W&F 2019/1

Vorwärts, aber wohin?

von Jürgen Nieth

Deutschland und Frankreich haben genau 56 Jahre nach Unterzeichnung des Élysée-Vertrags am 22. Januar in Aachen einen Freundschaftsvertrag unterzeichnet. „Das Abkommen sei eine Antwort auf Populismus und Nationalismus, sagte die Bundeskanzlerin; der französische Präsident sprach pathetisch von einem »Schutzschild unserer Völker gegen die neuen Stürme in der Welt«.“ „Geht es nicht eine Nummer kleiner?“, fragt Nikolas Busse in der FAZ (23.1.19, S. 1). Auch das ND (23.1.19, S. 19) titelt: „Viel Pathos gegen Populismus“. Die Schweizer NZZ (23.1.19, S. 3) setzt als Headline „Ein Zeichen gegen den Zeitgeist“. Sie sieht den Vertrag als Gegenmodell zu »Mein Land First« und „gewissermaßen als Gegen-Brexit inszeniert“.

Andere reagieren fast euphorisch. Für Nils Minkmar ist „der Vertrag von Aachen ein Wunder, […] ein Frühlingsversprechen, eine erfrischende Geste politischen Übermuts“ (Spiegel 26.1.19, S. 111). Daniel Brössler schreibt in der Süddeutschen Zeitung (23.1.19, S. 4): „Sie haben sich zur Verantwortung Frankreichs und Deutschlands bekannt für ein Europa, das bedroht von außen wie von innen in existenzieller Gefahr schwebt.“ Und für Rudolf Balmer (taz 23.1.19, S. 12) ist der Vertrag „im Kontext der gegenwärtigen EU im wörtlichen Sinne richtungsweisend – und darum trotz kleiner Fortschritte geradezu mutig“.

Auszüge aus dem Vertragstext

Artikel 3
„Beide Staaten vertiefen ihre Zusammenarbeit in
Angelegenheiten der Außenpolitik, der Verteidigung, der äußeren und inneren Sicherheit und der Entwicklung und wirken zugleich auf die Stärkung der Fähigkeit Europas hin, eigenständig zu handeln […]“

Artikel 4
(3) Beide
Staaten […] intensivieren die Erarbeitung gemeinsamer Verteidigungsprogramme und deren Ausweitung auf Partner. Hierdurch beabsichtigen sie, die Wettbewerbsfähigkeit und Konsolidierung der europäischen verteidigungstechnologischen und -industriellen Basis zu fördern. Sie unterstützen die engstmögliche Zusammenarbeit zwischen ihren Verteidigungsindustrien… Beide Staaten werden bei gemeinsamen Projekten einen gemeinsamen Ansatz für Rüstungsexporte entwickeln.“

Zweifel an der Realisierbarkeit

Für Sascha Lehnartz (Welt 22.1.19, S. 8) sind die oben zitierten Zielvorstellungen nur „schwer unter einen Hut zu bringen […] Frankreich ist eine Atommacht mit einem Präsidenten als Oberbefehlshaber, der sein Parlament im Nachhinein über seine Entscheidung informieren kann. Als ehemalige Kolonialmacht hat Frankreich nach wie vor wenig Hemmungen nationale Interessen […] bei Bedarf militärisch zu schützen […] Deutschland hat eine Parlamentsarmee […] und militärische Einsätze müssen zuallererst moralisch legitimiert werden. Der Primat der Moral gilt erst recht für Rüstungsexporte.“

Auch für die Berliner Zeitung (23.1.19, S. 4) liegen „Wunsch und Wirklichkeitin dem Aachener Vertrag „noch weit auseinander“.

Bei Nikolas Busse (FAZ 23.1.19, S. 1) liest sich das so: „Die tief ins Grundsätzliche reichende Uneinigkeit in Fragen der Verteidigung und der Rüstung, die in dem Abkommen nur mühsam überkleistert wurde, bleibt eines der großen Hindernisse für eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik.“ Wohin die Reise gehen soll, wird im Abschlusssatz seines Kommentars deutlich: „Hier hat vor allem die deutsche Politik die Zeichen der Zeit immer noch nicht erkannt.“ Soll wohl heißen: mehr Bereitschaft zu Militäreinsätzen, weniger Schranken für Rüstungsexporte.

Mehr Interventionen und Rüstungsexporte?

Die Reden von Macron und Merkel in Aachen lassen hier aufhorchen.

„Künftig sollen die Streitkräfte beider Länder ihre Rüstungsgüter aus europäischer oder deutsch-französischer Produktion beziehen. Macron sagt zur Begründung, auf diese Weise könnten die Amerikaner nicht sagen, dass ihre Waffen bei einem bestimmten Militäreinsatz nicht verwendet werden dürften.“ Angela Merkel „stimmt zu, es sei Unfug, wenn die Europäer selbst »um die Welt rennen« um zwei verschiedene Kampfflugzeuge […] zu verkaufen“. Und weiter: Beim Waffenexport dürfen wir uns nicht über den Export jeder Schraube in die Haare geraten“ (Johannes Leithäuser und Michaela Wiegel in FAZ 23.1.19, S. 2).

Hans-Georg Ehrhart, Senior Fellow am Hamburger Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik/IFSH, schreibt dazu in einem Gastkommentar für den Freitag (24.1.19, S. 9): „Paris darf hoffen, dass Berlin künftig der interventionsfreudigeren französischen Politik folgt […] [Es] besteht die Gefahr, dass nun konservative Abgeordnete ihren Versuch wiederholen, den Parlamentsvorbehalt aufzuweichen.“

Vorwärts, aber wohin?

„Nach dem Austritt Großbritanniens wächst das Gewicht dieses Duos [FR und D] in einem Maße, das andere EU-Staaten nicht gleichgültig lassen wird […] [und] für die Entwicklung der EU so gefährlich werden [kann], wie es das Desinteresse der beiden größten Länder des Bündnisses wäre“, schreibt Gerd Appenzeller im Tagesspiegel (22.1.19, S. 1).

Kritik auch von René Heilig (ND 23.1.19, S. 1): Wer die Union retten will, kann das nicht im Duo tun. Und schon gar nicht mit einem Vertrag, in dem gemeinsame akzeptable Sozialstandards für jene, die den relativen Wohlstand in den Vertragsnationen schaffen, nicht einmal als Vision vorkommen. Dass man dafür aber viel über Militärkooperation, Rüstungsexport und Migrationsabwehr findet, macht den gemeinsamen Weg in die Zukunft wahrlich höchst suspekt.“

Die Berliner Zeitung (23.1.19, S. 4) zitiert dazu Sevim Dagdelen (MdB Die Linke): „Statt Europa als Kontinent des Friedens zu einen, vertiefen Kanzlerin Merkel und Präsident Macron mit dem binationalen Deal zur weiteren Militarisierung die Spaltung der EU.“

Ein Fragezeichen setzt Hans Georg Ehrhart vom IFSH: „Beide wollen ein Zeichen setzten für mehr Europa. Die entscheidende Frage ist aber: Soll diese sicherheitspolitisch autonome EU als Großmacht im klassischen Sinne handeln oder als Friedensmacht, die auf friedlichen Wandel und die Stärke des Rechts setzt?“ (Freitag, s. o.)

Zitierte Presseorgane: BZ – Berliner Zeitung, FAZ – Frankfurter Allgemeine, Freitag, ND – Neues Deutschland, NZZ – Neue Zürcher Zeitung, Spiegel, SZ – Süddeutsche Zeitung, Tagesspiegel, taz – die tageszeitung, Welt.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2019/1 70 Jahre NATO, Seite 4