um den strukturierenden Dreiklang angemessen einordnen zu können, ist noch auf einen dynamisierenden Faktor hinzuweisen: Militärpolitik war deutsche Macht bewusste Politik. Schon Adenauer verband mit Militär die Hoffnung auf eine optimierbare Revision der staatlichen Handlungs-Potenziale. Bündnispolitik und europäische Integration waren das Resultat. Die »Wiederaufrüstung« leitete den Prozess des »nation building« der Bundesrepublik und formte gewissermaßen die außenpolitische Staatsräson: Gleichsetzung der staatlich-nationalen Existenz mit internationaler militärischer Verflechtung. Nach 1990 erfuhr das alte Muster weitere Impulse, die aber nur – könnte man betonen – die internationale Gestalt des deutschen Militärs modifizierten. Die Verhandlungen um einen Militärbeitrag nach 1949 und nach 1990 offenbaren das Grundmuster des wechselseitigen Nutzens der Politik, jenes »do ut des«, das damals wie heute feststellbar ist. Demokratische Kontinuität und die Internationalität der Bundeswehr durch Bündnistreue und Europäisierung boten auch hier Chancen der Machtteilhabe durch Machttransformation. Kanzler Kohl stellte die Weichen. Die internationalen Einsätze der Bundeswehr bis hin zur kriegerischen Teilnahme an der Kosovo-Besetzung sowie der militärgestützten Außenpolitik im Verfassungsrahmen der EU legen davon Zeugnis ab, wie in der Gegenwart Kanzler Schröder deutsche Machtpolitik definierte.

Das Vertragswerk von 1955 und von 1990 enthält in nuce die Staatsräson Deutschlands, nur als Teil einer europäischen Friedensordnung »frei« sein zu können. Es war, das lässt sich festhalten, auch so immer eine Deklamation der Versöhnung. Dieses Paradigma bleibt für Deutschland und somit für die Bundeswehr erhalten. Das Rad der Geschichte lässt sich nicht mehr zurückdrehen.

Dr. Detlef Bald war Wissenschaftlicher Direktor am Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr, er arbeitet jetzt als freier Autor

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2005/3 Verantwortung der Wissenschaft, Seite