Vorrangig oder ausschließlich?
10 Thesen zum Gewaltverzicht
von Ulrich Hahn
In jüngster Zeit taucht von Seiten friedenspolitischer Organisationen sowie der Kirchen immer häufiger die Forderung nach einem »Vorrang ziviler« oder »gewaltfreier« Wege zur Lösung internationaler Konflikte auf, wie z.B. im Friedensgutachten 2007: Kriterien für die Auslandseinsätze der Bundeswehr; IALANA/International Assoz. of Lawyers against Nuclear Arms: Diskussionspapier vom 05.07.07: Die staatliche friedenspolitische Infrastruktur stärken; Grundsatzpapier der Aktionsgemeinschaft Dienste für den Frieden/AGDF: »Vorrangige Option Gewaltfreiheit«; Kampagne des Bundes für soziale Verteidigung/BSV: »Vorrang für zivil«.
Soweit die jeweiligen Verfasser nicht ohnehin militärische Einsätze für erlaubt halten und lediglich die Gewichtung von nicht militärischen und militärischen Mitteln verschieben wollen, vertreten sie die Forderung nach einem »Vorrang« möglicherweise aus taktischen Gründen, um eher mehrheitsfähig und damit realpolitisch zu erscheinen als mit der Forderung nach völligem Gewaltverzicht. Tatsächlich verfolgen viele mit uns, dem Versöhnungsbund, in Teilbereichen sehr verbundene Organisationen in Bezug auf militärische Einsätze ganz eigene Anliegen: Die IALANA tritt für die Einhaltung und Stärkung des Völkerrechts ein, welches den Krieg eindämmen will, aber militärische Einsätze nicht gänzlich ausschließt, das »Darmstädter Signal« und eine Reihe weiterer kritischer Offiziere lehnen – wie es ähnlich auch viele israelische Soldaten tun – den militärischen Einsatz außerhalb der reinen Landesverteidigung ab und möchten die Zivilcourage der Soldaten zur Verweigerung unrechter Befehle stärken, Teile der Opposition im Bundestag verteidigen das Recht auf parlamentarische Kontrolle aller Auslandseinsätze der Bundeswehr und versuchen militärische Einsätze im Inneren zu verhindern; Friedensforschungsinstitute bemühen sich um eine Politikberatung dahingehend, die Zweckmäßigkeit mancher militärischer Einsätze zu hinterfragen und Kriterien für einen »vernünftigen« Einsatz der Gewalt zu formulieren.
Gegenüber diesen unterschiedlichen Ansätzen und Anliegen für eine Begrenzung und Zähmung militärischer Gewalt vertritt der Versöhnungsbund die Haltung eines unbedingten Gewaltverzichts, der für militärische Waffen und Einsätze keinen Raum mehr lässt, auch nicht als ultima ratio.
Wir wissen, dass uns dieser unbedingte Gewaltverzicht an die Grenze des Machbaren führt, dass er Fragen offen lässt, die nicht allein mit dem Hinweis auf alternative gewaltfreie Methoden beantwortet werden können.
Der unbedingte Gewaltverzicht öffnet uns andererseits einen offen Raum für die Gestaltung des mitmenschlichen Zusammenlebens, über die wir nicht nur distanziert nachdenken, wie über etwas, das man tun oder erreichen sollte, sondern die wir zu leben versuchen, in dem wir uns auf den Weg machen. Gegenüber dem – aus unserer Sicht – halbherzigen »Vorrang« der Gewaltfreiheit geben wir folgendes zu bedenken:
- Wer den Vorrang fordert, bejaht und lässt Raum für den Nachrang. In Bezug auf ein Nacheinander von gewaltfreien und gewaltsamen Mitteln heißt dies, das Töten und Verletzen von Menschen zwar nicht direkt zu wollen, aber doch zumindest billigend in Kauf zu nehmen.
- Dass Menschen anderen Menschen Gewalt antun, ist schlimm genug. Noch schlimmer ist jedoch, solche Gewalttat zu legitimieren, als Recht darzustellen, mit der Folge, dass die Gewalttat guten Gewissens geschehen kann. Von einem zivilen Schläger und Mörder kann ich Reue erwarten, von einem Soldaten der »rechtmäßig« handelte, nicht.
- Die Rechtfertigung von militärischen Mitteln, auch nur zu nachrangigem Einsatz, schließt die Produktion und laufende Weiterentwicklung von Waffen ein, ebenso ihre Weitergabe, den Waffenexport. Um wirksam zu sein, muss das Militär der »guten Seite« immer besser gerüstet sein als das Militär potentieller »Schurkenstaaten«. Die im Entwurf der EU-Verfassung vorgesehene Verpflichtung zur ständigen Weiterrüstung drückt rechtlich nur aus, was schon der eigenen Logik der »ultima ratio« zugrunde liegt.
- Der »Vorrang« gewaltfreier Methoden zur Konfliktlösung bleibt damit der herkömmlichen Rüstungspolitik verhaftet. Auch schon bisher setzten die Staaten militärische Mittel erst ein, »wenn es nötig war«. Der Ruf nach einem »Vorrang« bedeutet deshalb allenfalls eine quantitative Verlagerung von Einsatzmethoden, begründet aber keine neue Qualität in den internationalen Beziehungen.
Es gibt keine objektiven Kriterien dafür, wann und unter welchen Bedingungen das nachrangige Mittel zum Einsatz kommen soll. Es bleibt – wie bisher auch – eine politische Entscheidung derjenigen, die über das »nachrangige« Mittel, das Militär, verfügen. Im Frühjahr 1999 hatten im Kosovokonflikt die wohl bewusst nur unzureichend ausgestatteten OSZE-Beobachter nicht von sich aus festgestellt, dass ihre Mission gescheitert sei; sie wurden von der NATO aufgefordert, das Feld zu räumen, um Platz für den militärischen Einsatz zu machen.
Da das Militär sich schon immer nur als nachrangige »Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln« (Clausewitz) verstand, kann es mit der Forderung nach einem Vorrang gewaltfreier Mittel gut leben. Auch als »nachrangiges« Mittel entfaltet es eine dominante Eigendynamik, nicht nur bezüglich der Beschaffungskosten – gerade die geforderten »humanitären Einsätze« in aller Welt benötigen moderne Nachrichtensysteme, Transportkapazitäten, eine hohe Beweglichkeit der Infanterie, »intelligente Munition«, letztlich auch ein weltweites Netz von Stützpunkten für den schnellen Einsatz –, sondern auch im Denken: Wegen der schon vorausgesetzten überlegenen Waffen verspricht das Militär schnelle Lösungen, eine Abkürzung ungerechter Zustände, des Leidens von bedrohten Menschen, eine Beseitigung von Gefahren von Seiten böser Mächte. Schon das Vorhandensein des Militärs bindet die Fantasie für eine Konfliktlösung: Wer eine wirksame Waffe besitzt, denkt im Konflikt von Anfang an schon an den Einsatz dieser Waffe, auch wenn er sie nicht sofort zieht.
Das vorhandene und zum Einsatz bereite nachrangige Mittel prägt damit auch unvermeidlich schon die »vorrangige« Phase gewaltfreier Konfliktlösung. Wer überlegene Machtmittel besitzt, mag vielleicht selbst von sich den Eindruck haben, er sei zu einem ernsthaften Dialog mit der anderen Seite bereit. Die an solchen »nachrangigen« Machtmitteln unterlegene Seite weiß aber genau, dass ihr letztlich nur die Unterwerfung bleibt – »und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt«. Im Zusammenhang mit dem Reservemittel der Gewalt bleibt damit auch die zivile Konfliktlösung ein Instrument der Dominanz und somit ein Etikettenschwindel.
Die seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes 1990 immer mehr in den Vordergrund gerückte humanitäre Rechtfertigung für den Fortbestand des Militärs und seinen Einsatz als »ultima ratio« zur Schaffung von Frieden und Gerechtigkeit in der Welt hilft, dessen wahre Begründung auch vor uns selbst zu verschleiern: Um die bestehende ungerechte Verteilung der lebensnotwendigen Güter dieser Erde aufrecht zu erhalten, bedarf es militärischer und durch das Militär unterstützte wirtschaftlicher Macht. Um den unzähligen Opfern dieses wirtschaftlichen Unrechts Recht zu schaffen, bedürfte es aber weder militärischer noch nicht militärischer Interventionen, sondern einer Verhaltensänderung in den reichen (und nicht zufällig auch militärisch mächtigen) Staaten.
Das Militär ist einerseits Stütze dieses Systems der ungleichen Verteilung der Welt in Arm und Reich; zum anderen ist es wegen seiner riesigen Kosten auch selbst ein wesentlicher Teil des Problems weltweiter Ungerechtigkeit, zu deren punktueller Lösung es sich anbietet.
Der Glaube daran, dass wir dieses Militär in der Hinterhand brauchen, um anderswo Frieden, Ordnung und Gerechtigkeit zu schaffen, mit anderen Worten: die Splitter aus den Augen leidender Bevölkerungsgruppen zu ziehen, versperrt uns den Blick auf den Balken des Unrechts im eigenen Auge.
Der von den Medien gesteuerte Blick auf die tatsächlich vorhandenen Spitzen der Eisberge in Form von augenscheinlicher direkter Gewalt (Srebeniza, Darfur, Somalia, Ruanda) gibt uns das gute Gefühl, mit unserem Militär für die bedrängten Menschen schnell und wirksam etwas machen zu können, und hilft die Einsicht zu verdrängen, dass es die von uns gemachten Eisberge sind, deren Spitzen wir bekämpfen. Nur der unbedingte Gewaltverzicht, auch die eindeutige Distanzierung von den Gewaltmitteln des eigenen Staates und ihre Verurteilung durch uns verschafft uns einen unverstellten, freien Blick auf unser Verhältnis zur anderen Seite, auf Unrecht und Ungerechtigkeit, unsere eigenen Anteile hieran, unsere Möglichkeiten, zur Veränderung beizutragen, aber auch die Grenzen unserer Möglichkeiten.
Nur durch diese Distanzierung können wir auch der Gefahr entgehen, in unserem gewaltfreien Bemühen um Konfliktlösungen nur als eine Vorhut des schon auf seinen Einsatz wartenden Militärs angesehen zu werden. Im Verzicht auf die Gewalt können wir nicht alles tun und tragen deshalb auch nicht für alles Verantwortung. Je mehr wir uns von den ungerechten Mitteln der Machterhaltung trennen, desto weniger sind wir verantwortlich für die vollzogenen oder unterlassenen Möglichkeiten, die diesen Machtmitteln inne wohnen.
Es ist indes immer wieder zu beobachten, dass es den Befürwortern militärischer Einsätze sehr wichtig ist, hierfür auch von ihren Gegnern den Segen zu erhalten und ihnen andernfalls die Verantwortung für das Leiden derer zuzuschieben, denen durch militärische Mittel geholfen werden könnte. Es gilt hier das Argumentationsschema des fürsorglichen Dritten: »Würde ich meine dominante wirtschaftliche Rolle aufgeben, die es mir erlaubt, eine ausreichendes Waffenarsenal vorzuhalten, könnte ich ja den überlebenden Opfern meines Reichtums nicht mehr behilflich sein.«
Um die Gewalt zu überwinden, reicht es aus den genannten Gründen nicht aus, sie nur vermindern oder zähmen zu wollen. Es geht nicht um ein Mehr oder Weniger, um ein Vorher oder Nachher, sondern um ein Entweder-Oder, um ein gewaltfreies Leben und Handeln statt militärischer und anderer gewaltsamer Methoden in den zwischen-menschlichen und internationalen Beziehungen. Das schließt nicht aus, dass die Entwicklung zum richtigen Ziel schrittweise verläuft. Entscheidend ist aber, dass ich den jeweils verbleibenden Rest nicht legitimiere, sondern nicht aufhöre, ihn als Unrecht zu bezeichnen. Auch dem gewalttätigen Ehemann und Vater würde ich nicht raten, »vorrangig« gewaltfreie Mittel in seinen Beziehungen zu Frau und Kindern einzusetzen, sondern ihm sagen, dass alles andere schweres Unrecht ist.
Und wenn er auf dem Weg der Besserung mitteilen würde, er vergewaltige seine Frau jetzt nur noch einmal monatlich und schlage auch die Kinder nur noch, wenn es nicht anders gehe, könnte ich ihm dafür kein gutes Gewissen machen und müsste darauf bestehen, dass auch der verbliebene Rest seiner Gewalttätigkeit Unrecht bleibt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass auch Gewalt oder militärische Einsätze im Einzelfall Menschen retten oder sonst Gutes bewirken können, so wie auch sonst schlechte Mittel gute Zwecke befördern können. Jedes Mittel hat jedoch seinen Preis.
Bei Folter und Todesstrafe gibt oder gab es zumindest einmal eine breite Übereinstimmung, dass solche Mittel generell zu ächten sind, auch wenn es Fälle geben sollte, in denen sich ein Einsatz für gute Ziele denken ließe (»Rettungsfolter«). Der menschliche Preis für diese Mittel ist für eine Gesellschaft auch dann untragbar. Bei der militärischen Gewalt sind wir noch auf dem Weg zu einer entsprechenden Mehrheitsmeinung. Aber auch hier geht es darum, nicht nur zu fordern, dass humaner und nachrangig gefoltert und getötet werden soll, sondern gar nicht, auch und trotz der nie auszuschließenden Fälle, dass die militärische Gewalt das einzige Mittel sein könnte, einen oder gar viele Menschen zu retten.
Weil die Mittel direkter Gewalt Ausdrucksform und auch Voraussetzung der uns umgebenden und unsere Beziehungen innerhalb der Gesellschaft und international prägenden strukturellen Gewalt sind, geht es nicht nur um eine »alternative« Ersetzung gewaltsamer Mittel durch gewaltfreie Methoden. Gewaltfreies Leben und Handeln bedingt einen völlig anderen Handlungsrahmen als das Leben mit Gewalt- und Zwangsmitteln in der Hinterhand. Der Gegensatz zur Gewalt ist nicht einfach dessen Negation, die Gewaltfreiheit, sondern eine umfassende Gerechtigkeit, die auf Partizipation, d.h. der Beteiligung aller Betroffenen beruht und gerade auch deshalb den Gewaltverzicht in den Beziehungen untereinander voraussetzt.
Ullrich Hahn ist Vorsitzender des Deutschen Zweiges des Internationalen Versöhnungsbundes